Guten Abend, Jana!
Die „Bürgerlichen“ - gibt es die überhaupt noch
(im klassischen Sinne)? Ist es nicht gerade die
große Angst beispielsweise der Globalisierungsgegner,
dass eben diese Mittelschicht sich immer mehr
aufweicht und zerteilt wird in die Besserverdienenden
und eben die Armen?
Lass’ mich zuvor einem immer mehr - „dank“ den schlagwortgebenden Medien - festsetzenden Vorurteil entgegentreten: Es handelt sich weniger um Globalisierungsgegner, sondern um -kritiker.
Du hast meiner Ansicht natürlich recht, was die „Bürgerlichen“ anbetrifft, weshalb ich den Begriff auch in Anführungsstriche setzte.
Ja, vielleicht ist das „System“ schuld. Leider ist
es das bisher Einzige, das sich über Jahrzehnte
hinweg bewährt hat. Mehr oder weniger. Immerhin ist
„man“ immer wieder zu ihm zurückgekehrt. Habe auch
keine Ahnung, warum. Ist aber Fakt.
Hat sich das System tatsächlich (mehr oder weniger) bewährt, oder liegt es vielmehr daran, dass „wir“ nie etwas anderes versucht haben? Eine solche Veränderung kann natürlich nicht aus Spontanität innerhalb der gesamten Gesellschaft entstehen, und entscheidende bzw. meinungsmachende Gesellschaftsgruppen, die letztlich über Macht für Veränderungen verfügen, möchten selbstverständlich keine Änderung des Systems, das sie selbst mitgeschaffen haben.
In den letzten zwei Jahren? Du machst das also an
Schröder und seiner Regierung fest? Da muss ich
aber laut auflachen. Denn unter Kohl war es ja
wohl mindestens das gleiche Drama.
Dann lach’ bitte in eine andere Richtung! ;o) Denn Schröder ist auch doch schon dreieinhalb Jahre an der Macht. Es ist mir persönlich vollkommen gleich, wer da nun regiert. Unter der Kohlschen Regierungszeit wurde vieles unter dem Deckel gehalten, und gerade jetzt taucht Skandal nach Skandal auf. Nicht etwa, dass sich damit sonderlich etwas verändern würde (s. etwa seinerzeit die Flick-Affäre, in die CDU, SPD und F.D.P. involviert waren), es verwundert nur ein wenig; und ich vermute, hier werden durch Indiskretionen Informationen in die gewünschte Richtung weitergegeben. Die Sandkastenspiele, auch Wahlkampf genannt („Du bist schuld!“ - „Nein, du!“ usw. - rhetorisch verkleidet in jeder Bundestagsrede und Talkshow mitzuverfolgen), werden quasi auf anderer Ebene ausgetragen.
Ich würde übrigens Arbeitslose und
Sozialhilfeempfänger (zumindest in Deutschland)
nicht automatisch gleichsetzen mit „arm“.
Stimmt, sie sind nach wie vor viel zu vermögend, weshalb etwa BR-Autorinnen wie Lisa Wurscher, nebenbei Mitgesellschafterin der Mutmacher GmbH, in „PlusMinus“ darlegen dürfen, dass zum Beispiel Sozialhilfesätze viel zu hoch sind.
Ich bin nicht neidisch auf Manager. Was die
Gewerkschaften derzeitig an Tarifpolitik
betreiben, ist genauso weltfremd. Diese Herren
beziehen übrigens annähernd gleiche Einkommen wie
die Damen und Herren, gegen die sie öffentlich kämpfen.
Da rede ich Dir nicht entgegen. Diese Gewerkschafter sind auch nichts anderes als Manager. Ich weiss allerdings nicht, wo die Weltfremdheit liegen soll, was die Tarifforderungen anbetrifft. Nunja, ich habe jedoch bisher keine jetzt protestierenden Arbeiter und Angestellten gesehen, deren Löhne und Gehälter sich in den letzten drei, vier Jahren um 68 Prozent erhöht haben. Die Industrie liess ja schon ihre Ansicht verbreiten, dass Lohnforderungen von mehr als zwei Prozent ihr Ruin wäre. Aber wie sagt schon das arabische Sprichwort: „Jammern ist der Gruss des Kaufmannes.“
Ist ja so pauschal, und ich kenne das aus der
Praxis eher anders. Ich habe durchschnittlich
eine mindestens 50-Stunden-Woche und schaffe es
trotzdem, mich für Politik zu interessieren, meine
Freizeit sinnvoll zu verbringen, nicht auf der
Stelle zu treten sondern Kontroversen zu suchen
und zu finden, weil ich nämlich was verändern will.
Leider sind viele Arbeitslose aus meinem Bekanntkreis
in Lethargie versunken und lecken sich die Wunden.
Nicht alle, wohlgemerkt, aber sehr-sehr viele. Das
hat nichts mit Lobby haben oder nicht zu tun. Wenn
ich etwas verändern will, muss ich zuerst bei mir
selbst anfangen. Eine Einstellungssache.
