Lieber Voltaire,
vorab: allein auf Grund der Weite des Themas werden wir meinen Vorschlag hier bestimmt nicht ausdiskutieren können, zumal es dem MOD schon bald zu OT werden könnte …
Das „Sich-nach-innen-wenden“ist eine dem Menschen vorbehaltene
Methode, Kenntnis der Wahrheit i. w. S. zu erlangen. Ich
finde,
das ist ein wichtiger Punkt.
Zweifel anmelden möchte ich hinsichtlich seiner Urheberschaft.
Mit dem „Sich-nach-innen-wenden“ erschließt man das „ich“
sozusagen
als Informationsquelle.
ich würde dieses „Sich-nach-innen-Wenden“ nun nicht auf eine epistemologische Dimension reduzieren, wie Du es hier offensichtlich machst; mir geht es dabei auch weniger um das „Ich“ oder gar um ein „Cogito“ als vielmehr um das Selbst: die Selbst-Beobachtung, die Selbst-Disziplinierung, die Selbst-Bestrafung, die Selbst-Verdächtigung, etc., anders gesagt: die Wendung der äußeren Macht gegen sich selbst, wie es gerade im Protestantismus so sehr vollzogen wurde.
Ist dieser von dir angeregte Punkt nicht eher die
Grundhaltung
jedes Philosophen?
Ja und Nein;
auf der einen Seite würde ich diese genannten Selbst-Praktiken nicht zum Wesen des Philosophierens erklären, auf der anderen Seite mag eine bestimmte Verwandtschaft der Philosophie zu solcherlei Praktiken bestehen, vermittelt über den kontemplativen und asketischen Charakter eines jeden(tatsächlich?) Philosophen.
Stammt diese Grundhaltung originär von der
christlichen Kirche? Ich hege Zweifel.
Das habe ich auch nicht behauptet;
meine Behauptung war, dass die „christliche Kirche“ diese Haltung des „Sich-nach-Innen-Wendens“ kultiviert und verbreitet, unters Volk, zumindest unter einen Teil dessen, gebracht hat;
Originarität kann sie gewiss nicht beanspruchen, aber das empfinde ich auch nicht als notwendige Voraussetzung für die Aufnahme in die Kategorie „historisches Verdienst“;
notfalls würde ich dabei einen Sprung von quantitativem Mehr vom Gleichen zu qualitativem Anderem postulieren, und wohl gerade mit der Berufung auf die „Verbreitung“ nicht zu Unrecht.
Jetzt schreibst du, dir sei ernst damit, nämlich mit der These
ohne die intensiven Bemühungen um und die konsequenten
Befragungen der Sexualität, die ihr die Kirche gerade in der
Beichtpraxis zukommen hat lassen, wäre heute weder
Sexualforschung noch Fetish Club denkbar…
Du berufst dich dabei auf im folgenden auf die
Forschungsergebnisse
Michel Foucaults.
Wobei ich der Chronistenpflicht halber sagen muss, dass meine „Kurzfassung“ selbt nicht auf Schriften Foucaults beruht, wohl aber (wenn auch nicht vollständig) die Sichtweise.
… wissen wiederum ebenfalls, dass man auch das gewollte
Herausschlagen als eine nicht-eingestandene Form des
Hineinschlagens verstehen kann.
OK, das kann man auch in der Kürze so nachvollziehen.
Der Kerngedanke dabei ist nicht der Flagellantismus selbst (denn den gäbe es in anderen Erdteilen eher zu suchen), sondern diese radikale Untentknüpfbarkeit von Repression der Lüste und Produktion der Lüste durch Lust-Besetzung der Repressionsmaßnahmen.
…alle Formen der Untersagung der Sexualität
(und dass diese ein „historisches Verdienst“ ist, dürfte
unbestritten sein!) wiederum sexualisierbar sind, selbst zur
Quelle sexueller Lust werden können.
Die Untersagung, sich als voller Mensch erleben zu können,
ein historisches Verdienst?
-
wir können uns wohl einigen auf „historische Bewirkung“, wenn denn das „Verdienst“ unbedingt „positiv“ verstanden werden soll.
