Ist der existenzialismus humanistisch?

Aus Sartre wird mir klar dass jeder selbst für seine Entscheidungen verantwortlich ist und seiner Existenz selbst Essez geben muss.
Das bedeutet ja aber jeder macht was ER für richtig hält??daraus folgt doch anarchie und dem zufolge ist existenzialismus nicht humanistisch!!
Jedoch gibt es diesen Artikel über den Blick des anderen. Entscheided jemand etwas muss er dafür verantwortung tragen. wie ist das aber mit dem blick des anderen gemeint?? ich habe das so verstanden, dass man selbst nur so handeln darf dass man sich im blick des anderen gut fühlt praktisch. Also das man dem Blick des anderen stand hält. wäre dies der fall, wäre die Freiheit doch eingeschränkt weil man so handelt wie andere es möchten oder??
Verstehe ich hier was falsch?

hi nochmal,
ich denke, dass es so ist, dass der andere die grenzen der eigenen freiheit aufzeigt. jedoch nicht unbedingt darin, dass man nach fremden willen handeln soll oder muss, sondern dass die erfahrung von freiheit die erfahrung von nicht-freiheit voraussetzt. wie könnte man sonst den unterschied erkennen.
die freiheit des anderen ist notwendig, um überhaupt eigene freiheit erfahren zu können und gleichzeitig begrenzt der andere die eigene freiheit.
in der schrift „l’existentialisme es tun humanisme“ beschreibt sartre den menschen als seien eigenen schöpfer. er entwirft sich selbst durch seine taten und sein leben ist nichts anderes als die gesamtheit seiner handlungen. sartre zitiert dazu auch goethe: „Im Anfang war die Tat“.
ich denke, sartre meint mit ‚humanismus‘, dass der mensch sich durch sein handeln selbst entwirft. er ist sozusagen ‚menschengemacht‘. irgendwo hab ich das auch mal gelesen, komm aber gerade nicht mehr drauf.
viele grüße
jessica

Es geht um die reine Entscheidung. Wie ich handle, so entscheide ich mit in dem Moment und muss auch dementsprechend die Folgen drangen!

Mit Falsch und Richtig hat dies zunächst nichts zu tun. Meine Entscheidung mag zwar für mich „richtig“ sein, doch natürlich sind mir Grenzen gesetzt (durch Gesetze; Regeln usw.). Demnach kann man nicht von Sartre auf Anarchie sofot schließen!

Hegel, Kojeve, Sartre und der Blick des Andern
Hi Sunshower.

Das bedeutet ja aber jeder macht was ER für richtig hält??daraus folgt doch anarchie und dem zufolge ist existenzialismus nicht humanistisch!!

Eben nicht, wenn man berücksichtigt, dass für Sartre - wie für jeden vernünftigen Menschen - die Freiheit des Menschen da endet, wo die des anderen beginnt. Darauf hat auch dybajes schon hingewiesen.

In Das Sein und das Nichts schreibt Sartre:

„Wenn wir sagen, daß der Mensch für sich selbst verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, daß der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern daß er verantwortlich ist für alle Menschen.“ (S. 12)

Trifft ein Mensch A eine Entscheidung, dann macht er das exemplarisch für a l l e, nicht nur für sich. D.h. er setzt mit einer Entscheidung einen Wert, der für alle verbindlich ist (bzw. sein sollte). Im Falle einer antisozialen Entscheidung bedeutet das, dass A auch dem Andern B das Recht zubilligt, gegen ihn, A, antisozial zu agieren. So würde Freiheit potentiell in Unfreiheit umschlagen, nämlich in den Kampf von A und B auf Leben oder Tod.

Also wird A vernünftigerweise eine Entscheidung treffen, die als Maxime für alle gelten könnte (siehe Kant).

Allerdings verpflichtet ihr kein moralisch/ethisches Gesetz dazu. Er ist also frei, sich so oder so zu entscheiden. Und verantwortlich für die Folgen.

wie ist das aber mit dem blick des anderen gemeint??

