Gerechtigkeit definieren

Hallo!

Wie würdet Ihr in der heutigen Zeit „Gerechtigkeit“ definieren?

Es geht mir dabei nicht um einen bestimmten Bereich, wie z. B. „soziale Gerechtigkeit“ o. ä., sondern um Gerechtigkeit ganz allgemein.

Bietet die Philosophie Ansatzpunkte oder gar Lösungen?

Ich weiß, dass es nicht einfach ist, etwas doch eher Subjektives auf einen allgemeingültigen Nenner zu bringen, aber ich würde mich über Ansätze oder Anregungen freuen.

Dank & Gruß
Birgit

Hallo Birgit!

Da es in der Diskussion über die Definition von Gerechtigkeit oft zu Missverständnissen kommt, habe ich einige (vereinfachte)Argumentationen von Philosophen und Soziologen der Gegenwart zusammengetragen.

Die Fragen nach der Gerechtigkeit, Freiheit und Gemeinschaft, bilden in der Politischen- und Sozialphilosophie, seit dem erscheinen von John Rawls Klassiker Theorie der Gerechtigkeit von 1971, die primären Themen.

Ausgangspunkt ist u.a. die Tatsache dass es keine absolute Gerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft geben kann, da Gerechtigkeit naturgesetzmäßig Ungerechtigkeit beinhaltet. Diese unvermeidbare Ungerechtigkeit besteht darin, dass man sich je für eine Möglichkeit entscheiden muss und dabei andere unrealisierbar bleiben, obwohl sie völlig gleichberechtigt sind, weil wegen des Fehlens von Metaregeln eine Legitimation des einen oder des anderen Tuns unmöglich ist. ( Lyotard, J.F. : Der Widerstreit. München 1987).

Niklas Luhmanns sieht in seiner Systemtheorie die Gerechtigkeit, im Pluralismus der Gesellschaft, mit all seinen Entgegengesetzten Interessensgemeinschaften, nicht umsetzbar. (Siehe u. a. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, 1984 sowie: Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981). In der Konsequenz daraus kann nur versucht werden, den Grad sozialer und gesellschaftlicher Gerechtigkeit, unter Berücksichtigung von geltenden Normen und Prinzipien, zu erhöhen.

John Rawls grundsätzliche Definition von Gerechtigkeit bezieht sich auf die Gleichverteilung von Sozialen Gütern wie Freiheit und Chancen, Einkommen und Vermögen und die Grundlagen der Selbstachtung. Eine Ausnahme gestattet Rawls nur, wenn bei der Ungleichverteilung irgendeines oder aller dieser Güter den ohnehin schon Benachteiligten zu Gute kommt. (John Rawls: A Theory of Justice, 1971. In der deutschen Ausgabe von 1975 wurde diese Passage gestrichen).

John Rawls hat in seiner Theorie der Gerechtigkeit den Sozialstaat, als das gerechteste System (wie es z.B. in Deutschland praktiziert wird) legitimiert. Spezifisch ist hierfür (wenn auch hier stark vereinfacht dargestellt) John Rawls Gedankenexperiment welches als Schleier des Nichtwissens berühmt wurde.

Rawls stellt sich Menschen vor, die zwar über Kenntnisse der verschiedenen Gesellschafts- bzw. Staatssysteme (z.B. Kapitalismus, Sozialismus, Faschismus oder der Sozialstaat) verfügen, aber über ihren persönlichen sozialen-kulturellen Status vollkommen im Unklaren sind. Nun sollen diese Menschen wählen in welches Gesellschaftssystem sie leben wollen. Die Vernunft, so Rawls, gebietet ihnen sich für den Sozialstaat zu entscheiden, denn nur hier sind sie, egal ob als Millionär oder Bettler, Intelligent oder Dumm, Talentiert oder Untalentiert, am besten aufgehoben und abgesichert.
Auch die Institutionellausgeübte Gerechtigkeit, die ich als Bildungssystem, Förderung oder Verwirklichung von persönlicher Kreativität und die Justiz definiere, wird in der liberalen Demokratie am effizientesten verwirklicht, wenn auch im Detail noch verbesserungsbedürftig.

Die liberale Demokratie mit seiner sozialen Marktwirtschaft bietet den Individuen somit die Option ein gutes Leben zuführen und sichert gleichzeitig die verschiedenen Individualitäten durch ihre Gesetze und Institutionen.

