hm, schmunzel, war nicht meine Absicht Euch glauben zu lassen, ich würde mich wirklich fürs Rasieren schämen …
und da ich bei den drei Antworten glaube, dass es tatsächlich so aussehen muss, als ob das mein „Problem“ wäre - hier die Antwort auf Anjas Brief - damit ich nicht allen einzeln antworten muss.
…
Sagen wir so: Wenn ich wissen will, wie ein bestimmtes Insekt aussieht und „funktionniert“, dann lege ich es unters Mikroskop und stelle die Vergrösserung so ein, dass ich genau das sehe, worauf es mir in diesem Augenblick ankommt. Obwohl ich das Tier dann in 100-facher Vergrösserung sehe, springe ich nicht schreiend auf und glaube auch nicht wirklich, dass es in diesem Augenblick gewachsen ist.
Diese Vergrösserung ist auch eine Art von Übertreibung!
Genauso fühle ich mich nicht ständig von strahlenden Menschen umgeben, die aus dem Katalog entsprungen zu sein scheinen und mich verachten, wenn ich es nicht bin.
Ich glaube nicht, dass ich die einzige Vernünftige bin und um mich herum nur Zombies der Werbung wandeln.
Vielleicht ist es falsch rübergekommen, aber ich bin auch nicht auf der Suche nach einer allgemeingültigen „Normalität“ der ich mich anpassen könnte.
Es ist nicht mein Ziel, so zu sein wie „alle anderen“ (weil es so eine einheitliche Masse ja nicht gibt), und der Artikel ist kein Wehklagen darüber, dass mir der Zugang zum „Wir“ verwehrt würde.
Aber auf die Art, wie ich das Insekt unter dem Mikroskop betrachte (und dabei erscheint es wirklich als Monster), kritisiere ich doch die grosse Kluft zwischen lebendiger und konstruierter „Wirklichkeit“.
Gehe ich mal vom blöden Thema des Rasierens weg und nehme etwas anderes:
Schaut man sich mal ein paar Vorabend-Serien an, dann fällt auf, dass die Leute meist allesamt wunderschöne grosse Häuser haben, mit einer Einrichtung, die Otto-Normalverbraucher in zehn Jahren nicht abbezahlen kann. Und diese Leute sollen dann Lehrer oder Postboten darstellen.
Du kannst sagen: Aber jeder weiss doch, dass sowas nicht in Wirklichkeit existiert … naja, vielleicht auch nicht. Mich ärgert es enorm, wenn die Wirklichkeit nicht als schön und lebenswert dargestellt werden kann.
Mir kommt es vor, als entstünde auf diese Weise eine Art Parallel-Welt, in die alle Träume projiziert werden.
Nun habe ich wirklich nichts gegens Träumen, - aber ich finde es gefährlich, wenn ein Rückschlag erfolgt und dieser Traum als Idealbild vom wirklichen Leben verkauft wird.
Und mir erscheint es wirklich so, als klafften diese zwei Welten viel zu weit auseinander.
Beispielsweise denke ich, dass so viele Jugendliche meinen, im Laden klauen zu müssen, weil es als nicht „normal“ angesehen wird, nichts zu haben. Als asozial.
Und dass sich viele Kinder und Jugendliche mit ihrem Handy verschulden, weil es einfach so peinlich und unnormal ist, kein Geld mehr zum Telefonieren zu haben.
Habe mal eine Statistik darüber gesehen, wieviele Haushalte in Deutschland hoch verschuldet sind udn fand’s ziemlich schockierend.
Und da glaube ich halt nicht, dass man die Schuld daran nur dem Einzelnen zuschieben kann und ihn für schwach befindet, weil er sich von diesem Strom mitreissen lässt.
Sicher, wenn jeder sich dagegen stellen würde, dann würde der Strom sich auflösen - aber wir sind alle Menschen, und die Umgebung formt den Menschen.
Nein, das soll kein Wehklagen sein nach dem Motto " Ihr anderen seid alle Schuld, deshalb strenge ich mich gar nicht erst an", das meine ich nicht.
Ich betrachte das Insekt unter dem Mikroskop und halte es mit seinen hundertfach vergrösserten Stacheln in die Kamera - und weiss einerseits genau, dass es viel kleiner ist - und dass der Stich trotzdem ziemlich weh tun kann.
Und um zu wissen was und warum genau es schmerzt, platziere ich das Ding so unter dem Objektiv, dass der Stachel in diesem Moment am deutlichsten, am grössten und am wichtigsten erscheint.
Und danach verlasse ich das Labor, kratze mir den Stich und sehe mich nach einer Tasse Kaffee und ein paar Freunden um.
Viele Grüsse, Bettinas