Geschichte wird aus gegenwaertiger Sicht/Kultur gedeutet?

Wir vergessen allzu oft, dass sich Dinge, Begebenheiten, die sich irgendwann mal zutrugen, einer ganz anderen Sichtweise unterlagen, in einem ganz anderen Seins- und Kulturkontextes stattfanden…

Wir stuelpen unsere Analysemethoden (und entspr. unsere vermeintlichen, ja so objektiiven Urteilsfaehigkeiten) ueber die vorherrschenden Sichtweisen der damaligen Zeit.

Hier ein nettes Bsp.

Fassungslos stehen wir heute vor solch wahnhaftem Denken. Waren das nicht gebildete, aufgeklärte, politisch wache Menschen? Dorothea Wierling findet dafür keine einfache Erklärung: „Na ja, man kann zumindest einen Fall erzählen, in dem, hoffe ich jedenfalls, dieser Wahn nachvollziehbar wird. Die Brauns sind ja durchaus symptomatisch für das deutsche Bildungsbürgertum, wenn auch, wie ich schon gesagt habe, in einer reichlich extremen Ausprägung, aber sie repräsentieren natürlich auch nur ein Segment der deutschen Gesellschaft und sind jetzt nicht für die Deutschen repräsentativ. Aber mir ging’s auch darum, so nah wie möglich an diese vier heranzukommen, damit irgendwie verständlich wird, warum und wie der Krieg von denen eigentlich als eine Chance gesehen wird, aus ihrem Leben was zu machen, was Höheres, was Erhabenes, oder warum Otto zurück an die Front will anstatt das Jahr 1917 in Berlin zu verbringen, nämlich weil er die Erfahrung gemacht hat, dass in der Todesangst an der Front das Leben für ihn besonders intensiv spürbar wird, und mir ist klar, dass uns Heutigen das völlig fremd ist, aber als Historikerin natürlich glaube ich eben auch, dass wir versuchen können das zu begreifen, also es kann fremd bleiben, aber - wir sollten - ich würde gerne eine Geschichte erzählen, die es möglich macht, diese Leute ansatzweise zu verstehen.“

http://www.deutschlandfunk.de/erster-weltkrieg-der-k…

Tach Multivista,

das ist zu kurz, zu einschichtig gedacht.
Jede Betrachtung vergangener Ereignisse muss drei Schritte vollziehen: Zuerst den Hergang der Ereignisse ermitteln - wobei man sich immer bewusst sein muss, dass man nie die Ebene der nackten Tatsächlichkeit erreichen kann, weil alle Versuche der Rekonstruktion immer von unseren eigenen Vorstellungen und Denkmustern mitbestimmt werden. Wilhelm Dilthey nannte dies das „Vorverständnis“.
Dann müssen wir zu erhellen versuchen, welche „objektiven Faktoren“ - also Voraussetzungen durch alle Zufälligkeiten hindurch - das Geschehen bestimmt haben.
Und endlich können wir uns daran machen, die subjektiven Triebkräfte der handelnden Personen zu erhellen, also ihre Vorstellungen, ihre Denkmusterm ihre Ziele und Wünsche.

Geschichte ist nie eine Abfolge von „bruta facta“, sondern immer deren Deutung und Wertung.

Gruß - Rolf

Geschichte ist nie eine Abfolge von „bruta facta“, sondern
immer deren Deutung und Wertung.

Gruß - Rolf

Natuerlich. Das stimmt. Aber es wird doch kaum wirklich befolgt.

Wenn es um Geschichte(n) ghet, dann wird immer so getan, als wenn das genau SO gelaufen waere und genau SO (mit heutiger Sicht der Sachlage) zu deuten waere.

Die ganze Glaubensgeschichte (Christentum) ist doch nur Dichtung und Wahrheit,
wobei letztere eben gar nie herausgefunden werden kann. Also betreibt man Hermeneutik.

MV

Na, das solltest Du aber deutlicher werden: Was ist Dichtung, was ist Wahrheit?
Die Geschichte des Christentums ist für jede historische Forschung offen wie alle anderen Gebiete auch.
Ich vermute, Du meinst den christlichen Glauben und seinen Anspruch auf Wahrheit.

Das solltest Du aber nicht mit der Kirchengeschichte vermischen.

Gruß - Rolf

Vermischung von Glaube und ´Geschichte´
Hi.

Die Geschichte des Christentums ist für jede historische
Forschung offen wie alle anderen Gebiete auch.
Ich vermute, Du meinst den christlichen Glauben und seinen
Anspruch auf Wahrheit.
Das solltest Du aber nicht mit der Kirchengeschichte
vermischen.