Das geht alles auf Hegels Dialektik von Herr und Knecht (PhdG) zurück, die von Alexandre Kojeve Anfang der 30er in Paris den dortigen Intellektuellen, darunter Sartre und Jacques Lacan, vermittelt und gedeutet wurde. Auch Lacan bastelte daraus einen wichtigen Baustein seiner Lehre der Intersubjektivität.

Bei Hegel kämpfen zwei Subjekte um die Anerkennung seites des Andern. Derjenige gewinnt, der sein Leben für diesen Zweck riskiert. Er darf aber den Unterlegenen, den Knecht, nicht töten, da sonst keiner mehr wäre, der ihn, den Herrn, anerkennt. Kojeve hatte das noch verschärft und gelehrt, dass die Begierde nach Anerkennung durch ein anderes Subjekt ein wesentliches Bedürfnis des Menschen sei und dass sich der Mensch als sich seiner selbst bewusstes Subjekt erst so herausbildet. Sartre und Lacan nahmen diese Anregung eifrig auf.

Für Sartre bedeutet der Blick des Andern, dass das Ich, zuvor seiner selbst nicht bewusst, einerseits die eigenen Subjektivität erfährt (es merkt sozusagen, dass es existiert) und andererseits zum Objekt wird, da der Andere durch seinen Blick selbst in die Rolle des Subjekts gerät.

So wird das Ganze dialektisch: ich bin Subjekt, weil ich ein Objekt bin. Ohne den Andern bin ich Nichts, denn nur er erkennt mich als Subjekt an.

Das bedeutet eine Dezentrierung des Subjekts: es weiß, dass auch andere Menschen Subjekte sind, die ihre eigene Sicht auf die Welt haben. Das relativiert die eigene Sicht, und so gerät man in Konkurrenz zu den Anderen.

Das Subjekt ist also nur, wenn es sich im Andern spiegelt. Das begrenzt seine Allmacht und stattet den Andern mit Macht aus (über das eigene Selbst).

„Die Erscheinung des Andern in der Welt entspricht also einem erstarrten Entgleiten der Welt, die die Zentrierung, die ich in derselben Zeit herstelle, unterminiert“ (Das Sein und das Nichts, S.461f.).

Horst

Hi,

nun gebe ich auch noch schnell meinen Senf dazu:

Meiner Meinung nach (völlig subjektiv) ist der Existenzialismus sehr psychologisch, vielleicht sogar ausschließlich psychologisch geprägt.

Und Satres Behauptung, dass es so etwas wie einen Existenzialismus gäbe, ist ja ihrerseits durch und durch subjektiv.

„Der Blick des anderen“: Das hab ich selber auch nie so richtig auf die Reihe bekommen, was aber natürlich nix heißen will :smile:

Jeder Mensch kann sich zwar ausmahlen, wie er eine bestimmte Situation an Stelle eines anderen bewerten würde, aber dies ist letztlich nur eine Annahme über die Sichtweise eines anderen, die zudem nicht ohne weiteres verifizierbar ist und falls es gelingen würde, wäre dies in der nächsten Sekunde bereits wieder obsolet.

In der Praxis würde dies bedeuten, dass ich durch konkrete Befragung aller Menschen abgleichen müßte, ob die vermutete Fremdwahrnehmung bezüglich meines Erscheinungsbildes, meiner Aussagen oder Handlungen mit der tatsächlichen Fremdwahrnehmung durch jeden einzelnen Menschen übereinstimmt oder nicht.

Das dürfte nicht möglich sein.

LG Rolo

Highlander und der Blick des Andern
Hi Rolo.

Ich denke, der Knackpunkt beim „Blick des Andern“ liegt in der Dialektik von Subjekt und Objekt und dem daraus resultierenden Kampf um Anerkennung. Wird A vom B angeblickt, empfindet A sich als Objekt des Subjekts B. Damit ist A in einer unterlegenen, weil abhängigen Situation. Die Würde seines Subjekt-Seins ist gefährdet. Allerdings, wie ich an anderer Stelle schrieb, wird A gerade durch den Blick von B zum Subjekt, also zu einem Bewusstsein, das sich seiner selbst bewusst ist.

Das ist ein Dilemma. Einerseits gefährdet B die Dominanz von A, andererseits braucht A den B, um überhaupt als Subjekt anerkannt zu sein.

