Hallo Enno,
wie wird der psychologisch eingeschätzt - als unveränderliche
„Charakterkonstante“ (bei Erwachsenen) oder als etwas was
abtrainierbar ist ? Wie verhält er sich zur
Frustrationstoleranz ? Genauer ist die notwendige
Vorraussetzung für Jähzorn ?
wie Jähzorn psychologisch eingeschätzt wird, hängt von dem Psychologen oder der Psychologin bzw. denen von ihnen herangezogenen Theorien ab.
Es gibt so genannte Trait-Theorien, in denen „Charaktermerkmale“ (eben Traits) angenommen werden, die über Situationen und die Zeit hinweg relativ stabil sein sollen. Die Tendenz zum Jähzorn kann als zu einem solchen Trait gehörig aufgefaßt werden. So sieht der Trait-Theoretiker Hans-Jürgen Eysenck die Veranlagung zum Jähzorn als ein Produkt aus der Kombination der beiden Haupt-Traits Extraversion und Neurotizismus (emotionale Labilität) an. Menschen, die hoch extravertiert und emotional labil (hohe Werte in Neurotizismus) sind, weisen nach Eysenck die Kombination der Persönlichkeitsmerkmale „empfindlich“, „unruhig“, „aggressiv“, „reizbar“, „wechselhaft“, " impulsiv", „optimistisch“ und „aktiv“ auf (natürlich müssen nicht alle Personen, die hohe Werte in Extraversion und Neurotizismus aufweisen, alle diese Persönlichkeitsmerkmale aufweisen).
Die Kombination von hoher Extraversion und hohem Neurotizismus ergibt nach Eysenck einen Persönlichkeitstyp namens " cholerisch" („cholerisch“ ist das deutsche Wort für „jähzornig“). Die Ähnlichkeit des Eysenckschen Persönlichkeitsmodells mit der Typologie von Hippokrates ist nicht zufällig, sondern von Eysenck intendiert. Schon Hippokrates hatte zwischen Sanguinikern, Phlegmatikern, Melancholikern und Cholerikern unterschieden. Eysenck bezieht sich im Kern auf diese Persönlichkeitstypologie des Hippokrates und erklärt diese mit Funktionsweisen des Zentralnervensystems. Extraversion soll mit niedriger Grundaktivität im ARAS (aufsteigendes retikuläres aktivierendes System) einhergehen, Neurotizismus mit einer niedrigen Erregungsschwelle im Limbischen System. Diese Funktionsweisen sollen nach Eysenck genetisch determiniert , also vererbt sein, und auch eine Disposition zu kriminellem und antisozialem Verhalten (Impulsivität gilt als ein Symptom der Antisozialen Persönlichkeitsstörung) darstellen.
Wie auch immer man zu Eysencks Theorie steht (hinsichtlich der Gültigkeit der neurophysiologischen Aussagen gibt es erhebliche Zweifel), so kann man jedoch festhalten, daß es allgemein Befunde gibt, die Jähzornigkeit als einen Aspekt von Impulsivität (ein Aspekt von Neurotizismus) und Impulsivität als eine Verhaltensdisposition (i.S.v. Temperament) erscheinen lassen. Für die Erblichkeit von Temperamenten gibt es Belege: Studien aus den 90er Jahren schätzen sie bei Kindern auf 30-40%. Impulsivität als ein Temperamentsaspekt korreliert mit Frustrationstoleranz negativ. Hohe Impulsivität geht also mit niedriger Frustrationstoleranz einher.
Zusammenfassend ziehe ich aus den Forschungsbefunden zu diesem Thema die Schlußfolgerung, daß es mehr oder minder deutliche Hinweise dafür gibt, daß Jähzorn auf eine angeborene Verhaltensdisposition zurückgeht, die mit niedriger Frustrationstoleranz verbunden ist. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Jähzorn als Klasse von Verhaltensweisen nicht beeinflußbar wäre. Umweltfaktoren wie z.B. Erziehung haben dennoch einen, wenn auch vielleicht nur modifizierenden Einfluß auf das Verhalten.
Gruß,
Oliver Walter