Georges Mathieu / Tachismus: 'la geste'

Liebe Kunschtbeflissenen,

hier ist ein Begriff aus einem französischen Ausstellungskatalog zu Georges Mathieu, der so speziell ist, dass man ihn nicht so gut vom Fremdsprachenthema her angehen kann.

Es geht um die wesentliche Bedeutung von „la geste“ in Georges Mathieus Konzept der „lyrischen Abstraktion“.

Wenn man den Begriff deutsch mit „Geste“ wiedergibt, ist das zu schwach, um die wilden, scheinbar entfesselten, dabei höchst konzentrierten Tänze von Mathieu vor der Leinwand zu beschreiben.

Im Kontext „les luttes où la geste reste vainqueur“ (= die Kämpfe, in denen ***la geste*** Sieger bleibt): Könnte man da schlicht von „Bewegung“ oder sprechen? Das kommt mir zu allgemein vor.

Wer hat sich mit Mathieu, Pollock und Konsorten so weit beschäftigt, dass er hier einen gültigen Vorschlag zur Wiedergabe des Begriffes machen kann?

Für Unterstützung dankt

MM

Georges Mathieu: L’Abstraction lyrique

Lieber Martin

Also, ‚la geste‘ bedeutet 1. ‚der Heldengesang‘ und 2. ‚das
Benehmen‘. Im Zusammenhang mit Mathieu meinst du offenbar den Begriff
‚le geste‘: ‚mouvement du corps (principalement des bras, des mains,
de la tête)‘.

Im Text zur diesjährigen Ausstellung Mathieus in Versailles habe ich
nur die folgende Stelle gefunden:

„… L’exécution des tableaux de Mathieu constituait en fait une
œuvre en soi, une danse mystique et énergique, peut-être même
supérieure à sa finalité. Elle a d’ailleurs souvent fait l’objet de
retransmissions télévisées, au terme desquelles les toiles étaient
parfois détruites, purement et simplement. La dimension de risque,
d’échec et de renouvellement permanent du geste sont au cœur de son
discours. Mathieu est avant tout le peintre de l’instinct et peint
ses toiles sans préméditation, en quelques minutes ou quelques
heures. …“
http://www.axelibre.org/arts_plastiques/mathieu_a_ve…

„Die Dimension(en) des Risikos, des Scheiterns und und der
permanenten Erneuerung der Bewegung (du geste) bilden das Herz (den
Kern) seiner Rede. …“

Georges Mathieu, geboren 1921, ist der Begründer eines Kunststils,
den er als ‚Abstraction lyrique‘ bezeichnet:

„… Un vent soufflait sur la capitale et, le sentant arriver, ce
singulier personnage qu’est Georges Mathieu décida d’organiser deux
expositions : „L’imaginaire“ au palais du Luxembourg en 1947 puis «
HWPSMTB » (Hans Hartung, Wols, Francis Picabia, François Stahly,
Mathieu, Michel Tapié, Camille Bryen) en 1948. Il avait pour but
d’imposer son terme d’abstraction lyrique qui devait d’ailleurs
figurer en lieu et place de l’Imaginaire. Avec ces évênements, il
déclara triomphalement „l’abstraction lyrique était née“. …“
http://fr.wikipedia.org/wiki/Abstraction_lyrique

Mit freundlichem Gruss

Rolf

Servus Rolf,

ja, mit dem Artikel hab ich geschlampt. Es gibt ein paar „faux amis“, die ich mein Leben lang nicht loswerden werde. Klar geht es um „le geste“. Da der Begriff „Geste“ im Deutschen üblicherweise eigeengt wie „Gebärde“ verstanden wird, ist die Möglichkeit, das Wort wie in dem von Dir zitierten Text mit „Bewegung“ wiederzugeben, wohl die relativ beste: Damit nämlich der intensive körperliche Aspekt klar wird.

Schönen Dank - schöne Grüße

MM

Hallo Martin May,

wenn es Dir um eine emotional nachvollziehbare Definition
von „bewegter“ Kunst geht, kann ich Dich beunruhigen -

„abstraction lyrique“ (Mathieu 1947) oder
„art autre“ (Tapié 1952)
sind sicher blutleere Begriffe,
die das Wesen der gestischen Schöpfung nicht hinreichend beschreiben;

„hard-edge painting“ (Langsner 1958) oder
„action painting“ (Rosenberg 1950) lassen immerhin erahnen,
wie der Schaffensprozess verläuft;

„Gestische Abstraktion“ (Henri 2000) ist ein Begriff, den ich gerne verwende,
gerade im Zsh. mit „Jungen Wilden“, die ihr Anatomie-Wissen und -Können nicht verbergen :wink:
Siehe Harald Wolff (Berlin/Paris).
Wird zaghaft auch auf Kandinsky angewandt, später auf das „Informel“,
und öfters als „lyrisch-gestische Abstraktion“ m.E. verwässert …

mfg:stuck_out_tongue:it

Servus Pit,

schönen Dank für Präzisierung und Einordnung der Begriffe.