Da das gleiche Dilemma auch umgekehrt besteht (von B zu A), kommt es zum Konflikt, offen oder latent.

Denn A und B projizieren gleichzeitig Erwartungen und Vorurteile auf den anderen, was nicht selten so weit geht, dass Sartre schreiben kann: „Die Hölle, das sind die Anderen.“

Subjekt-Sein - das ist quasi ein Ausschließlichkeitsstandpunkt. Der Andere gefährdet durch seinen Blick diese Exklusivität. So kommt es zum offenen oder latenten Kampf um das Subjekt-Sein.

Sozusagen frei nach Highlander: „Es kann nur Einen geben.“

Horst

Hi Horst,

vielen Dank. Wie immer brilliant. Hatte da wohl eher den praktischen Ansatz gewählt :smile:

Wenn ich in diesem Zusammenhang mal vom kategorischen Imperativ Kants ausgehe:

„Handle so, dass die Maxime (= subjektive Verhaltensregel) deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“

… dann bedeutet das doch rein praktisch, dass mein Wille mit dem Willen der Allgemeinheit deckungsgleich sein müßte, denn allgemeine Gesetzgebung kann nur sein, was die Allgeimeinheit für gut und richtig befindet (ob zurecht oder zuunrecht ist dadurch freilich noch nicht entschieden, denn die Allgemeinheit kann bekanntlich auch Dinge wollen und für richtig befinden, die eigentlich falsch sind, z. B. Drittes Reich, etc.)

Diese Maxime beinhaltet aber erschwerend noch eine Notwendigkeit der Bewertung. Ich muss mich ja damit auseinandersetzen, was wohl der Wille der Allgemeinheit ist oder sein könnte, um feststellen zu können, ob MEIN Wille damit übereinstimmt. Bei dieser Frage kommt aber jeder von uns - je nach seinem eigenen Werte- und Glaubenssystem - wahrscheinlich zu unterschiedlichen Schlüssen.

Schönen Abend, Rolo

Sartre und Kant
Hi Rolo.

… dann bedeutet das doch rein praktisch, dass mein Wille mit dem Willen der Allgemeinheit deckungsgleich sein müßte,

Ich glaube, dass die Kategorie „allgemeiner Wille“ (im Sinne einer „Entität“) für Kant und Sartre nicht zählen (Rousseau, glaube ich, sprach davon: volonté generale).

Sartre schreibt zu diesem Thema:

„Wenn wir sagen, daß der Mensch für sich selbst verantwortlich ist, so wollen wir nicht sagen, daß der Mensch gerade eben nur für seine Individualität verantwortlich ist, sondern daß er verantwortlich ist für alle Menschen.“ (SN, 12)

Sartre bezieht sich hier auf den kantischen Kategorischen Imperativ.

„Indem wir sagen, daß der Mensch sich wählt, verstehen wir darunter, daß jeder unter uns sich wählt; aber damit wollen wir ebenfalls sagen, daß indem er sich wählt, er alle Menschen wählt. Tatsächlich gibt es nicht eine unserer Handlungen, die, indem sie das Bild des Menschen schafft, der wir sein wollen, nicht gleichzeitig ein Bild des Menschen schafft, so wie wir meinen, daß er sein soll.“ (ebenda)

Leider heute in Eile, bis bald.

Horst

denn

allgemeine Gesetzgebung kann nur sein, was die Allgeimeinheit
für gut und richtig befindet (ob zurecht oder zuunrecht ist
dadurch freilich noch nicht entschieden, denn die
Allgemeinheit kann bekanntlich auch Dinge wollen und für
richtig befinden, die eigentlich falsch sind, z. B. Drittes
Reich, etc.)

Diese Maxime beinhaltet aber erschwerend noch eine
Notwendigkeit der Bewertung. Ich muss mich ja damit
auseinandersetzen, was wohl der Wille der Allgemeinheit ist
oder sein könnte, um feststellen zu können, ob MEIN Wille
damit übereinstimmt. Bei dieser Frage kommt aber jeder von uns

  • je nach seinem eigenen Werte- und Glaubenssystem -
    wahrscheinlich zu unterschiedlichen Schlüssen.

Schönen Abend, Rolo