Bereits 1651 forderte dies der englische Philosoph Thomas Hobbes in seinem Hauptwerk Leviathan. Hobbes charakterisiert den Menschen pragmatisch. Von ihrer Natur her streben die Mensche nach dem Nützlichen welches die Erhaltung ihres irdischen Lebens und die Verwirklichung eines guten Lebens ist. Damit positioniert der Monarchist Hobbes, die Eckpfeiler des Liberalismus und vor allen des Utilitarismus, in die politische Philosophie.

Hobbes Gerechtigkeitsinterpretation beruht vorwiegend auf die Möglichkeiten sich Vorteile zu verschaffen, welches John Rawls als Unfair ablehnt. Im Gegensatz zur moralischen (!) Gleichheit der Menschen, ohne die eine Rechtsstaatliche Gesellschaft nicht funktionieren kann, unterliegt im Utilitarismus die Gerechtigkeit selbst nicht der moralischen Leitidee (siehe u. a. bei J. Bentham, J. S. Mill, und J. Austin).

Der amerikanischen Philosoph Michael Walzer verknüpft mit Gerechtigkeit nicht die Gleichverteilung von Gütern (weil er eine Gesellschaft in der alle über die selben Güter und Rechte verfügen als illusionär ansieht) sonder mit dem Missbrauch von Macht von Materiellbegründeten Privilegierten. Wenn zum Beispiel über finanziellen Reichtum auch politischen Einfluss gewonnen wird. Walzer Gerechtigkeitsbegriff ist untrennbar mit „der Dominanz des Kapitals außerhalb des Marktes“ verbunden (Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, 1992).

Die allgemeine subjektive Definition von Gerechtigkeit wirkt in das Charaktermerkmal von Menschen ein und zählt in der Tradition – neben Klugheit, Besonnenheit und Tapferkeit – zu den vier Kardinalstugenden.

Ich habe in meinem kurzen Abriss über die Gerechtigkeit die religiösen Aspekte absichtlich weggelassen. Ich hoffe trotzdem das meine Antwort dir weiter hilft.

Mfg

michael

Gerechtigkeit (Buchauszug)
Hallo Leute

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich den folgenden Text hier
veroeffentlichen soll, entscheide mich aber doch dafuer. Ich finde
ihn als Antwort auf Birgits Frage nur mittelmaessig geeignet, waere
aber trotzdem froh, Meinungen zu ihm zu lesen. Er ist ein Auszug
meines Buches (Die Sulma), in das ich heute nicht mehr so verliebt
bin wie frueher, d.h. ich kann seinen Inhalt mit Distanz diskutieren.
Als Hintergrund zu dem Text ist wichtig zu wissen, dass einige Leute
(hier nur Rudolf und Gorgias) in Gedanken einen Staat entwerfen und
sich ueberlegen, wie das anzustellen sei.

