Judentum

Hallo Ralf,

Möglicherweise hat Ghandi ihn zitiert. Aber der Satz stammt
nicht von Ghandi.

Der beanstandete Satz auf der VIKA ist ein Ghandhi-Zitat. Wenn
also hier Antijudaismus vorliegt, dann hinduistischer und kein
christlicher.

Ich beziehe mich auf den Satz „Auge für Auge“, der in der Torah steht. Wenn nun Ghandi diesen Satz zu „… läßt die ganze Welt erblinden“ umgeprägt hat, dann bezieht er sich - ob er das bewußt will oder nicht ist eine andere Frage - auf eine christlich-antijudaistische Sichtweise von „Auge um Auge“.

Ghandi hat sich sehr intensiv mit dem Christentum auseinandergesetzt, also werden ihm auch diese Auslegungstraditionen begegnet sein, denn sie ist ja bei christlich geprägten Menschen die dominierende.

Er hat in London studiert und im Herrschaftsbereich der britischen Kolonialmacht gelebt, die nun mal christlich geprägt war.

Ich für meinen Teil bezweifle, dass Gandhi Antisemit war und
nehme mir die Freiheit, den Satz so zu verstehen, wie er von
Gandhi mE gemeint war.

Wenn jemand antisemitisch geprägte Stereotype aufnimmt, muß das noch nicht heißen, daß die Person antisemitisch ist, aber bei Europäern, die durch eine christliche Kultur eine gewisse Prägung haben, fällt dieses Stereotyp dann auf einen anderen kulturellen Hintergrund als auf den, von dem Ghandi geprägt war.

Wie ist der Satz Deiner Meinung denn anders zu verstehen als mit dem Rückbezug auf das Stereotyp von der Rache? Weißt Du von biografieschen Hinweisen, die Rückschlüsse zulassen, dass er ein anderes Grundverständnis dieser Äußerung hatte?

Viele Grüße

Iris

Hallo,

ich denke, dass der Satz „Auge um Auge“ zwei
Auslegungsmöglichkeiten eröffnet. Versteht man diesen SAtz
dahingehend, dass jemand, der einem anderen einen Schaden
zugefügt hat, diesen Schaden zu ersetzen hat, ist gegen diesen
Satz überhaupt nichts einzuwenden.

Genauso ist dieser Satz im hebräischen Text gemeint.

Klar. Andererseits ist zumindest der Gesamtkontext von Ex 21 nun auch nicht dass, was wir heute zumindest alle unter einen wegweisenden Rechtssprechung verstehen.
Will sagen: Wir emfpinden heute ja us-amerikanische BHegründungen der Todesstrafe als Rachsüchtig, diese werden nun wiederum mit „Auge um Auge“ begründet. Dabei lässt sich die Begründung nicht ganz von der Hand weisen. Es ist also, und das sollte man festhalten, schon wichtig, was man unter „rachsüchtig“ versteht.

Es war zu keiner Zeit vom Verständnis der jüdischen Tradition
gemeint, man habe demjenigen, der einen anderen um sein
Augenlicht gebracht hat nun auch um sein Augenlicht zu
bringen.
Dies ist in den Text hineingelesen worden, woraus sich dann
die christliche Unterstellung hier würde es sich um Rache
handeln entwickelt hat.

Das ist ja die Frage, die mich beschätftigt, wer hat da was wo hineingelesen. Zumindest christl. Befürworter der Todesstrafe werden vielleicht einen Rachegedanken haben, den aber positiv rezipieren.
Exodus 21:12: Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, der soll des Todes sterben.
Ein Europäer empfindet dies nun schon als „Rache“, entsprechend diese altl. Stelle.
Ein Amerikaner (man verzeihe mir die Vereinfachungen) sieht das als gerecht an, und kann dann auf
Exodus 21:13 Hat er ihm aber nicht nachgestellt, sondern hat Gott es seiner Hand widerfahren lassen, so will ich dir einen Ort bestimmen, wohin er fliehen kann.
verweisen, was wohl unserer „Körperverletzung mit Todesfolge“ entspricht.

denn
dadurch ändert sich an dem Zustand des GEschädigten nichts.
Deswegen liegt die Annnahme, dass es nicht nur um den Ersatz
von Schaden, sondern auch um Vergeltung bzw. Genugtuung geht,
zumindest nicht völlig fern.

