Ist Borderline cool?

Hi martys,
ich habe in den letzten Jahren pädagogisch & medizinisch mit Jugendlichen gearbeitet und ähnliche Beobachtungen gemacht. Auch meiner Beobachtung nach gilt es als chic, seinen Körper zu drangsalieren. Piercings und Brandings sind ja ähnliche Phänomene (auch wenn Schubladen-Denker mir sicher widersprechen). Die umgangssprachliche „Magersucht“ (nicht die klassische Bulimie!) ebenfalls.

Vielleicht ist die Sucht nach diesen Körpermodifikationen eine Rückbesinnung auf Stammeszeichen? Mit Sicherheit der Wunsch aufzufallen, obwohl es sich bei den Steißbein-Tattoos ja schon umgekehrt hat - heute fällt man ja auf, wenn man keines hat :smile:

Den heiligen Eifer, den „Psychologen“, die glauben, es sei ein Sakrileg, auch mal zu lächeln oder selbst Emotionen zu zeigen, an den Tag legen, bewirkt meiner Meinung nach nur, daß sich viele Patienten gar nicht trauen, gesund zu werden, weil sie ihrem Therapeuten nicht seine Wichtigkeit abzusprechen wagen.

MfG

Tai

Hallo Frank,

Es scheint, wenn mann das liest

http://www.planet-vig.de/blog/item.php?i=288, dass der Trend,

den marty ausmachen wollte, sich zumindest im Internet
bestätigt.

der Link ist selbstverständlich bereits unter diesem Gesichtspunkt ausgewählt, von daher als Trend-Messer unbrauchbar …

Genau das war aber meine Aussage. Wir können nicht jeden
zwangsläufig als Borderliner bezeichnen, der sich so verhält.

Klar

Das manche auf den Zug aufspringen, um mehr Coolness zu
erlangen, trifft vielleicht zu. Sie aber dann als eine
Randgruppe, als Hopper, als Halb-Borderliner oder sonst was
einzustufen- dagegen wehre ich mich

Das ist der Punkt unserer beider unterschiedlicher Lesarten von Martys Posting; Dir geht es um „diagnostische“ Einschätzung, mir geht es um Fremd- und Selbsteinschätzung, um „Impression Management“;

und genau hier hilft der
ICD- nämlich eben eindeutig zu sagen: hier liegt
offensichtlich eine ANDERE Psychische Erkrankung vor- welche
auch immer.

keine Frage, das ist korrekt!

Ich erlebe gerade in der Psychiatrie und im Umfeld der BLin-
Patienten Reaktionen wie: „Das ist ja alles gar nicht so
schlimm, das macht doch heute jeder.“ Die Form von Martys
Anfrage hier hat dies nochmal unterstrichen-

Dein Erlebnis spricht aber gerade für Martys These der „Coolness“ von BL

Es entsteht der
Eindruck, dass ein paar hirnlose, geistig-unreife Halbwüchsige
„spielen“

Tun sie so gesehen auch, also nicht die „wirklichen“ BL, sondern die „Mode-Ritzer“, die eben so tun also ob, anders ausgedrückt „spielen“ …

dass diese „Spieler“ nun hirnlos sind, hat ja m.E. keiner gesagt, sondern Martys hat meiner Lesart nach ein gesellschaftliches Phänomen „BL spielen“ benannt und für „uncool“ befunden.

Dass dieses Phänomen existiert glaube ich auch, kann allerdings nicht einschätzen, wie weite Kreise es tatsächlich zieht, zumal eine „Internetrecherche“ dabei nicht allzu viel leisten kann.

„Das alles kann man ja nicht ernst nehmen“
Das hat auch meine Aufregung verursacht.

Sehe ich wiederum anders; man kann das „BL spielen“ unter klinisch-diagnostischen Gesichtspunkten selbstverständlich nicht „ernst nehmen“, weil es eben nur „Spiel“ ist;
man muss dieses Phänomen „BL spielen“ aber unter sozialpsychologischen Gesichtspunkten selbstverständlich ernst nehmen, weil es aus dieser Perspektive betrachtet eben kein Spiel ist.

Ich will und kann nicht für Martys sprechen, aber m.E zeigen seine zynischen Kommentare dazu ja gerade, dass er das Phänomen ernst nimmt …

Hier schreien Jugendliche um Hilfe und weil Blut nun mal für
die größte Aufmerksamkeit sorgt, muss eben geritzt werden,
damit man die nötige Aufmerksamkeit bekommt. So wie
Suchtkranke um Hilfe rufen, wenn sie konsumieren- es ist die
Verzweiflungstat aus einer Situation keinen AUSWEG zu finden.
Das ist BEÄNGSTIGEND.

Richtig;

Noch BEÄNGSTIGENDER aber ist, dass
versucht wird, diese Menschen in eine Kategorie der
„nicht-ernst-zunehmenden SVletzer- die auf Borderliner machen“
einzuordnen. Das hat genau den Effekt, der eigentlich NICHT
erreicht werden dürfte.

naja, wie Du oben ja am ICD ausgeführt hast, ist es klinisch-diagnostisch halt korrekt, dass die „Mode-Ritzer“ nicht das sind, was sie zu sein vorgeben.

