Ideenlehre und heutige Naturwissenschaft
Hi Wolfgang,
die in deinem Link präsentierte Kurzfassung der Ideenlehre Platons ist reichlich „schief“ und teils sogar falsch. Daraus entsteht natürlich deine Fragestellung bezüglich heutiger Naturwissenschaft zurecht, aber sie ist weit weniger problematisch, als es dir erschienen mag.
Zunächst zu der Kurzfassung:
http://www.fb12.uni-dortmund.de/archiv/wtheorie/JPEG…
„Inhalt der platonischen Ideenlehre ist ein angenommenes Reich
immaterieller, ewiger und unveränderlicher Wesenheiten, der
Ideen (griech. éidos; idéa)“
Der Ausdruck „Wesenheiten“, mit dem gewöhnlich das griech. ta onta = die Seienden übersetzt wird (und oft auch die aristotelische ousia = 1. das Wesen (der Dinge), lat. substantia oder essentia, 2. das Ding selbst, Einzelding, lat. res …), führt hier in die Irre. Denn bei Platon ist die Idee (er verwendet idea recht selten, meist heißt es parádeigma, Paradigma, Muster) das eigentliche „Sein“ überhaupt. Und zwar im Unterschied zu den Dingen der „Welt des Werdens“, zu allem, was von uns heute als „Realität“ bezeichnet wird. Der Realität wird von Platon gerade „Nicht-Sein“ (me on) zugeschrieben. Er verwendet den Begriff „Sein“ also genau umgekehrt, wie er heute im Sprachgebrauch ist.
„Reich der Ideen“ nannte er es zwar manchmal, aber die Frage, ob Platon mit „Idee“ eine „EINE Idee“ gemeint hat, oder vielmehr eine MannigfaltigkeitTM von Ideen, ist nicht eindeutig klärbar. Er spricht eben teils von „DER Idee“ und teils von „DEN Ideen“.
"Ideen im Sinne Platons sind Urbilder der Realität, nach denen die Gegenstände der sichtbaren Welt geformt sind. Diese Ideen existieren objektiv, d. h. unabhängig von unserer Kenntnisnahme oder Gedankenwelt."
Auch schief. Die „Idee“ ist die Antwort auf die (bereits von Sokrates gestellte) Frage, woher wir unsere Begriffe haben. D.h. z.B. woher wissen wir so sicher, was „Tugend“, „Gerechtigkeit“ usw. ist, obwohl doch bei jedem konkreten Beispiel durch genaueres Nachfragen (→ sokratische Dialogtechnik) aufweisbar ist, daß wir es DARAUS gar nicht wissen können.
Die weitere Frage ist daher: Wie funktioniert Erkenntnis (über Einzeldinge - aus der Welt des Werdens)? Wie kommt es, DASS wir erkennen können?
Die (zuerst sokratische, dann platonische) Antwort lautet:
-
Die realen Dinge haben Teil an der Idee, sowohl in ihrer Existenz, also in ihrem (vorübergehenden) Sein überhaupt, als auch in den Eigenschaften, die sie zu dem machen, als WAS wir sie erkennen (Teilhabe- oder Methexis-Theorie).
-
Auch wir, die Erkennenden, haben Teil an der Idee, außer dem unter 1. Gesagten auch noch insofern wir in der „Seele“ noch eine schwache Erinnerung (anamnesis) an die Idee haben, aus der Zeit vor der Geburt, bevor sich die „Seele“ mit dem Körper vereinigte. Die Philosophen haben dabei eine etwas bessere Erinnerungsfähigkeit mitbekommen als normale Menschen 
Insofern ist es falsch, zu sagen, die Idee(n) existiere(n) unabhängig von unserer Kenntnisnahme. Vielmehr erkennen wir die Dinge gerade deshalb, weil wir ebenso wie die Dinge teilhaben an ihr, die Idee existiert also in unserem DA-Sein, ebenso wie sie in unserem SO-Sein präsent ist.