Die Texte, um die es geht, steht im Zusammenhang mit den aktuellen Georges Mathieu-Retrospektiven in Versailles und St. Louis. (in St. Louis sind ab 8. Dezember eine große Zahl der Riesenbilder von Mathieu zusammen zu sehen, u.a. auch „Les Capetiens partout“ aus dem Centre Pompidou, dazu einige bedeutenden der „Schlachten“-Folge). In einem der Texte kommt Mathieu selber zu Wort - er hat den Begriff der „lyrischen Abstraktion“ selber geschaffen, es geht im dabei um eine Abkehr von der formalistischen Abstraktion, die er in einer Sackgasse sah.

Grad bei Mathieu sieht man sicherlich die Problematik der „-ismen“: Seine theoretisch-konzeptionellen Äußerungen, insbesondere betreffend Geschwindigkeit und Intuition beim Malen, haben grausige Folgen in Gestalt wüllstlerischer Aktivitäten von allen möglichen Leuten nach sich gezogen: Letztlich ist die Dichte und die Poesie seiner Bilder eben von ihm, von seiner Person, und nicht von einem Programm bestimmt, seine Materialexplosionen sind von einer enormen Präzision, und von heute aus gesehen findet man darin - meine ich - viel leichter als zeitgenössisch, wo da die Lyrik zur lyrischen Abstraktion ist. Ebenfalls von heute aus gesehen würde ich lieber von „poetischer Abstraktion“ sprechen, weil eben mit Poesie auch die handwerkliche Präzision des Dichters benannt ist.

Beim Übersetzen haben wir uns zuletzt dafür entschieden, „le geste“ mit „expressive Bewegung“ wiederzugeben. Der Begriff „expressiv“ ist sicher nicht das Gelbe, aber er scheint mir die Gewalt, die Energie der Gesten einigermaßen wiederzugeben. Grade weil man beim deutschen Wort „Geste“ an Handbewegungen - also eigentlich Gebärden - denkt, und nicht an einen, der unter Einsatz seines ganzen Körpers einen wilden Kampf mit der Leinwand vollführt, und das dazu noch prestissimo.

Schöne Grüße

MM

wo ist das?
Lieber Martin

(in St. Louis sind ab 8. Dezember eine
große Zahl der
Riesenbilder von Mathieu zusammen zu sehen

St Louis bei Basel?
Da würde ich dann hingehen wollen!
In der «Coupole»?

Merci
Rolf

Servus Rolf,

St Louis bei Basel?

Ja, dieses.

In der «Coupole»?

In der alten Destille, Espace Fernet Branca. Wegen des Termins bin ich nicht ganz sicher; aber ich meine, der 8.12. wäre richtig.

Schöne Grüße

MM

Hallo Martin.

danke für den ausführlichen Einblick in Eure Übersetzerarbeit,
die wohl von kreativen Kapriolen geschmückt ist:

haben grausige Folgen in Gestalt wüllstlerischer
Aktivitäten von allen möglichen Leuten

„Wüllsterisch“ ist wohl Wollen im Ggs. zu Können?
Ich kannte den Ausdruck noch nicht, werde ihn aber alsbald anwenden
(als wünstlerisch), ich liebe Verrisse :wink:
Bekannt war mir bislang der uralte Kalauer:
Kunst kommt von Können, würde Kunst von Wollen kommen,
hieße es ja Wunst.

Schönes RestWE:stuck_out_tongue:it
[öfters.mal.Wünstler]

Servus,

in dem abgelieferten Text steht nicht „wüllstlerisch“, das würde auf heftiges Stirnrunzeln und Mängelrüge stoßen: Das hab ich bloß grade benutzt, weil es so schön gepasst hat; im Text ist bloß kurz auf Wiener Aktionskünstler und Konsorten eingegangen, die Fortsetzung dieser theoretischen Linie ins Unsinnige kommt von mir, ein seriöser Kritiker täte das natürlich nie tun.

Abgeleitet ist „wüllstlerisch“ aus dem „können-wollen“ Spruch, den ich mit „Wullst“ anstelle „Wunst“ kenne. Aber geben tut es dieses Wort sicherlich nicht.

Schöne Grüße

MM