Wachsam bleiben
Hallo,
ich denke, das Problem liegt nicht darin, gelegentlich mal zu drastischeren Erziehungsmitteln zu greifen. Manchmal erfordert die Art des Vergehens eine entsprechende Reaktion. Manchmal passiert es, dass man als Elternteil einfach überreagiert und manchmal ist man schlichtweg mit einer Situation überfordert. Dennoch liegt in meiner Bewertung die Betonung auf „gelegentlich“. Und wenn ich das in einem Zeitrahmen definieren sollte, dann würde ich sagen, maximal zweimal im Jahr (nur um mal eine Richtgröße anzugeben).
Das Problem, das ich sehe ist nämlich, dass Gewalt zunächst unglaublich erfolgreich ist. Besonders, nachdem das Ringen um eine anderweitige Durchsetzung elterlichen Willens zunächst gescheitert scheint, verblüfft die Wirkung von Gewaltanwendung durchaus. Was dabei wirkt, ist aber primär der Überraschungseffekt.
In der Folge reagiert der elterliche Mensch,wie jedes andere Lebewesen, nicht selten instinktiv: Erfolgreiche Verhaltensweisen werden beibehalten. Die (unbewusste) Bereitschaft, in einer vergleichbaren Situation wieder Gewalt einzusetzen, steigt.
Gleichzeitig sinkt fatalerweise mit der wiederholten Anwendung von Gewalt auch die Hemmschwelle, diese anzuwenden. Das nennt man Gewöhnung, und sie bedingt, dass die Abstände zwischen den gewaltsamen Maßnahmen kürzer werden.
Da der Effekt der Gewöhnung aber auch beim Kind eintritt, reduziert sich die anfänglich meist starke Wirkung einer gewaltsamen Maßnahme, was wiederum zur Folge hat, dass die Gewalt von elterlicher Seite nicht nur häufiger, sondern auch stärker eingesetzt wird, um Wirkung zu zeigen.
Verfolgt man diese Entwicklung weiter, zeigt sich, dass Gewalt eine schlechte Lösung ist. Sie neigt dazu, sich zu steigern und führt über Abstumpfungsprozesse auf beiden Seiten (Eltern und Kind) entweder früher oder später zur Wirkungslosigkeit oder zur Eskalation.
Besonders problematisch wird es, wenn Gewalt aus Überforderung resultiert. Dann ist der Erwachsene in der Regel in einem Zustand, in dem er seine Emotionen nicht kontrollieren kann - und dann wird es richtig übel, weil das Kind nicht mehr einschätzen kann, was passiert.
Deshalb: Vorsicht mit Gewalt, sei sie nun physischer oder psychischer Natur. Die Gefahr, dass sie sich unmerklich verselbstständigt, ist hoch.
Übliche Maßnahmen: Festhalten, wegtragen oder -ziehen,wegschubsen… somit alles Gewalt!
Stimmt. Und als solche in meinen Augen unbedingt immer wieder für sich selbst (als Eltern) zu reflektieren: War diese oder jene Maßnahme in diesem Fall tatsächlich nötig? Oder kam sie nicht eher als scheinbar einfachstes/ am schnellsten wirksamstes… Mittel zum Einsatz? Hat man sich bewusst für den Einsatz der Maßnahme entschieden? Oder ist sie mittlerweile bereits ein Stück Gewohnheit?
Genau das ist der Job von Eltern: Sich ihr erzieherisches Handeln bewusst zu machen und immer wieder aufs Neue kritisch zu hinterfragen. Man stelle sich vor, die Erzieherinnen im Kindergarten würden mit den ihnen anvertrauten Kindern permanent ebenso umgehen: Festhalten, wegtragen, wegziehen, wegschubsen…Die Eltern würden - völlig zurecht - Sturm laufen.
Bitte - und das ist ernst gemeint - wer kann einen „wilden dreijährigen Bub“ wirklich ganz ohne Gewaltanwendung handhaben?
Ich behaupte: Niemand. Was aber den für mich entscheidenden Unterschied macht ist, ob man sich immer wieder bewusst macht, dass das, was man tut, Gewalt ist und sich darum bemüht, diese wann immer es möglich ist zu vermeiden.
und wenn ja, wie?
Etwas, was ich sehr wichtig finde ist, möglichst nicht aus eigener Emotion (Wut, Enttäuschung, Frustration…) heraus zu handeln. Lieber erst mal aus der Situation raus gehen (natürlich nur, wenn keine Gefahr im Verzug ist) und sich selbst die Gelegenheit geben, runterzufahren.
Pestalozzi sagte: „Was nützt uns die ganze Pädagogik? Unsere Kinder machen uns ja doch alles nach“. Das sollten wir nie aus dem Blick verlieren, wenn wir zu gewaltsamen Maßnahmen greifen. Denn gerade, wenn sie erfolgreich scheinen, lernt das Kind vor allem eines: Dass Gewalt erfolgreich ist.
Schöne Grüße,
Jule