Um diese Theorie zu untermauern, läßt Platon einen Naturwissenschaftler (den Astronomen Tímaios) auf der Diskussionsbühne erscheinen, der seinerseits nun eine Theorie (natürlich Platons eigen) expliziert, wie der Weltschöpfer (demi-ourgos = Weltmacher) die Welt aufbaut: Indem er von der Idee aufgefordert wird, sie zu kopieren bzw. zu reproduzieren. Und zwar sukzessive so, daß das Geschaffene der Idee so ähnlich wie möglich wird. Die Idee wird in die Dinge hineingetragen und sie sind so, wie sie sind, WEIL sie eine Reproduktion der Idee sind.
Das ist natürlich keine naturwissenschaftliche Theorie im heutigen Sinne. Es ist vielmehr ein philosophischer Mythos - und Platon ist sich dessen voll bewußt. Das steht in dem zugehörigen Text auch drin.
Insofern ist „die Idee“ tatsächlich das Urbild („Paradigma“) des gesamten „Kosmos“, bzw aller Einzeldinge, die sich im Kosmos befinden. Aus anderen Schriften wiederum läßt sich entnehmen, daß Platon jedem Einzelding seine Idee zuordnet, so daß also im „Reich der Ideen“ (bei Platon ein explizit lediglich poetischer Ausdruck) eine MannigfaltigkeitTM von Ideen zu jeder Art von Dingen existiert. Der zugehörige Ausdruck eidos gewinnt in der Kritik des Aristoteles an der Ideenlehre später die Bedeutung „Form“ des Einzeldinges, an der man seine „Art“ erkennt (z.B. den einzelnen Stuhl aus dem eidos „Stuhl“). Allerdings ist die „Art“ (Spezies) bei Aristoteles nicht vorausgesetzt, sondern sie wird aus der MannigfaltigkeitTM der Einzeldinge abstrahiert.
Der platonische „eidos“ wird lateinisch mit „idea“ übersetzt, der aristotelische „eidos“ aber mit „species“ = die „Art“.
„Sie entspringen also nicht einer Setzung unseres Bewußtseins,
sondern werden durch dieses erkannt.“
Auch nicht korrekt. Sie sind zwar nicht vom Bewußtsein gesetzt (also „erfunden“), sondern in jedem Erkenntnisakt werden sie „wiedererkannt“. Sie sind IM Bewußtsein, aber zunächst „unbewußt“. Daher ist alle Erkenntnis (genauer: alle Wiedererkenntnis) der Möglichkeit des Irrtums unterworfen. Erst wenn die Seele sich wieder vom Körper getrennt hat, kann sie die Ideen wieder voll und ganz „sehen“, so wie sie in Wahrheit (aletheia = Unverborgenheit) sind.
„Deshalb läßt sich Platons Position als Objektiver Idealismus beschreiben.“
Der Ausdruck „objektiver Idealismus“ stammt von Hegel, und der meint damit genau die Voraussetzung Platons, daß der Idee allein wirkliches „Sein“ zukommt, den realen Dingen aber nicht.
"Daß wir trotz unterschiedlicher Gestalt von Fliege, Fisch und
Pferd all diese Einzelwesen als Tiere erkennen, läßt darauf
schließen, daß es ein gemeinsames Urbild „Tier“ gibt, das
allen Tieren gemein ist und deren Wesensform bestimmt. So ist
es die Idee des Tieres, die die unterschiedlichsten Organismen
erst zu Tieren macht."
Das ist eine Vermischung von Platon mit seinem Kritiker Aristoteles. Bei Platon erkennen wir das „Tier“ wegen der Idee „Tier“, das ist richtig. Aber wir erkennen das „Pferd“ wegen der Idee „Pferd“ und seine Mähne wegen der Idee „Mähne“. Die Unterscheidung von Einzelding, Art („species“) und Gattung („genus“) stammt erst von Aristoteles. Er geht umgekehrt vor: Die Bestimmung einer „Gattung“ kommt aus den „Arten“, die unter die Gattung fallen, durch Abstraktion der Eigenschaften. Und die Bestimmung der „Art“ kommt aus der Abstraktion der Eigenschaften der Einzeldinge. „Abstraktion“ heißt hier: Absehen von den Unterschieden, so, daß das Gemeinsame (eben die „Art“ bzw die „Gattung“) übrigbleibt.
