Hegel, PhdG, 'Sinnliche Gewissheit'

Hallo,

ich hätte zu oben genanntem Text eine Verständnisfrage, genauer gesagt zum vorletzten Absatz, den ich hier einfüge …

http://gutenberg.spiegel.de/hegel/phaenom/pha10002.htm

Es ist daher zu verwundern, wenn gegen diese Erfahrung, als allgemeine Erfahrung, auch als philosophische Behauptung, und gar als Resultat des Skeptizismus aufgestellt wird, die Realität oder das Sein von äußern Dingen als diesen, oder sinnlichen, habe absolute Wahrheit für das Bewußtsein; eine solche Behauptung weiß zugleich nicht, was sie spricht, weiß nicht, daß sie das Gegenteil von dem sagt, was sie sagen will.

_Bei dieser Berufung auf die allgemeine Erfahrung kann es erlaubt sein, die Rücksicht auf das Praktische zu antizipieren. In dieser Rücksicht kann denjenigen, welche jene Wahrheit und Gewißheit der Realität der sinnlichen Gegenstände behaupten, gesagt werden, daß sie in die unterste Schule der Weisheit, nämlich in die alten Eleusischen Mysterien der Ceres und des Bacchus zurückzuweisen sind, und das Geheimnis des Essens des Brotes und des Trinkens des Weines erst zu lernen haben; denn der in diese Geheimnisse Eingeweihte gelangt nicht nur zum Zweifel an dem Sein der sinnlichen Dinge, sondern zur Verzweiflung an ihm; und vollbringt in ihnen teils selbst ihre Nichtigkeit, teils sieht er sie vollbringen. Auch die Tiere sind nicht von dieser Weisheit ausgeschlossen, sondern erweisen sich vielmehr am tiefsten in sie eingeweiht zu sein, denn sie bleiben nicht vor den sinnlichen Dingen als an sich seienden stehen, sondern verzweifelnd an dieser Realität und in der völligen Gewißheit ihrer Nichtigkeit langen sie ohne weiteres zu und zehren sie auf; und die ganze Natur feiert wie sie diese offenbare Mysterien, welche es lehren, was die Wahrheit der sinnlichen Dinge ist.

Die, welche solche Behauptung aufstellen, sagen aber, gemäß vorhergehenden Bemerkungen, auch selbst unmittelbar das Gegenteil dessen, was sie meinen_

Frage nun: spricht Hegel hierbei von einer Position oder von zwei verschiedenen?

Es muss wohl eine sein, nämlich die „Position der Unmittelbarkeit“, wie ich sie hier mal nenne, aber mich verwirrt dabei Hegels Satz:

Die, welche solche Behauptung aufstellen, sagen aber, gemäß vorhergehenden Bemerkungen, auch selbst unmittelbar das Gegenteil dessen, was sie meinen

Warum denn „auch“? Wer denn noch? Bzw.: Worauf bezieht sich denn das „auch“?

Auch dieser Überleitungssatz zwischen den beiden zitierten Absätzen erschließt sich mir gar nicht und hat mit dem „auch“ dafür gesorgt, dass ich verunsichert bin, ob Hegel hier nicht doch von zwei Positionen spricht:

Bei dieser Berufung auf die allgemeine Erfahrung kann es erlaubt sein, die Rücksicht auf das Praktische zu antizipieren.

Was meint Hegel denn hier mit dem „Praktischen“ bzw. welche Stellung in der Argumentationskette hat dieses „Praktische“?

Und wenn ich schon dabei bin: Auf welche Position spielt er hier an? Klarerweise auf eine naiv-realistische oder empiristische, in persona wohl auf Jacobi, Krug und andere Zeigenossen; aber auf welchen (antiken?) „Skeptizismus“ bezieht er sich, der behauptet „die Realität oder das Sein von äußern Dingen als diesen, oder sinnlichen, habe absolute Wahrheit für das Bewußtsein“? Oder versteht er unter „Resultat des Skeptizismus“ einfach die Gegenposition zum Skeptizismus?

Danke!