-
wenn man meinen Gedanken von der Unentknüpfbarkeit von Repression und Produktion der Sexualität folgt (und das muss ich voraussetzen), dann kann ich von meiner historischen Position aus, diese (repressiv-produktive) Vervielfältigung der Lüste, durchaus auch für gut heißen und mit einer gehörigen Dosis selbstironischem Pathos sagen: der Fetish Club ist eine zutiefst abendländische Kulturleistung, und er ist das Palimpsest der „christlichen Kirche“.
-
vom „vollen Menschen“ zu sprechen ist überaus voraussetzungsreich; ich möchte mich dieses Sprechens lieber enthalten.
Du führst dann weiter aus,
dass gerade diese Tabuisierung, diese massive Unterdrückung,
zur Quelle sexueller Lust geworden sei.
Ich kann’s relativ schlecht beurteilen, aber hat Foucault hier
Ursache und Wirkung verwechselt?
Dieser Vorwurf wird in der Tat gerne gegen Foucault’sches Denken erhoben, und -wie ich meine- sehr zu Unrecht;
es geht hierbei um das Denken einer Unentküpfbarkeit von Ursache und Wirkung, damit also um den Verzicht, Ursache und Wirkung a priori zu setzen, z.B. durch die Annahme eines „vollen Menschens“, dessen angeblich immer-schon-vorhandene Sexualität reprimiert werden würde …
Ein Beispiel: Der Sadomasochismus braucht zu seinem Funktionieren die phantasmatischen Formen der Gewalt, der Unterdrückung, der Entsagung, der Unterwerfung, zusammengefasst: der Repression; wie könnte man hier die produktive Kraft der Repression übersehen, oder aber die eine Kraft von der anderen fein säuberlich trennen?
Und um dem möglichen Reflex vorzubeugen, den Sadomasochismus kurzerhand aus dem Reich einer vermeintlich „eigentlichen Sexualität“ zu verweisen, sei gesagt, dass uns die Psychoanalyse mit Ödipuskomplex und Inzesttabu (zumindest in gewisser Lesart) ebenfalls nahelegt, dass alle Sexualität auf einem unentknüpfbaren Komplex aus Repression und Produktion beruht.
Noch eigentlicher dachte ich, ob nicht die Mechanismen und
Apparate der vielen SeelSorge, Unterdrückung, Umlenkung,
Kategorisierung, etc. der Sexualität nicht schlichtweg die
Prototypen dessen sind, was wir heute als Sexualforschung
kennen.
Da scheiden sich die Geister. Die körperfeindliche und
sexualfeindliche
Haltung der Kirche hat - da sind wir einer Meinung - die
Einstellung
des Menschen zu seiner Sexualität massiv beeinflusst.
Für mich stellt sich das Ergebnis dieser Einflussnahme aber
anders da:
Die Kirche dämonisierte die Geschlechtlichkeit des Menschen
und schuf seelische Probleme in einem Maße, das kaum
mehr erträglich war. Sie schuf damit viel Leid.
Anschließend trat sie seelsorgerisch auf und bot Lösungen an.
Sie gab sich sozusagen als Lösung aus.
Dabei war sie das Problem und nicht die Lösung.
Hier missverstehst Du mich!
Ich leugne nicht das Leid, das die Unterdrückung der Sexualität geschaffen hat, sondern behaupte, dass die Instrumentarien und Analyseschemata dieser Unterdrückung durchaus die Prototypen moderner Sexualforschung/-therapie sind (das intensive Befragen, die Katalogisierung der Lüste, die enge Verknüfung der Lüste mit dem Seelenheil; die gigantische -wenn auch negative- Beschwörung des Sexes; die Aufstöberung der Lüste noch im letzten Winkel der Seele, anders gesagt: Pansexualismus).
Ich würde hierbei also mehr Kontinuität sehen als radikalen Bruch; einen Bruch sicherlich, aber eben einen, der die „Spur“ der „christlichen Kirche“ weiterträgt, und eben das würde ich als deren „historisches Verdienst“ ansehen.
Viele Grüße
Franz