Das ist eine Projektion des christlichen Antijudaismus.

.
Es geht ja erst einmal um den Text, worauf hier ja immer wieder zu Recht verwiesen wird.
Und der Aspekt der Genugtuung ist in Ex 21 doch recht eindeutig enthalten:
Exodus 21:28-29 28 Wenn ein Rind einen Mann oder eine Frau stößt, daß sie sterben, so soll man das Rind steinigen und sein Fleisch nicht essen; aber der Besitzer des Rindes soll nicht bestraft werden. 29 Ist aber das Rind zuvor stößig gewesen und seinem Besitzer war’s bekannt und er hat das Rind nicht verwahrt und es tötet nun einen Mann oder eine Frau, so soll man das Rind steinigen, und sein Besitzer soll sterben.
Eine Projektion antijüdischer Vorurteile kann ich hier nicht entdecken.
Da sich nun - ich gebe zu meiner Wahrnehmung nach - vor allem Christen auf diese Stelle berufen, um eben bestimmte strafrechtliche Argumente zu stützen, wäre hier wohl eh nicht von einem antijüdischen Vorurteil zu reden, sondern höchstens wohl von einem Missverständnis.
Andererseits: Der KOntext von unserem „Auge um Auge“ beinhaltet ja nun durchaus nicht das, was wir heute als „gerecht“ verstehen würden. Weder ist heute eine Frau noch ein Sklave weniger wert als jemand anderes.

Jemand, der mit dem jüdischen Verständnis dieser Texte
sozialisiert worden ist, würde überhaupt nicht auf die Idee
kommen

Das hat hier datafox schon behauptet und ehrlich gesagt, auch das ist stereotyp. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass grundsätzlich jede Religion / jedes Volk / jede wie auch immer definierte Gruppe eben nicht als ein Brei anzusehen ist.
Die Argumentation: Der Jude versteht den Text entweder so (gerchter, friedlicher Ausgleich), wenn er ihn aber anders versteht, ist er kein echter Jude oder aber es liegt an den Christen, ist ziemlich schwach und unglaubwürdig.
So bin ich zwar auch der Überzeugung, dass man zum heutigen europäischen Christentum auch die klare Ablehnung der Todesstrage gehört, aber gleich denjenigen, die eventuell unter Berufung auf Ex 21 selbige fordern, die gleiche christliche Tradition abzusprechen, wäre zwar einfach, aber falsch.

Ja? Dann laß doch in Zukunft diese halbgaren Vorurteile,
Stereotypen einfach bleiben, denn auch das ist eine Form von
Gewalt - wenn auch nicht körperlicher.