Und ganu SO gehen die Naturwissenschaften vor.
Jetzt würde ich gerne wissen, ob es naturwissenschaftlich
(eindeutig belegbare!) Fakten gibt, die gegen diese Ideenlehre sprechen.
Nein. Wie oben ersichtlich, stellt die Ideenlehre überhaupt nichts dar, was einer naturwissenschaftlichen Verifizierung zur Verfügung steht. Sie kann methodologisch weder bewiesen, noch widerlegt werden. Sie hat schlicht mit naturwissenschaftlichen Fragestellungen keinen Berührungspunkt.
Die Fragestellung (deine) könnte höchstens daraus resultieren, daß man das „Sein“ der Idee(n), also ihren „ontologischen Status“, mit dem „Sein“ materieller Objekte (genauer: mit „Observablen“, also beobachtbaren Größen oder Entitäten) verwechselt. Der Sprachgebrauch („ist“, „es gibt“ , „existiert“) legt diese Kategorienverwechslung nahe. Aber das platonische „Sein“ der Ideen steht ja in Opposition zum „Nicht-Sein“ der realen, physikalischen Objekte. So ist halt Platons Begriffsbestimmung und Sprachgebrauch.
Aber kein Naturwissenschaftler würde doch - in seinem Sprachgebrauch - heute sagen, sein Beobachtungsgebiet sei Nichtseiendes 
Daran sieht man, daß unter Berücksichtigung des Unterschiedes im Sprachgebrauch bzgl. des Begriffs „existiert“ die physikalische Variante von der platonisch-philosophischen unterschieden werden muß. In diesem Falle gilt für die NW, daß umgekehrt soetwas wie „Ideen“ (im platonischen Sinne) keine „Existenz“ zukommt. Es sind dieselben Wörter, aber verschiedenn Begriffe. Es gibt an den Ideen gar nichts, was durch psysikalische Methoden bestätigt oder widerlegt werden könnte. Die Ideenlehre ist im heutigen physikalischen Sinne nicht einmal eine „Hypothese“.
Wenn die Naturwissenschaftler im Allgemeinen diese Ideenlehre verwerfen
Tun sie ja nicht. Die Ideenlehre interessiert die Naturwissenschaften schlicht gar nicht.
dann würde ich gerne wissen, wie sie das
Zustandekommen der unterschiedlichen Wesenheiten der Dinge
erklären und wieso der Mensch fähig ist, die Dinge gemäß ihrer
Ur-Idee (!) zu erkennen. Denn das kann wohl nicht als
selbstverständlich angenommen werden.
Diese Frage ist gut, aber sie ist nicht einfach zu beantworten. Im Grunde machen zumindest die physikalischen Naturwissenschaften etwas, das der Ideenlehre nicht ganz unähnlich ist: Die Physik arbeitet mit „Observablen“, Beobachtungsgrößen, und diese Observablen sind „quantiative“ Größen (die Präzisierung zwischen „Quantität“ und „Qualität“ und auch anderen für die Physik wesentlichen Kategorien wurde erst durch Aristoteles ausgearbeitet!). Quantitative Größen, überhaupt quantifizierbare Objekte bzw. Begriffe sind mathematisierbar, und darauf kommt es der Physik an.