Schönen Abend!
Franz

Sinnliche Gewissheit und Skeptizismus
Hi Franz,

zunächst:

selbstverständlich ist in diesen Passagen des Kapitels „Die sinnliche Gewißheit, das Dieses und das Meinen“ nur von einem Standpunkt die Rede. Im Übergang von der sinnlichen Gewißheit zur Wahrnehmung macht er diesen Standpunkt unter anderem am Skeptizismus fest (dazu gleich etwas).

Der erstere Absatz …
"… eine solche Behauptung weiß zugleich nicht, was sie spricht, weiß nicht, daß sie das Gegenteil von dem sagt, was sie sagen will.

… wird nach dem von dir im zweiten Paket zitierten Einschub (mit den Mysterienkulten) nur wieder aufgegriffen. Der Zusammenhang wird deutlicher, wenn du das Wort „sagen“ betonst. Der Satz wäre daher etwa so zu lesen:

"[…] Die, welche solche Behauptung aufstellen, sagen aber [im Unterschied zu den Mysten, die nur in eine Verwirrung der Sinnlichkeit geraten] _auch selbst unmittelbar das

Gegenteil dessen, was sie meinen (wie oben schon bemerkt)"

Denn im Unterschied zu dem Gedanken des Einschubs, geht es hier ja um die Differenz zwischen dem, was gemeint wird und dem, was eben dadurch, daß man es auch sagt (worum man nicht herumkommt) zum Gegenteil dessen wird, was man meint.

Es ist also nur eine dargestellte Position.

Es muss wohl eine sein, nämlich die „Position der
Unmittelbarkeit“, wie ich sie hier mal nenne

Warum denn „auch“? Wer denn noch? Bzw.: Worauf bezieht sich
denn das „auch“?

Wie schon gesagt: Es bezieht sich auf „sagen“.

Bei dieser Berufung auf die allgemeine Erfahrung kann es
erlaubt sein, die Rücksicht auf das Praktische zu antizipieren.

Was meint Hegel denn hier mit dem „Praktischen“ bzw. welche
Stellung in der Argumentationskette hat dieses „Praktische“?

Mit dem Praktischen meint Hegel die Lebenspraxis, soziale Praxis, gesellschaftliche Praxis - und zwar im Unterschied zur Theorie. Das Praktische ist ebenso wie das Theoretische Gegenstand der (dialektischen System-)Philosophie. Aber in unterschiedlicher Weise: Das praktische ist Gegenstand der Reflexion und im Theoretischen liegt das Denken sozusagen im eigenen Saft.

Am deutlichsten werden diese Begriffe und ihr Unterschied in den Einleitungen zu Naturphilosophie abgehandelt. Hier bekommt der Unterschied sogar einen systematischen, methodischen Stellenwert.

Und wenn ich schon dabei bin: Auf welche Position spielt er
hier an? Klarerweise auf eine naiv-realistische oder
empiristische, in persona wohl auf Jacobi, Krug und andere
Zeigenossen;

An dieser Stelle der Abhandlung hat er die schon hinter sich. Die ist ja mit dem dialektisch verstandenen Begriff des Bewußtseins schon ad acta gelegt. Nein, er meint tatsächlich den Skeptizismus (und nicht eine Gegenposition zu ihm), bei dem er - hier - nicht unterscheidet zwischen früherem und späterem bzw zeitgenössischem. Der Skeptizismus ist eine notwendige Phase (oder Position) in der Entwicklung des „Geistes“ zu sich selbst - von der Unmittelbarkeit der Sinnlichkeit, über Bewußtsein, Selbstbewußtsein und dann Vernunft.