Aber Stereotyp gegen Stereotyp?
Wir haten ja diese Diskussion schon öfter hier. Was ich immer noch suche ist das antijüdische an der Auge/Zahn = Rache. Ich will es nicht ausschließen, aber zumindest ist dieses Vorurteil kein traditionell christliches.
1 Das Christentum hat selbst unter Berufung auf Ex 21 Strafgerichtsbarkeit gestaltet. Eine Beghründung, auch nicht aus der Bergpredigt, das Judentum als Rachereligion anzusehen, habe ich einfach nicht finden können.
2. Seit es das Christentum gibt, gab es keine jüdische Gerichtsbarkeit, die rezipiert worden wäre - bei all den vielen antijüdischen Vorurteilen, gibt es hier keinen Kontext.
3. Das antijüdische Vorteil des Judentums als Religion, die Gesetzlichkeit vor Mitmenschlichkeit geben lässt, habe ich zwar oft biblisch (NT natürlich) begründet gefunden, keinesfalls aber Mit Auge/Zahn.
4. Auch beim immer wieder genannten Markion, als dem Ur-Antijudaisten (was sicherlich nicht ganz falsch ist), habe ich kein auf Auge/Zahn begründetes negatives Urteil über das Judentum gefunden.
5. Auge/Zahn als Beleg für das genannte Vorurteil ist besonders häufig in Friedensgruppen zu finden - hier wird es eingesetzt, um Isreal oder die USA zu kritisieren und ihnen hier ein archaisches, sprich überholtes REchtsverständnis und Menschenbild zu unterstellen.
Der Kontext hier ist auch und oft christlich, es ist jedoch nicht an den christlichen Kontext gebunden. Jedenfalls ist es noch zu früh, um von einer christlichen Tradition zu sprechen.
6. Ebenfalls wird in Reaktion darauf zumindest ebenso problematisch aus EX 21 plötzlich ein Dokument des modernen Strafvollzugs (quasi ein projüdisches Vorurteil), was es (s.o.) sicherlich auch nicht ist.

Jedenfalls eignet sich meiner bisherigen Kenntnis nach Auge/Zahn nicht als Beispiel für eine antijüdische christl. Interpretation, eher schon für einen allg. problematischen Umgang heiliger SChriften - von „innen“ und „außen“.
Zur Legitimierung von (polit) Gewalt und (relig.) Kritik scheint es jedoch nicht an eine bestimmte Gruppe oder eine bestimmte "Anti-"Haltung gebunden zu sein.

Grüße
Taju

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BS"D

Hallo Taju.

Die Argumentation: Der Jude versteht den Text entweder so
(gerchter, friedlicher Ausgleich), wenn er ihn aber anders
versteht, ist er kein echter Jude oder aber es liegt an den
Christen, ist ziemlich schwach und unglaubwürdig.

Hierzu solltest du vielleicht beachten, dass die jüdische Auslegung sich hier ebenso auch auf die mündliche Lehre bezieht und beides zusammen als eine Einheit versteht. Alleine schon hierdurch liegt ein wesentlich komplexerer aber auch genauerer und detailierter Text vor, als nur auf das sogenannte „alte Testament“ zu verweisen. So wirst du das, was nun Iris und datafox wohl schon vorher dargestellt haben, in allen jüdischen Werken finden und die sind nun einmal sehr zahlreich.

So bin ich zwar auch der Überzeugung, dass man zum heutigen
europäischen Christentum auch die klare Ablehnung der
Todesstrage gehört, aber gleich denjenigen, die eventuell
unter Berufung auf Ex 21 selbige fordern, die gleiche
christliche Tradition abzusprechen, wäre zwar einfach, aber
falsch.

Jüdische Auslegung ist hier wesentlich komplexer und ein sehr umfangreicher jahrtausendealter Dialog mit diesem Text. So kann hier nicht einfach entgegen dieser Lehre eine andere Meinung gesetzt werden, sondern diese muss in sich schlüssig hergeleitet werden können. Das „Auge für Auge“ aber etwas mit Rache zu haben könnte, widerspricht anderen Stellen der Torah, welche Rache deutlich verbieten.

Ebenso verhält es sich mit der Todesstrafe, welche eben nicht willkührlich und frei verhängt werden kann, sondern im jüdischen Rechte, welches sich aus der Tora ergibt, ziehmlich umfangreichen und hohen Anforderungen genügen muss. Dieses sieht man alleine schon daran, dass sein Jahrtausenden im Judentum keine Todesstrafen mehr verhängt werden.

Aber Stereotyp gegen Stereotyp?

Das „gegen“ ergibt sich alleine aus dem Christentum, welches sich versucht hierdurch vom Judentum abzuheben und damit eben auch viel Leid seit 2000 Jahren über die Juden brachte. Es geht hier um den Gegensatz des rachsüchtigen Judentums gegenüber dem liebenden Christentum. Wenn also Iris sich hier gegen dieses Stereotyp aufregt, dann geht es darum, genau diese fatale Arugmentation zu durchbrechen. Zeit dafür müsste eigentlich schon lange sein.