  1. Kapitel
    Die Gerechtigkeit

„Gorgias, dies alles klingt gut, doch was wäre es ohne
Gerechtigkeit?“ „Nichts wäre es dann, Rudolf.“ „Was aber ist
Gerechtigkeit?“ „Oh, welch schwere Frage. Wenn ich sie nur
beantworten könnte. Aber lass es uns dennoch versuchen. Denke dir
zehn gleich hungrige Menschen, die zehn Scheiben Brot vor sich haben.
Was ist dann gerecht: soll jeder eine Scheibe bekommen oder einer
zwei und ein anderer dafür keine?“ „Jeder soll eine Scheibe
bekommen.“ „Was aber, wenn der Hunger verschieden ist? Nimm an, einer
habe den ganzen Tag sehr schwer gearbeitet und sei schon ganz schwach
vor Hunger, während ein anderer faul gewesen sei, zwar Appetit habe,
doch nicht bedroht sei vom Hunger.“ „Dann muss der mit dem großen
Hunger mehr bekommen als der mit dem kleinen.“
„Das denke ich auch. Wir können aus diesem Beispiel ableiten, wie
Mittel gerecht verteilt werden. Steht ein Mittel in unbegrenzter
Menge zur Verfügung, dann kann sich jeder so viel nehmen wie er will.
Ist das Mittel jedoch begrenzt, dann bekommt jeder so viel, wie
seiner Bedürftigkeit entspricht. Diese zu bestimmen, ist eine
medizinisch-psychologische Frage, aber keine der Gerechtigkeit,
weswegen sie uns hier nicht beschäftigen soll. Folgst du mir bis
hier?“ „Ja.“ „Dann nenne mir auch noch die Antwort hierauf: Was, wenn
das Brot jemandem gehört? Ist es dann seine Entscheidung, wie er es
verteilt, falls er es verteilt, oder soll die Gruppe der hungrigen
Menschen es ihm wegnehmen dürfen, um es sich zu teilen?“ „Wenn er das
Brot erwarb, ohne jemandem aus der Gruppe dabei zu schaden, dann hat
niemand aus der Gruppe einen Anspruch auf das Brot, und sein Besitzer
kann damit tun, was ihm gefällt. Es wäre aber schön, wenn er aus
Brüderlichkeit und Mitleid sein Brot teilte.“ „Genau das hätte ich
auch geantwortet. Da es sein Brot ist, kann dem Besitzer keine
Ungerechtigkeit vorgeworfen werden, wenn er es an die Enten
verfüttert, anstatt es den hungernden Menschen zu geben. Das Gleiche
trifft zu, wenn er es nur einem aus der Gruppe der zehn gibt und sich
daran erfreut, wie die anderen am Schmerz, nichts bekommen zu haben,
leiden. All diese Taten wären gerecht, da es ungerecht wäre, jemandem
vorzuschreiben, was er mit seinem Eigentum tut, solange er niemandem
damit schadet. Jemanden leiden zu lassen, ist etwas anderes, als ihm
Leiden zuzufügen. Doch während alles, was ich nannte, mit der
Gerechtigkeit im Einklang steht, ist es mit anderen Tugenden nicht
verträglich. Die Welt kann sehr böse werden, wenn die Menschen die
Gerechtigkeit höher halten als das Mitgefühl. Doch oft geht es ja
nicht um die Verteilung von Mitteln, die in jemandes Besitz sind,
sondern um freie Mittel. Und für deren Verteilung ist die
Gerechtigkeit als Ratgeber unentbehrlich. Was denkst du, Rudolf:
Sollte ein schwarzhäutiger Mensch in unserer Gruppe der zehn
Hungernden mehr oder weniger Brot bekommen als die neun
weißhäutigen?“
„Die Hautfarbe ist doch gleichgültig, oder hat sie Einfluss auf die
Bedürftigkeit?“ „So viel ich weiß nicht. Und die Religion?“ „Die
genauso wenig.“ „Nimm nun an, es gebe in der Gruppe einen besonders
starken und wilden Menschen, der alles Brot an sich reiße und die
anderen mit Schlägen daran hindere, sich auch etwas zu nehmen. Wäre
es gerecht, wenn dieser Starke bekäme, was er sich wegen seiner
Stärke nehmen kann?“ „Da er so stark ist, zeigt er ja an, dass seine
Bedürftigkeit am geringsten ist. Deshalb sollte er am wenigsten Brot
erhalten.“
„Du hältst es also für gerecht, den Schwachen den Vortritt zu
lassen?“ „Ja.“ „Wenn dies über längere Zeit geschieht, dann wird der
Starke schwächer, die Schwachen werden ihre Schwäche aber behalten,
anstatt stärker zu werden, denn ein Mensch wird viel leichter und
schneller schwach als stark. Am Ende hätten wir in der Gruppe nur
noch Schwache. Ist es wünschenswerter eine Gruppe von zehn Schwachen
oder eine Gruppe von einem Starken und sechs Schwachen zu haben?“ „Du
redest von sechs Schwachen, weil drei schon gestorben sind, wegen des