Im folgenden Abschnitt, im Kapitel IV. „Wahrheit der Gewißheit seiner Selbst“ der Abschnitt B. „Freiheit des Selbstbewußtseins“, wird der Skeptizismus ja abgehandelt. Die für das Textverständnis an dieser Stelle günstige Äußerung findet sich in der „Einleitung“ (nicht zu verwechseln mit der ungeheuer wichtigen „Vorrede“) zur Phänomenologie:

„Wir sehen, daß das Bewußtsein jetzt zwei Gegenstände hat, den einen das erste Ansich, den zweiten das Für-es-Sein dieses Ansich.“

und dann zum skeptizistischen Standpunkt:
„… daß nämlich das jedesmalige Resultat, welches sich an einem nicht wahrhaften Wissen ergibt, nicht in ein leeres Nichts zusammenlaufen dürfe, sondern notwendig als Nichts desjenigen, dessen Resultat es ist, aufgefaßt werden müsse; ein Resultat, welches das enthält, was das vorhergehende Wissen Wahres an ihm hat. Dies bietet sich hier so dar, daß, indem das, was zuerst als der Gegenstand erschien, dem Bewußtsein zu einem Wissen von ihm herabsinkt, und das An-sich zu einem Für-das-Bewußtsein-sein des An-sich wird, dies der neue Gegenstand ist, womit auch eine neue Gestalt des Bewußtseins auftritt, welcher etwas anderes das Wesen ist als der vorhergehenden.“

Gruß

Metapher_

Hallo Metapher,

danke für Deine sehr hilfreiche Antwort!

selbstverständlich ist in diesen Passagen des Kapitels „Die
sinnliche Gewißheit, das Dieses und das Meinen“ nur von
einem Standpunkt die Rede.

ok, damit ist der eigentliche Anlass der Frage im Grund erledigt (ich wollte mich nur absichern, weil ein Fehler an dieser Stelle allzu peinlich gewesen wäre :wink:

Der erstere Absatz …
… wird nach dem von dir im zweiten Paket zitierten
Einschub (mit den Mysterienkulten) nur wieder
aufgegriffen. Der Zusammenhang wird deutlicher, wenn du das
Wort „sagen“ betonst. Der Satz wäre daher etwa so zu lesen:

"[…] Die, welche solche Behauptung aufstellen,
sagen aber [im Unterschied zu den Mysten, die nur
in eine Verwirrung der Sinnlichkeit geraten] auch selbst
unmittelbar das

Gegenteil dessen, was sie meinen (wie oben schon bemerkt)"

ok, so wird es sehr deutlich!

Was meint Hegel denn hier mit dem „Praktischen“ bzw. welche
Stellung in der Argumentationskette hat dieses „Praktische“?

Mit dem Praktischen meint Hegel die Lebenspraxis, soziale
Praxis, gesellschaftliche Praxis - und zwar im Unterschied zur
Theorie.

auch ok; wobei mir nicht klar ist, weshalb Hegel meint, hier das Praktische anbringen zu müssen glaubt, aber vielleicht meint er es ja tatsächlich wie er es sagt:
"Bei dieser Berufung auf die allgemeine Erfahrung kann es erlaubt sein , die Rücksicht auf das Praktische zu antizipieren.

Das folgende sehe ich anders als Du:

Und wenn ich schon dabei bin: Auf welche Position spielt er
hier an? Klarerweise auf eine naiv-realistische oder
empiristische, in persona wohl auf Jacobi, Krug und andere
Zeigenossen;

An dieser Stelle der Abhandlung hat er die schon hinter sich.
Die ist ja mit dem dialektisch verstandenen Begriff des
Bewußtseins schon ad acta gelegt.

das verstehe ich nicht; Hegel richtet seinen Spott an dieser Stelle ja offensichtlich unspezifisch auf die „Position der Unmittelbarkeit“, damit trifft er ja durchaus die genannten Richtungen und Personen …

Nein, er meint tatsächlich
den Skeptizismus (und nicht eine Gegenposition zu ihm)

ok, klar, natürlich meint „Resultat des Skeptizismus“ nicht die Gegenposition; weiß auch nicht mehr, wie ich gestern auf diesen Blödsinn gekommen bin :wink:

Aber er meint ja offensichtlich nicht nur , sondern lediglich auch den Skeptizismus:
Es ist daher zu verwundern, wenn gegen diese Erfahrung, als allgemeine Erfahrung, auch als philosophische Behauptung, und gar als Resultat des Skeptizismus aufgestellt wird …

ich lese dort eine Klimax der Verwunderung: gesunder Menschenverstand (bei dem dies wenig verwundert) -> philosophische Behauptung -> Resultat des Skeptizismus (bei dem dies sehr verwundert)

bei
dem er - hier - nicht unterscheidet zwischen früherem und
späterem bzw zeitgenössischem.

