Ist das Hesse - Gedicht heute aktueller denn je?

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

(4. Mai 1941)

Hermann Hesse

Jo, ist Hesse
https://hhesse.de/gedichte/stufen/ ramses90

Die Frage war aber: Ist das Gedicht imm 21. Jhdt. aktuell?

Vielleicht machst Du uns erst einmal mit Deinen Überlegungen vertraut, die Dich zu Deiner Frage veranlassten.

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ich habe das dieser Tage auf Deutschlandfunk/Radio gehoert. Da meinten sie, es wuerde gut in die Gegenwart passen. Ich dachte, vielleicht weiss hier jemand was dazu…

Grussssss

Hi,

werden wir weiterhin älter? Sollte man auch im 21. Jahrhundert akzeptieren, dass man mit 80 anders ist als mit 18? Sollte man auch im 21. Jh an keinem Alter und keiner Zeit „… wie an einer Heimat hängen“? War es zu Hesses Lebenszeit weniger oder mehr wichtig, uns vom Weltgeist „nicht fesseln“ zu lassen, sondern sich „Stuf’ um Stuf’ heben“ zu lassen? Oder sinken wir wieder auf die Zeit vorher zurück, weil uns da oben schwindelig geworden ist und wir ohne Tapferkeit und in Trauer erschlaffen und fürchten, dass es nichts gibt, was uns beschützt?

die Franzi

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Moin,

mit Verlaub, manchmal tragen selbst Leerzeichen zur Verwirrung bei. Mit Bindestrich wäre da Hesse-Gedicht zu lesen gewesen, Deine Leerzeichen machen daraus einen Gedankenstrich.

Gruß
Ralf.

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Schön, hallo,
es ist gültig wie eh und je, aber nicht für alle.
Mich berührt es sehr, bestätigt die Vergangenheit und gibt Kraft für die nächste Stufe, den nächsten Raum. Wohl wenn der alte Baum sich nicht mehr verpflanzen lassen wollt, so wurd er zu Kohle und vielleicht noch zu einem Diamant, nun erst gehn die wahren Schmerzen los, er wird geschliffen. Und wähnte er sich nach dem ersten Schliff schon als Brillant, ach.
Wie oft noch?
Frage den Großen Geist.

Dieses Gedicht ist für die, die an es glauben.

LG
Wieland

Danke! Ja - es ist dann zeitlos,
wenn die Menschen Hesse fuer sich so interpretieren, dass es ihnen hilft.
Wann man, nach vielen, sehr vielen Stufen, als Diamant gelten kann…
Der eine faellt die Stufen dauernd runter, der andere hoch.

Hi,

die Stufen sind nicht Erfolg oder Misserfolg. Darum geht es in dem Gedicht nicht. Es geht um Zeit. Gleich im zweiten Vers wird Lebensstufe gesagt, in einer Aufzählung mit Alter und Jugend, und diese (Lebens)stufen, also Alter und Jugend, blühen, welken und dürfen nicht ewig dauern. Das Gedicht fordert einen auf, diese Veränderungen zu akzeptieren, weil sie zum Leben dazugehören. Jugend gehört dazu mit ihrer Schönheit und ihrem Leichtsinn, und sie geht vorbei. Das muss akzeptiert werden (es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne). Die Lebensmitte bringt genug Erfahrung, um die Leichtsinnigkeiten der Jugend zu vermeiden, aus dem Gelernten zu profitieren, muss aber akzeptieren, dass die unbegrenzte Kraft, die ungebremste Energie, die Sorglosigkeit der Jugend weg sind. Das Alter muss akzeptieren, dass Kräfte schwinden, Mängel aber durch ERfahrung und Ruhe kompensiert werden können - und das Alter muss akzeptieren, dass an seinem Ende der Tod steht.
Das GEdicht ruft uns auf, den Zauber jeder Lebensphase zu genießen, wenn er da ist (Schönheit, volle Kraft, Weisheit), aber nicht an ihnen hängenzubleiben und sich von ihnen einengen und fesseln zu lassen - wir kennen ja alle Beispiele für Erwachsene, die nicht begreifen, dass sie keine Jugendlichen mehr sind, alte Menschen, die nicht akzeptieren können, dass sie alt sind, … Kinder, die erwachsen spielen, wirken immer albern, weil es nicht passt.
Und was das Wort „heben“ soll im Gedicht? Wir werden nicht nur älter, sondern wir lernen auch immer etwas dazu, und das hebt uns. Auch ein Fehler und ein Misserfolg und ein Scheitern sind Zeichen dafür, dass man etwas gelernt hat.
Deswegen ist das Gedicht zeitlos: es geht nicht um den umgang mit und das Erreichen von Erfolg. Es geht um Zeit, es geht um das Erwachsenwerden, Älterwerden, Altern und Sterben.

die Franzi

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Sehr schoen interpretiert Franzi.
Ja - das koennte Hesse genauso gemeint haben !

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Und HIER https://www.deutschlandfunkkultur.de/alter-und-veraenderung-ganz-schoen-alt.2147.de.html?dram:article_id=329014 das Thema, was Franzi angeschnitten hat - und Hesse …

Deswegen sage ich, es ist für die, die den tieferen Sinn erkennen und diesen teilen, indem sie Hesses Glauben teilen.
Er glaubte an ein Leben nach dem Tod, an eine Art Wiedergeburt, er glaubte an Gott.
Es gibt die Tendenzen der Materialisierung und Verweltlichung der Gedichte.
So werden Gedichte zerredet.
Aber bitteschön, das ist ja nicht verboten. So trifft das Gedicht auch zu, denn jeder liest es auf seiner erreichten Stufe.