Zugriffs des Starken auf das Brot?“ „Ja, Rudolf.“ „Es ist besser,
eine Gruppe von zehn Schwachen zu haben.“ „Warum? Weil das Leben
eines Menschen schon für sich allein wertvoll ist, ganz gleich, wie
es beschaffen?“ „Ja, aus diesem Grunde.“ „Was aber, wenn keiner der
Gruppe überleben kann, weil das Brot nicht für alle reicht?
Dann könnten doch wenigstens fünf überleben, wenn die anderen fünf
kein Brot mehr bekämen. Ist es nicht besser, fünf Lebende zu haben,
als zehn Tote?“ „Natürlich ist das besser. Wenn abzusehen ist, dass
nur dann jemand überleben kann, wenn andere sterben, dann soll das
Los entscheiden, wer kein Brot mehr bekommt und sterben muss. Solange
jedoch die Aussicht besteht, dass das Brot für alle reicht, wenn auch
mit großer Not, dann sollen alle von dem Brot bekommen.“
„Nimm an, ein Mittel sei begrenzt und du hättest zu entscheiden, ob
du mit diesem Mittel zehn Menschen versorgst, die dann damit ein
angenehmes Leben haben würden, oder ob hundert Menschen es bekommen
sollen, die dann damit in Not leben würden?“ „Das hängt davon ab, ob
diese hundert Menschen bereits leben, oder ob sie erst geboren werden
müssten. Ist abzusehen, dass ein lebenswichtiges Mittel knapp wird,
dann würde ich dazu raten, die Nachkommenschaft gering zu halten.
Leben die hundert aber bereits, dann würde ich das Mittel so lange
nach Bedürftigkeit verteilen, bis genügend der Schwächsten gestorben
sind. Ich sehe nämlich keinen Grund, warum ich irgendwelche Menschen
bevorzugen sollte, wenn sie alle das Mittel benötigen.“ „Dem stimme
ich zu, doch was, wenn es in der Gruppe Menschen gibt, die weniger
wert sind als andere?“ „Was meinst du?“ „Wem würdest du das Mittel
geben: einem Kinderschänder, Mörder oder sonstigem Missetäter oder
einem, der sich immer um das Wohl der Menschen bemüht und nie
jemandem etwas zu Leide getan hat?“ „In diesem Fall doch eher dem
Guten.“ „Dessen Bedürftigkeit ist aber nicht größer als die des
Bösen.“ „Ja, ich weiß, aber etwas sagt mir, dass mein Handeln nicht
gerecht wäre, wenn ich zwischen diesen beiden Menschen keinen
Unterschied machte.“
„So soll also das Belohnen von Verdiensten und von Güte mit zur
Gerechtigkeit zählen?“ „Ja, Gorgias.“ „Wenn also ein Mittel nicht für
alle reicht, dann sollen die Bedürftigen vor den Unbedürftigen und
die Guten vor den Bösen davon bekommen, wobei die Bedürftigkeit
wichtiger ist als die Güte.“ „Das hört sich richtig an.“ „Gut ist der
mit gesunder, also starker Seele und böse der mit kranker, also
schwacher Seele?“ „Ja.“ „Und die mit starker Seele sollen denen mit
schwacher Seele vorgezogen werden?“ „Ja.“ „Warum sprachest du nicht
genauso, als ich dich fragte, ob der körperlich Stärkere dem
körperlich Schwächeren vorzuziehen sei?“ „Weil jemand seine
Körperkraft zum Wohle oder zum Schaden anderer Menschen einsetzen
kann. Was er mit ihr tut, bestimmt die Seele. Nutzt er seine Kraft,
um andere vom Brot zu vertreiben, damit er selbst mehr als nötig
davon essen kann, dann ist seine Seele nicht so gut, wie sie es wäre,
wenn er mit den anderen teilte, und er verdient weniger Brot, wegen
seiner Gier. Nutzt er seine Körperkraft, um anderen zu helfen, dann
ist seine Seele in dieser Hinsicht gut, und er soll anstelle eines
Bösen Brot bekommen.“ „So bedeutet die Körperkraft nichts in
Gerechtigkeitsfragen. Es geht um die Bedürftigkeit und um die Seele
allein?“ „Ja, Gorgias.“
„Also bezeichnen wir als Gerechtigkeit, wenn zwei Menschen von einem
Mittel gleich viel bekommen, wenn sie sich in Hinsicht auf dieses
Mittel gleichen und verschieden viel, wenn sie sich in Hinsicht auf
dieses Mittel unterscheiden. Der, der mehr bedarf, soll mehr bekommen
als der, der weniger bedarf. Dabei ist unter Bedarf der für die
Gesundheit erforderliche Anspruch zu verstehen. Gier ist kein Bedarf.
Der Gute soll dem Bösen vorgezogen werden, so dass Bedarf und Güte
einander verstärken und Bedarf und Bosheit einander auslöschen.? ?Wie
meinst du das letzte?“ „Wenn der Gute und der Böse gleichen Bedarf
