Ich habe ein gewaltiges Problem.
In der 11. Klasse Gymnasium ist es
obligatorisch ein Gedicht zu
interpretieren.
Ich habe das Gedicht heute erhalten und
muss bis Donnerstag eine fertige
Interpretation abgeben.
hm, erstmal musst du dir von mir anhören, dass ich das ziemlich scheiße finde, deine tour. von einem elftklässler würde ich ein bisschen mehr erwarten.
- sicherlich ca. 20 mitschülerInnen sind in derselben situation. frag sie, wie sie damit umgehen, und was ihnen zu den texten einfällt.
2.notfalls ruf deinen lehrer / deine lehrerin an und sag, dass du mit der aufgabe absolut nicht klarkommst. und ruf sie nciht erst mittwoch an!
3.es gibt hilfsmittel. frag in der bibliothek, was sich über den dichter findet etc. mit etwas glück findest du z.b. in der frankfurter anthologie eine interpretation genau dieses oder eines anderen gedichts. du lernst damit den dichter kennen, und da gibt es oft allgemeine sachen, die sich in den meisten gedichten wiederfinden, und die dir helfen, diesen text mit schärferem blick zu sehen.
Könnten sie mir dabei vielleicht etwas
behilflich sein???
ein klein etwas „vielleicht“.
in [eckigen klammern] schreibe ich dir sachen auf, die dir 1. bei der hausaufgabe und 2. auf deinem weg zum abitur hilfreich sein können, wenn du sie lernst!
Alfred Wolfenstein
Städter
Nah wie Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte stehn
Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, wo die Blicke eng ausladen
und Begierde ineinander ragt
Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Flüstern dringt hinüber wie Gegröhle:
Und wie stumm in abgeschlossner Höhle
Unberührt und ungeschaut
Steht doch jeder fern und fühlt: alleine.
a) form: vier strophen, 2 vierzeilig, 2 dreizeilig. kombiniere, watson, SONETT.
[schlag „sonett“ nach!]
das reimschema wirst du ja wohl selber rausfinden, oder?
stehn -fassen -straßen -stehn =abba.
und so weiter, das machst du selbst in einer halben minute. es geht übrigens mit „c“ weiter, das alphabet wird also nicht jede strophe neu angefangen.
rhythmus: markier dir im text betonte und unbetonte silben (z.b. „/“ und „-“), und suchdir dann die zugehörigen versfüße. [schlag jambus, trochäus, daktylus, anapäst nach!]
Nah wie Löcher eines Siebes stehn =>
/ - / - / - / - / usw.
[schlag mal „enjambement“ nach. oder: zeilen~]
such dir wortfelder oder begriffe, die in den selben bereich gehören: nah, beieinander, drängend, dicht usw.
achte auf worte, die sich wiederholen.
achte auf starke inhaltliche oder sprachliche gegensätze.
achte auf ungewöhnliche ausdrucksweise. fenster werden selten mit sieblöchern verglichen, und häuser fassen meist gar nichts an…
hab ganz allgemeine fragen im kopf: kommt dir das gedicht eher bunt vor oder grau? ist es eher fröhlich oder melancholisch? ist es schnell, langsam, abgehackt, fließend? wohlklingend oder unangenehm im ohr bzw. auf der zunge? versuch, für deine antworten belege im text zu finden. wenn du findest, dass ein text langsam und fließend ist, aber es nicht im gedicht festmachen kannst, dann schreib trotzdem: ich finde, dass das gedicht soundso ist, leider finde ich dafür keine belege im text. das ist zwar nicht schön, aber dir ist zumindest was aufgefallen, und bei einer besprechung oder kontrolle der hausaufgabe kannst du nochmal gezielt nachfragen, ob und wie man das am text beweisen kann.
ich will hier keine gedichtanalyse machen, aber es ist immer hilfreich, sowas wie eine arbeitshypothese zu haben. du liest das gedicht dreimal, im hinterkopf solche allgemeinen fragen, suchst sowas wie kontraste und seltsame ausdrücke…
und dann machst du dir eine hypothese, wie z.b. „ich glaube, dass dieses gedicht sich mit der entfremdung beschäftigt, die menschen in großstädten erfahren, mit der sozialen kälte und unpersönlichkeit, die im krassen gegensatz zu der körperlichen nähe in der stadt steht“ diese arbeitshypothese ist ein bisschen lang, aber du kannst damit den text wie durhc eine lupe ansehen. und wenn, was du siehst, sinnvoll aussieht und gut zueinander passt, dann bestätigt dass deine hypothese. wenn es nicht so recht passen will, änderst du deine arbeitshypothese. vielleicht mehr, vielleicht weniger… deine arbeitshypothese würde ich übrigens möglichst früh in die interpretation einbauen - sie später im text zu ändern ist keine schande.
hast du 13 schuljahre? dann ist die elfte halb so wild, da lernst erst, was du fürs abi brauchst. aber ein gedicht solltest im abi schon interpretieren können!
viel erfolg, und nutz immer erst die möglichkeiten deiner unmittelbaren umgebung, ehe du fremde um ihre zeit bittest - meine zeit kann mit keiner wiedergeben. sie ist ein geschenk 
jonas