Dass sie aus anderer Perspektive betrachtet u.U. Hilfe bedürfen, widerspricht dem ja nicht.

Die tatsächlich immer stärker anwachsende Zahl
behandlungsbedürftiger Bliner wird durch solche Aussagen, wie
sie marty, vielleicht ungewollt hier gemacht hat, leider in
Frage gestellt.

Sehe ich nicht so!

Nehmen wir nur mal den Bereich Sucht: Ich selber bin in den
70er und 80er Jahren häufig als Patient in der Psychiatrie
gewesen. Ganz vereinzelt ist mal jemand aufgefallen mit einer
solchen Doppel-Diagnose. Wenn ich heute das selbe Krankenhaus
besuche, die selben Stationen, dann ist festzustellen, dass
beinahe jeder 5 Patient in der Altersgruppe 14-18 Jahre diese
Diagnose hat. Das sind keine Patienten, die auf diesen Zug
„aufhoppen“ Diese Entwicklung ist einfach so.

Glaub ich Dir!

Fazit: Wir haben nicht nur eine stark anwachsende Anzahl an
Menschen mit BPS, sondern jede Menge ernst zu nehmender
Jugendlicher, die sich anscheinend sehr schwer damit tun, in
unserer Gesellschaft klar zu kommen. Hier MUSS man sehr
differenziert unterscheiden!

Genau meine Meinung!

Viele Pfingstsonntagsgrüße zurück!
franz

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Hallo Tai

Wovon redest du jetzt eigentlich?

Von „normalen“ Jugendlichen, die ins staatlich geprüfte, medizinisch einwandfreie Piercing/Tatoostudio gehen, um sich zu schmücken, die die Brigitte-Diät machen und ins Fitnisstudio rennen, um dem gerade angesagtem Modeltyp zu ähneln(worüber ich auch - in Abstufungen - lächeln kann)oder von PATIENTEN, die bei Psychologen sitzen, die, wenn sie sich so verhalten, wie du sie darstellst, dringend eine Supervision brauchen.
Vielleicht sind die Psychologen, die du erlebst, auch nur deswegen so emotionslos, weil sie tagtäglich mit schrecklichen Sachen konfrontiert sind und einfach abschalten, um sich zu schützen?

Ich könnte zudem einem Psychologen, der milde lächelt, wenn er durch Zigaretten selbst zugefügte „Brandingwunden“, oder Arme/Beine mit durch Rasierklingen erzeugtem Netzmuster erblickt, nicht viel abgewinnen.
Auch eine Magersüchtige, die immer weniger wird und vielleicht den Zeitpunkt verpasst, wo der Hungerprozess noch umkehrbar ist und die dann ganz uncool krepiert, finde ich nicht witzig, da verliere ich meinen Humor gänzlich und betone doch gerne nachdrücklich die WICHTIGKEIT von Therapie.

Die Therapeuten, die gut arbeiten(können), zeigen im Übrigen sehr wohl der Situation angemessene Emotionen, weil die Patienten eben genau dazu oft nicht fähig sind.
Und zwar die ganze Palette von Trauer zu Freude.
Freude bei lebensbejahenden, gesunden Impulsen und Trauer bei schädigenden und zerstörerischen Handlungen. Klar, oder?
Und es kann auch durchaus mal Grund zur Freude sein, wenn jemand es schafft, unkontrolliertes Schneiden z.B. durch Besuche im Piercingstudio zu ersetzen.

Ich kenne eine Frau, die sich bei jedem heftigen Einnerungsschub an ihren sexuellen Missbrauch ein Tattoo oder Piercing machen lässt.
So richtig ungetrübte Freude kommt da bei mir aus persönlichen Gründen zwar nicht auf, aber es ist immer noch besser als „Ritzen“, was in seiner extremen Ausprägung von niemandem mehr als cool empfunden wird, sondern ein zusätzliches Stigma inklusive Selbstabwertung bedeutet und nahezu immer versteckt wird.

So aber kann diese Frau ihre inneren Verletzungen in einer gesellschaftlich akzeptierten Form sogar vorzeigen, tut ihrem Körper und ihrer Seele etwas Gutes indem sie sich schmückt und unterbricht den Kreislauf…SVV, Schuldgefühle/Selbstentwertung, Isolation, Druckaufbau, SVV…
DAS emfinde ich als cool und sehe es als einen kreativen Versuch mit heftigen Gefühlen konstruktiv umzugehen.

Ich finde sowieso, sich zu zeigen und auch mal „aufzufallen“ ist für sich genommen erstmal ein sehr gesunder und notwendiger Prozess für das menschliche Miteinander und die Selbstfindung.

Und mal so ganz nebenbei, jemand der piercing&Co als Drangsal *lächel* bezeichnet oder empfindet, ist vermutlich gesund - was mich wirklich für dich freut - und hat zum Glück keine Ahnung von den physischen und psychischen Schmerzen, die oft hinter der SVV-Problematik stecken.

Gruß
Anna

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