Christlicher Glaube und Kirchengeschichte vermischen sich aber dort, wo kirchengeschichtliche Daten historisch nicht objektiv gesichert sind. Das betrifft das komplette 1. Jh. und den Anfang des 2. Jh… Für diesen Zeitraum liegen keine zuverlässigen außerchristlichen Textzeugnisse über Personen oder Ereignisse vor, die dem Christentum zugeordnet werden können. Ebenso wenig gibt es archäologische Hinweise auf die Existenz eines Christentums im 1. Jh… Die kanonischen Evangelien können ebenfalls nicht zuverlässig in das 1. Jh. oder den Beginn des 2. Jh. datiert werden, sie sind historisch erst ab ca. 180 (Irenäus von Lyon) bezeugt. Die konventionelle Datierung (Mk ab 70 usw.) ist willkürlich und scheint nur dem Zweck zu dienen, die Texte möglichst nahe an die angebliche Lebenszeit des angeblichen Religionsgründers heranzurücken. ´70´ gilt als untere Grenze, weil in Mk 13,2, nach Ansicht der meisten Exegeten, auf die Zerstörung Jerusalems (im Jahr 70) Bezug genommen wird.

Daraus folgt: Alle ´kirchengeschichtlichen´ Aussagen über Personen und Ereignisse des 1. Jahrhunderts sind per se Glaubensaussagen , d.h. sie stützen sich nicht auf fundierte Daten, sondern auf das Vertrauen in den Wahrheitsgehalt christlicher Glaubenszeugnisse (Evangelien, Paulusbriefe, Apostelgeschichte).

Dass der historische Gehalt der Evangelien fragwürdig ist, weil es den Autoren weniger um historische Genauigkeit als um die Vermittlung von ´Glaubenswahrheiten´ ging, bestätigen auch viele Theologen, darunter Küng. Die Frage ist, was nach der Entmythologisierung dieser Texte noch übrig bleibt. Gibt es einen historischen Kern im mythologischen Fruchtfleisch (Jesus hat existiert), oder gleichen sie eher einer Zwiebel ohne Kern (Jesus hat nicht existiert)? War vielleicht eine andere jüdische Gestalt aus den Jahrzehnten vor der Zeitenwende das Modell für die (evt.) fiktionale Jesusfigur?

Für die Existenz des Jesus liegen folgende außerchristliche (vermeintliche) Zeugnisse vor:

  • zwei Stellen bei Flavius Josephus (Ant 20,200 und Ant 18,63-63 im Testimonium Flavianum)

  • eine Stelle bei Tacitus (Ann 15,44)

  • ein brieflicher Bericht von Plinius d.J.

  • zwei Stellen bei Sueton (Suet. Claud. 25,4 und Suet. Nero 16,2)

Leider können diese Zeugnisse einer kritischen Prüfung nicht hundertprozentig standhalten, sie können sehr wohl auch spätere christliche Interpolationen sein und daher als fragwürdig gelten.

Die Paulusbriefe sind historisch erst ab ca. 140 belegt. Inhaltlich stehen sie nur in minimalem historischen Bezug zur Jesusgestalt. Abgesehen davon, dass ´Paulus´ also nicht als Augenzeuge für die Existenz des Jesus gelten kann, ist er auch selbst nicht historisch gesichert.

Bis einschließlich Soterus (Mitte 2. Jh.) sind alle in der katholischen Kirchengeschichte aufgeführten Bischöfe von Rom historisch ungesichert. Das betrifft im einzelnen folgende ´Personen´:

Petrus, Linus, Anaklet, Clemens I., Evaristus, Alexander I., Sixtus I., Telesphorus, Hyginus, Pius I., Anicetus und Soterus.

Zu Petrus:

Es gibt weder einen zuverlässigen archäologischen noch einen zuverlässigen Textbeweis für die Existenz dieser Gestalt. Dass unter dem Altar des Petersdoms eine alte Gedächtnisstätte gefunden wurde, beweist nur, dass es diese Gedächtnisstätte gab, nicht aber, wessen Gedächtnis gepflegt wurde. Der von Pius XII. mit der Untersuchung beauftragte deutsche Prälat Ludwig Kaas kam - es kann nicht überraschen - zu den Ergebnis, dass es sich um das Petrusgrab handele. Objektiven wissenschaftlichen Kriterien hält dieser Befund allerdings null stand und wird dementsprechend von der Wissenschaft nicht anerkannt. Weder ist nachweisbar, dass das Grab überhaupt aus dem 1. oder 2. Jh. stammt, noch gibt es Hinweise auf einen christlichen Kontext.

Die angeblichen Hinweise auf Petrus in den Briefen von Clemens, Ignatius und Petrus himself beweisen ebenfalls nichts, da die gegen sie erhobenen Fälschungsvorwürfe (im Falle der Petrusbriefe mit breitem Konsens) nicht überzeugend entkräftet werden können. Vermutlich wurde die Legende um Petrus incl. Romaufenthalt von römischen Klerikern im 2. Jh. gestrickt, um auf der Grundlage einer behaupteten apostolischen Nachfolge (in Gestalt des Bischofs von Rom) Anspruch auf das Primat über die Kirche zu erlangen bzw. zu festigen. Da kann es auch nicht überraschen, dass die Ausschmückung der Petrusfigur zum himmlischen Torwächter dem römischen Gott Janus nachempfunden wurde, welcher die Tore des Himmels öffnet und schließt.