Genau das ist mein Problem dabei; die Sekundärliteratur zeigt ja recht einvernehmlich, dass Hegel bei der vorherigen Zurückweisung der „Position der Unmittelbarkeit“ sich auf Argumente des antiken Skeptizismus (Gorgias, Stilpon) stützt, diese Form des Skeptizismus hier also nicht meinen kann; auch das was er in der Einleitung und im Kapitel IV zum Skeptizismus sagt, passt hier nicht, weil er dem Skeptizismus ja dort ‚vorwirft‘ „mit der Abstraktion des Nichts oder der Leerheit“ zu endigen, nicht aber, die „Position der Unmittelbarkeit“ einzunehmen …

Was er m.E. meint ist die Position, alles selbst prüfen zu wollen, und sich nicht auf Autoritäten zu verlassen, die er tatsächlich in der Einleitung „Skeptizismus“ nennt, damit meiner Meinung nach den Begriff aber dort recht „umgangssprachlich“ verwendet, eher quer stehend zur genuin philosophischen Richtung des Skeptizismus.

Viele Grüße
Franz

Wissen und Meinen
Hi Franz,

An dieser Stelle der Abhandlung hat er die schon hinter sich.
Die ist ja mit dem dialektisch verstandenen Begriff des
Bewußtseins schon ad acta gelegt.

das verstehe ich nicht; Hegel richtet seinen Spott an dieser
Stelle ja offensichtlich unspezifisch auf die „Position der
Unmittelbarkeit“, damit trifft er ja durchaus die genannten
Richtungen und Personen …

Also „Spott“ würde ich das an dieser Stelle nicht nennen, da schlägt er an anderer Stelle viel fester zu (z.B. gegen Schelling in der Vorrede, was ja auch zum Zerwürfnis zwischen den beiden Freunden geführt hat). Er kritisiert hier auch nicht das, was du „Standpunkt der Unmittelbarkeit“ nennst, sondern er kritiert den naiven Realismus.

Und an diesen schließt er hier halt auch den Skeptizismus an, den er in Richtung „Relativismus“/„Solipsismus“ ausfiltert (etwa: „Dinge sind real, aber nur momentan und nur für mich“).

Die Unmittelbarkeit der sinnlichen Gewißheit vielmehr ist eine notwendige Stufe in der (logischen bzw dialektischen) „Begriffsbewegung“. Die Unmittelbarkeit wird ja, nach dem Durchgang durch ihren Widerspruch, in den „höheren“ Stufen „aufgehoben“ (also auch bewahrt). Zuerst in der Wahrnehmung, dann im Selbstbewußtsein.

Die grundlage ist ja eine bis dato völlig neue Theorie des Bewußtseins: Der Gegenstand ist nur Gegenstand durch das Ich, UND das Ich ist nur Ich durch den Gegenstand. Diese Beziehung (auch ein von Hegel erneut bestimmter Begriff in der sog. Jeneser Logik) ist das Bewußtsein, und es ist eine "negative Beziehung, insofern beide Seiten „sind, indem sie zugleich nicht sind“.

Der naive Realismus („der Gegenstand ist, auch wenn er nicht für mich ist, d.h. wenn ich ihn grad mal nicht denke“) ist dabei auch nicht als verwerflich angesehen. Er übersieht nur das „Wesentliche“: Daß er diese unabhängige Existenz nur hat, insofern diese ein „Wissen von mir“ ist: Seine unabhängie Existenz ist somit „mein Wissen“, ein „Meiniges“ und daher ein „Meinen“ - so spielt Hegel halt manchmal mit der Sprache, er glaubt indes nicht etwa, daß zwischen „mein“ und „Meinen“ ein etymologischer Zusammenhang bestehe.

Sorry, das ist sicher nichts Neues für dich. Wollte es nur dazusetzen, sofern ja auch andere mitlesen könnten.

Gruß

Manfred

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