Hallo,
dass man bei der
Interpretation die Biografie des Verfassers und die
Zeitgeschichte einbeziehen muss?
Nur mal zum Anfang ein paar ganz flapsige Beispiele:
Wie willst du denn ein Barockgedicht beurteilen, wenn du nicht weißt, wann und was das Barock war.
Wie willst du ein Kriegsgedicht interpretieren, wenn du nicht weißt, ob es um den dreißigjährigen, den siebenjährigen oder den großen vaterländischen Krieg (das ist ein Teil des 2. Weltkriegs aus sowjetischer Sicht) handelt.
Ich kann dir nicht sagen, ob es eine zweite „Lehrmeinung“ gibt, aber ganz sicher ist, dass zu einer Interpretation nicht nur die Eckdaten des Autors gehören, sondern dass in jedem Fall auf die Umstände (dazu gehören z.B.politisches Umfeld, das Liebesleben, Krankheiten, psychische Befindlichkeiten, e.a.) unter denen ein Gedicht entstanden ist, eingegangen wird.
Ferner auf die Entstehungszeit des Gedichtes, mögliche verschiedene Fassungen, warum es z.B. mehrere Fassungen gibt (das z.B. hat oft/meist mit der Biographie des Autors zu tun),
die äußere Form (sagte ich schon), die oft mit der Biographie verbunden ist - unter dem Einfluss von Reisen z.B. haben Dichter für sie neue Versformen gefunden.
Ebenso gehört der geschichtliche Hintergrund der Epoche, in der ein Gedicht geschrieben wird, dazu.
Gedichte sind oft hermetische, gleichsam verschlüsselte Texte, die man im Ernstfall Wort für Wort untersuchen muss. Das wiederum geht nur mit genauer Kenntnis nicht nur der äußeren Stilmittel, sondern eben auch mit möglichst vielen „Hintergrundinformationen“.
Ich könnt’ noch weiter schreiben, aber ich glaube, das wird dann zu lange.
Ich bin also, wenn du so willst, an der
Wissenschaftsgeschichte interessiert.
Was verstehst du, bitte, in diesem Zusammenhang unter „Wissenschaftsgeschichte“
könntest du eine
Quelle nennen, wo ich das nachlesen kann? Das wäre super!
Es gibt jede Menge Bücher über Gedichtinterpretationen, jede Menge Dissertationen, die Interpretationen zum Thema haben. Die meisten Bücher findet man im gut sortierten Buchhandel, schriftliche Arbeiten in Bibliotheken. Da muss man sich halt durchlesen:smile:)
Auch im Netz findet sich genug Information.
Und es gibt tonnenweise Sekundärliteratur zu den großen Dichtern, die sich mit fast nichts anderem beschäftigen, als mit den biografischen Umständen unter denen die Werke entstanden sind. Die Leutln schreiben das nicht aus Jux und Tollerei:smile:)
Und hast du je gehört oder gelesen, dass die entgegengesetzte
Ansicht in Lehrbüchern vertreten wurde?
Nein, das habe ich nicht, aber das sagt ja noch nix:smile:)
Ich wie gesagt ja, in
den 80er Jahren im Gymnasium
Gedichtinterpretationen wurden immer schon sträflich vernachlässigt…finde ich.
Weil ich die Frage aber interessant finde und der Meinung bin,
dass DIESE Frage viel mit Zeitgeschichte zu tun hat
Was verstehst du in diesem Zusammenhang unter „Zeitgeschichte“?
Ich nehme an, du meinst „Geschichte der Zeit (in der ein Gedicht entstanden ist)“ - das ist etwas anderes als Zeitgeschichte.
Vielleicht erklärt ein Beispiel (nicht gerade das beste, aber ich habe gerade, aus ganz anderen Gründen, Heine gelesen) besser, was ich meine.
Heinrich Heine
Wahrhaftig, wie beide bilden
Ein kurioses Paar,
Die Liebste ist schwach auf den Beinen,
Der Liebhaber lahm sogar.
Sie ist ein leidendes Kätzchen
Und er ist krank wie ein Hund,
Ich glaube, im Kopfe sind beide
nicht sonderlich gesund.
Sie sei eine Lotusblume
Bildet die Liebste sich ein;
Doch er, der blasse Geselle,
vermeint der Mond zu sein.
Die Lotusblume erschließet
Ihr Kelchlein dem Mondenlicht.
Doch statt des befruchtenden Lebens
Empfängt sie nur ein Gedicht.
wie würdest du das interpretieren?
Und würde sich deine Interpretation nicht enorm erweitern, wüßtest du, dass Heine zu dem Zeitpunkt, als es das schrieb, ziemlich über fünfzig Jahre alt war, schwerkrank, meist bettlägerig und sehr oft von der 27jährigen Elise Krinitz besucht wurde.
Kannst du mit diesem Wissen jetzt nicht besser erkennen, was mit Mond und was mit Lotosblume gemeint ist, wieso es um einen „lahmen Liebhaber“ und um ein „kurioses Paar“ geht.
Also ganz abgesehen von Lehrmeinungen und ob biografische Informationen sein müssen - ich finde, sie bereichern und beleben unser Verständnis von Poesie und gerade dieses „Hintergrundwissen“ macht sie, die Poesie - jenseits von intuitivem Verstehen - .so spannend.
Ob es andere „Lehrmeinungen“ gibt, darüber mögen dir die Literaturwissenschaftler unter den Forumsteilnehmern Auskunft geben.
Gruß, Maresa