Chan

Die Frage, ob Jesus gelebt hat, die Du hier mal wieder ins Spiel bringst, ist vollkommen unwichtig für die Frage nach wissenschaftlicher Geschichtsschreibung. Auch Deine Auslassungen über die Entstehungszeit der Evangelien sind erstens nebensächlich und zweitens falsch. Der Papyrus p52 mit Versen aus Johannes 18 stammt aus dem Anfang des 2. Jhdts.
Es geht hier nur um die Frage nach wissenschaftlicher Geschichtsschreibung, und die ist selbstverständlich möglich auch für das Gebiet des Glaubens. Franz Overbeck ist ein schönes Beispiel dafür, dass man ein guter Historiker und Exeget des Neuen Testaments sein kann, ohne Christ zu sein.

Die Frage, ob Jesus gelebt hat, die Du hier mal wieder ins Spiel bringst, ist vollkommen unwichtig für die Frage nach wissenschaftlicher Geschichtsschreibung.

Ich nahm mit meinem ´Auslassungen´ Bezug auf deine chirurgisch saubere Trennung von Glaube und Kirchengeschichte. Und Kirchengeschichte beginnt, folgt man z.B. Prof. Martin H. Jung, Professor für Historische Theologie (Kirchengeschichte, Dogmen- und Konfessionsgeschichte, Ökumenische Theologie), in einer Phase, für die die historische Existenz von Jesus sowie seiner angeblichen Apostel felsenfest vorausgesetzt wird, siehe:

http://www.utb.de/autoren/autoreninterviews/details-…

_Herr Professor Jung, wann begann Kirchengeschichte?

Die Geschichte der Kirche oder besser der Kirchen begann, als sich nach Jesu Tod im Jahre 30 weiterhin frühere und neue Anhänger und Anhängerinnen seiner Botschaft, Menschen, die von Jesus begeistert waren, versammelten, an ihn erinnerten und ihn auf neue Weise als gegenwärtig erlebten. Die Deutungen seiner Person gingen von Anfang an auseinander, aber einig waren sich alle, dass der Schmachtod am Kreuz eben nicht das Ende gewesen war._

All diese schönen Details sind nur aus den Evangelien und der Apostelgeschichte bekannt. Vom geschichtswissenschaftlichen (und atheistischen) Standpunkt aus ist das eine magere Basis.

Auch deine Auslassungen über die Entstehungszeit der Evangelien sind erstens nebensächlich…

In der Tat?

und zweitens falsch. Der Papyrus p52 mit Versen aus Johannes 18 stammt aus dem Anfang des 2. Jhdts.

Ein beliebtes Gegenargument ist natürlich p52. Dieses Argument hat leider drei Schwächen:

Wegen der geringen Größe des Stücks wurde niemals eine Carbondatierung durchgeführt. Die Datierungen basieren lediglich auf Handschriftenanalyse.

Das Stück ist nur 9 mal 6 cm groß. Der dementsprechend geringe Textumfang lässt keine 100prozentig sichere Zuordnung zum Joh Ev zu.

Die Datierungsbandbreite liegt zwischen 125-150 bzw. zwischen 125-160 uZ, siehe:

http://marjorie-wiki.de/wiki/Biblische_Manuskripte

Die meisten Quellen zur Datierungsfrage nennt als Datierung für p52 125-150. Der allgemeinste Konsens lautet (mit Ausnahme oben verlinkter Seite, die ´bis 160´ angibt): Spätestens 150.

Wenn du also „Anfang des 2. Jahrhunderts“ schreibst, dann ist das - in meinen Augen - eine Einschätzung hart an der Grenze zum Wunschdenken.

Es geht hier nur um die Frage nach wissenschaftlicher Geschichtsschreibung, und die ist selbstverständlich möglich auch für das Gebiet des Glaubens. Franz Overbeck ist ein schönes Beispiel dafür, dass man ein guter Historiker und Exeget des Neuen Testaments sein kann, ohne Christ zu sein.

Der Nietzsche-Freund Overbeck begann bereits mit 19 Jahren, Evangelische Theologie zu studieren. Er hat sich also in fast noch jugendlichem Alter auf die Prämisse der Historizität von Jesus festgelegt. Zu diesem Zeitpunkt (1850er Jahre) war die Auffassung der Ungeschichtlichkeit von Jesus noch Zukunftsmusik. Erst ab 1880 begann das, was man als ´Holländische Radikalkritik´ bezeichnet mit ihrem Schwerpunkt auf der Leugnung der Historizität. Zu den ersten Vertretern gehörten:

Allard Pierson (1831-1895), Professor der Kirchengeschichte in Heidelberg
Abraham Dirk Loman (1823-1897), Professor am Lutherischen Seminar in Amsterdam,
W. C. van Manen (1842-1905), Professor der Theologie in Leiden

Chan

Ein Freund meinte ganz ernst:

„Gott sei Dank, gibt es die Tradition auch als Quelle“

Na ja - Traditionen als historischer Fundus?

Ich weiss nicht…