Und das ist die „Metaphysik“, die auch der Physik eigentümlich ist, daß sie den Erkenntnisgewinn aus der Korrespondenz zwischen mathematischen Objekten (Gleichungen, Formalismen verschiedener Art - das genauer auszuführen würde hier den Rahmen sprengen) und beobachtbaren Objekten (Prozesse, Entitäten …) sucht. Wenn materielle Prozesse sich so verhalten, wie es ein ggf. gefundener mathematischer Kalkül vorgibt, dann ist das 1. die Bestätigung für die Korrektheit des math. Kalküls und 2. für die „Existenz“ des Beschriebenen. Das Kriterium ist die Vorhersagbarkeit von etwas Existierendem aus dem Kalkül. Etwas Materielles ist genau dann „verstanden“, „erkannt“, wenn es so ist, wie ein mathematischer Algorithmus vorgibt.
Also geht es auch hier um die Übereinstimmung des Reellen, Materiellen, mit etwas Ideellem, denn das Mathematische „existiert“ nur im Denken. Und genau diese Übereinstimmung, Korrespondenz, liegt auch, wie oben beschrieben, der Ideenlehre zugrunde.
Könnte es nicht so sein wie Platon es annimmt, dass die Ideen
schon seit Ewigkeit bestehen und sich die Dinge erst im Laufe
der Zeit gemäß diesen Ideen in der realen Erscheinungswelt
manifestiert haben?
In diesem Sinne, wie gerade geschrieben, könnte man das durchaus so sagen: Die Mathematik denkt sich selbst so, daß sie nicht eine Folge der materiellen Strukturen des Universums ist, sondern davon unabhängig ist. Mathematik ist das Logische. Das Logische hängt nicht von der Zeit ab, ist daher „ewig“ - wie die Ideen. Mathematik schließt den Widerspruch aus, etwas Widersprechendes kann nicht „sein“. Daraus folgt, daß die Natur, Kosmos, Materie, mathematisierbar sein MUSS = daß eine mathematische Korrespondenz auffindbar sein MUSS. Das ist die Voraussetzung, ohne die physikalische Forschung sinnlos wäre.
Die „innere Logik“ der Materie wird ja durch Naturgesetze bestimmt. Naturgesetze sind aber mathematische Formalismen (zumindest kann man sie alle in solche „übersetzen“ und andere Formalismen folgen - logisch - aus ihnen).
Was war zuerst da? Die Ideen und mithin die Wirklichkeit und
das Wesen der Dinge oder die zufällig so entstandene Realität
in der konkreten Erscheinungswelt, aus der sich der Mensch
dann im Nachhinein das Urbild gedacht hat (sozusagen als
abstrahierte Vorstellung, als Ur-Idee)?
Diese Frage, ob das Logische, die Idee, das Ideelle primär ist (→ Idealismus) oder das Reale, Materielle (→ Materialismus), das wird/wurde gelegentlich als „die Grundfrage der Philosophie“ bezeichnet. Alle bisherige Philosophie kommt zu dem Ergebnis, daß diese Frage unentscheidbar ist (es gibt btw. allerdongs auch philosophische Richtungen, die diese Frage generell für unsinnig halten).
Ich selbst sehe sie nicht als unentscheidbar an: Die Physik selbst zeigt (und hat es sogar als Voraussetzung für physikalisches „Erkennen“), daß das Mathematisch-Logische die Kriterien für die Widerspruchsfreiheit der Materie liefert, und: Es ist zeitlos - im Unterschied zu allen heute bekannten physikalischen Entitäten und Prozessen (alles ist Produkt von Entwicklungsprozessen - nicht nur in der Biosphäre). Und in jeder Entwicklung ist Logik vorausgesetzt - schon im Begriff „Entwicklung“ selbst. Das gilt auch, insofern noch bei Weitem nicht alle Entwicklungen „verstanden“ sind.
Der oeben erwähnte Text von Platon, in dem „Tímaios“ die Weltentstehung erklärt, hat btw. ebenfalls einen Ansatz, in dem die Anfänge des Kosmos aus gewissen mathematischen Strukturen kommen. Dies, obwohl Platon mit „der Idee“ bzw. „den Ideen“ keineswegs die Mathematik oder die Logik meint (die es zur Zeit Platons noch gar nicht gar).
Gruß
Metapher