Natürlich, es ist stets eine Sache der Einstellung. Und aus diesem Grund ist es auch stets leicht, aus der eigenen Warte Lethargie zu verurteilen, oder sagen wir es vorsichtiger: zu beurteilen. So ist es für Industrievertreter einfach, von Mobilität und Flexibilität zu sprechen, während sie sich keinen Deut bewegen (müssen).
Immer wieder hört man, das Sozialsystem koste zu viel,
Tut es auch
Tut es das? Wieso?
aber wohin fliesst denn das ganze Geld, das
an allen Ecken und Enden fehlt: tatsächlich
zu den Armen?
Zu einem großen Teil: Ja.
Ich denke vielmehr, das Geld versickert in anderen Kanälen. Kommunen werden nicht arm durch Arme, sondern weil Unternehmen erhebliche Steuererleichterungen erfahren. Auch werden jährlich Steuern in Höhe von 150 Mrd. D-Mark hinterzogen - das werden kaum die Armen sein, sofern sie überhaupt Steuern zahlen (können) - und mindestens 60 Mrd. D-Mark pro Jahr durch die öffentliche Hand verschwendet. [Auf Euro umrechnen kannst Du selbst. ;o)]
Das Modell, lebenslang bei einer Firma beschäftigt
zu sein, ist doch schon seit Jahrzehnten überholt.
Warum ist es schon seit Jahrzehnten überholt? Es gibt nicht nur Berufe in den „neuen Technologien“, die eine grössere Flexibilität voraussetzen.
Sprich DU sie an.
Eine Aussage in dieser Form, eine Distanz zu einem Kritiker schaffend, ist ebenso absurd - bitte nicht beleidigt sein, das ist pauschal gemeint -, wie den Überbringer einer schlechten Nachricht zu köpfen. Aber ich empfehle einen Blick auf Seiten wie Nachrichtenaufkärung (http://www.nachrichtenaufklaerung.de), Telepolis (http/www.telepolis.de) oder die Archive von Politikmagazine à la „Monitor“ (http://www.wdr.de/tv/monitor).
Du bist ein freier Bürger dieses Landes
und hast die Wahl.
Welche Wahl? Wieder die gleichen, wenigen Parteien, die uns tagtäglich präsentiert werden, während man sich in der Wahlkabine wundert, dass der Stimmzettel so viele Parteien beinhaltet, von denen man noch nie etwa gehört hat, weil sie in den Medien unerwähnt bleiben? (Stattdessen verplempert man die Sendezeit bzw. Zeitungsseiten und „versorgt“ man uns mit Meldungen der etablierten Parteien/Politiker, auch wenn sie noch so absurd sind, dass man nur den Kopf zu schütteln vermag, weshalb sie überhaupt Erwähnung finden: siehe „Applausometer“ zw. Merkel und Stoiber während des Dresdner CDU-Parteitages oder Schröders Schönfärberei. )
Zur „Qual der Wahl“ als freier Bürger und freie Bürgerin schrieb der amerikanische MIT-Professor Noam Chomsky in „Profit over people“ (Europa-Verlag) im Kapitel „Konsens ohne Zustimmung: Wie man das Bewusstsein der Öffentlichkeit reglementiert“ folgendes:
* * *
Zutreffender dürfte sein, dass eine Regierung um so stärker auf Meinungskontrolle zur Sicherung ihrer Herrschaft bedacht sein muss, je „freier und republikanischer“ sie ist.
Dass die Bevölkerung sich unterwerfen muss, wird nahezu unhinterfragt angenommmen. In einer Demokratie haben die Regierten das Recht zuzustimmen, mehr aber auch nicht. In der Terminologie des modernen fortschrittlichen Denkens sind sie „Zuschauer“, aber - abgesehen von der gelegentlichen Möglichkeit, zwischen Repräsentanten authentischer Macht zu wählen - keine „Beteiligten“. Das gilt nur für die Politik, während die Bevölkerung im Bereich der Wirtschaft, deren gesellschaftliches Wirken weitgehend festgelegt ist, gemäss der dominierenden Demokratietheorie überhaupts nichts zu suchen hat.
* * *
Ohne diese Art und Weise von Meinungskontrolle, also auch ohne „Sachzwänge“ und Lobbyismus (s. Ursula Gröttrups „Der zensierte Alltag“, Steidl-Verlag 1985, oder „Die Tabus der bundesdeutschen Presse“, div. Autoren, Carl Hanser Verlag 1971), würde sich die Kritikfähigkeit an den mit der Zeit erwachsenen schlechten Zuständen erhöhen. Erst wenn eine Kritik besteht, wenn also ein Missstand erkannt wird, kann zu Verbesserungen gegriffen werden. Dies würde allerdings einen erheblichen Machtverlust für die Regierenden bedeuten, denn die Menschen würden einerseits erkennen, dass sie mit ihrer Unzufriedenheit über bestehende Zustände nicht allein stehen, andererseits bemerken, dass die gewählten Volksvertreter nicht *für* die Menschen regieren, sondern erst einmal eigene Ziele verfolgen.
Marco