haben, dann bekommt der Gute so viel mehr, wie er besser ist als der
Böse. Damit der Böse genauso viel bekommt wie der Gute, muss sein
Bedarf entsprechend höher sein.“ „Verstehe. Und böse nennst du einen
Übeltäter und gut einen, der nichts verbricht oder sogar Gutes tut?“
"Ja. Natürlich muss man bei der Entscheidung immer auf die Seele
schauen, denn mancher tut widerwillig Böses, weil er dazu gezwungen
wird. Wir können später noch einmal auf die Frage, wer gut sei,
zurückkommen… "
„Ist es auch gerecht, wenn ein Missetäter bestraft wird?“ „Ja.“
„Auch, wenn einer, der einen Apfel stahl, dafür gesteinigt wird?“
„Gott bewahre! Nein! Die Strafe muss doch angemessen sein.“ „Zu
bestrafen sei also gerecht, wenn die Strafe der Tat angemessen ist?
Sagst du das, Rudolf?“ „Ja.“ „Wenn der Apfeldieb dem Bestohlenen
einen ebenso guten Apfel zurückgäbe, dann würde das nicht ausreichen,
sondern er müsse noch eine Strafe bekommen?“ „Nun bin ich mir nicht
mehr sicher.“ „Was hältst du von diesem Vorschlag: Es ist gerecht,
wenn ein Dieb zurückgibt, was er genommen und den Bestohlenen für die
mit dem Diebstahl verbundenen Unannehmlichkeiten entschädigt. Gerecht
ist also, wenn ein Verbrecher den angerichteten Schaden wieder
ausgleicht. Die Strafe hingegen hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun,
sondern dient ganz anderen Zwecken als der Gerechtigkeit.“ „Welchen
denn?“ „Sie dient der Sicherheit und Erziehung des Täters und des
Volkes. Wenn also jemand von einer gerechten Strafe spricht, dann
spricht er nicht richtig, weil die Strafe eine Angelegenheit ist, die
mit Gerechtigkeit nicht begründet werden kann.“ Rudolf dachte kurz
nach und musste Gorgias zugestehen, dass dieser Standpunkt sinnvoll
sei. Dann wendete er aber ein: „Was aber, wenn der angerichtete
Schaden nicht wieder gutzumachen ist?“ „Dann kann der Gerechtigkeit
nicht Genüge getan werden.“ „So einfach machst du dir das also.“
„Ja. Wenn ein Schaden nicht wieder rückgängig gemacht werden kann,
dann ist das ein Unglück. Was aber hat es mit Gerechtigkeit zu tun,
wenn ein Verbrecher für einen Mord lebenslang eingesperrt wird? Das
ist weder gerecht noch ungerecht, denn es steht außerhalb von
Gerechtigkeitsüberlegungen. Da wir noch am Anfang unseres Gespräches
stehen, möchte ich noch nicht von Strafen, sondern nur von
grundsätzlichen Dingen sprechen. Welche Strafe für welchen Frevel
angemessen ist, soll uns hier noch nicht beschäftigen. Deshalb sage
mit jetzt lieber, ob alle Bürger für die gleiche Untat, aus gleichen
Absichten, unter gleichen Umständen, gleich bestraft werden sollten.“
„Ja. Ganz gleich, welche Hautfarbe, welche Körpergröße, welches
Geschlecht, welches Vermögen, welche Herkunft, welche Religion und
welch sonstige für die Tat unbedeutenden Dinge jemand an sich hat -
die Strafe hängt nur von der Tat und von den Absichten für sie ab.
Die Absichten jedoch sind Sache der Seele, und nur diese steht vor
Gericht. Sollten aber die Hautfarbe oder die Religion für die Tat
wichtig gewesen sein, dann müssen sie bei der Festlegung der Strafe
berücksichtigt werden. Ich will nur nicht, dass jemand eine schwerere
Strafe bekommt, nur weil er schwarz oder jüdisch ist, außer diese
Tatsachen hatten Einfluss auf die Absichten oder auf die Tat.“
„Dem schließe ich mich an, Rudolf. Deshalb soll die Gleichheit vor
dem Gesetz in dem Sinne, wie du ihn eben erklärt hast, nämlich als
Vorurteilsfreiheit, ein weiterer Grundsatz sein. Nun noch ein Letztes
zur Gerechtigkeit: Wir nannten Gerechtigkeit eine Vorgehensweise für
das Verteilen und für das Bezahlen von Schäden. Eine dritte Bedeutung
der Gerechtigkeit ist aber die als Eigenschaft der gesunden Seele.
Wer nämlich das, was wir über die Gerechtigkeit sagten, in seine
Seele aufgenommen hat und ganz selbstverständlich danach handelt, den
können wir als gerecht bezeichnen. Diese Tugend sollen die Menschen
in unserem Staate entwickeln, wobei ihnen die Erziehung helfen soll.
Was meinst du hierzu?“ „Das ist ein schöner Gedanke, Gorgias.“