Wir haten ja diese Diskussion schon öfter hier. Was ich immer
noch suche ist das antijüdische an der Auge/Zahn = Rache. Ich
will es nicht ausschließen, aber zumindest ist dieses
Vorurteil kein traditionell christliches.

Es kommt genau daher und aus Missdeutungen im Neuen Testament zu genau dieser Stelle.

das Judentum als Rachereligion anzusehen, habe ich einfach nicht
finden können.

Nu, das tuen andere dafür nur um zu schneller. Lies einfach einmal ein paar Artikel über israelische Politik und du wirst genau hierauf einen Verweis und Zusammenhang finden, mit genau diesem Zitat.

  1. Seit es das Christentum gibt, gab es keine jüdische
    Gerichtsbarkeit, die rezipiert worden wäre - bei all den
    vielen antijüdischen Vorurteilen, gibt es hier keinen Kontext.

Mh, ich habe erst gestern mit einem Richter, der nach jüdischem Recht urteilt, gesprochen :wink:

Jedenfalls eignet sich meiner bisherigen Kenntnis nach
Auge/Zahn nicht als Beispiel für eine antijüdische christl.
Interpretation, eher schon für einen allg. problematischen
Umgang heiliger SChriften - von „innen“ und „außen“.

Von aussen gesehen hatte ich dafür aber nun doch zuviele Diskussionen mit Christen, welche sich u.a. eben auf dieses falsche Verständnis bezogen haben, um sich positiv abzuheben.

Gruss,
Eli

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Off Topic, aber neugierig
Hi Eli,

was bedeutet eigentlich

BS"D

?

Gruß,

Nico

Hi,

Besiyata DeShamaya , bedeutet in Etwa: mit der Hilfe des Himmels.

MfG

tantal

[Bei dieser Antwort wurde das Vollzitat nachträglich automatisiert entfernt]

BS"D

Hallo Mirko.

Das fängt damit an, daß
Frauen in der Synagoge nicht singen sollen und endet mit dem
vermeintlichen Verbot des öffentlichen Lesens der Thora durch
Frauen. Das sind landläufige Vorurteile.

Es sind Vorurteile? Oder sind es nicht in der mündlichen Lehre genau begründete Auslegungen der Tora?

Wobei in einigen orthodoxen Synagogen Frauen nicht zum
Thoralesen aufgerufen werden.

Mir ist eigentlich keine einzige orthodoxe Synagoge bekannt, zu der Frauen zum Lejnen aufgerufen werden.

In den frühen Gesetzbüchern findet sich keine wirklich
eingehende Behandlung, was das Sitzen von Männern und Frauen
angeht.

Nu, aber sehr wohl, dass es auch damals schon getrennt war, u.a. ja auch im Tempel.

Gruss,
Eli

Hallo Eli

Das fängt damit an, daß
Frauen in der Synagoge nicht singen sollen und endet mit dem
vermeintlichen Verbot des öffentlichen Lesens der Thora durch
Frauen. Das sind landläufige Vorurteile.

Es sind Vorurteile? Oder sind es nicht in der mündlichen Lehre
genau begründete Auslegungen der Tora?

ich glaube es war etwas ungenau ausgedrückt. Die Gefahr bestand und besteht immer darin, daß das Konzept der Taharat Hamishpacha (Gesetze der Familienreinheit) als Diskriminierung der Frauen empfunden wird, was aber nicht der Fall ist, so denke ich. Es geht vielmehr um den privaten Bereich oder die Beziehung von Mann und Frau untereinander.

In den frühen Gesetzbüchern findet sich keine wirklich
eingehende Behandlung, was das Sitzen von Männern und Frauen
angeht.

Nu, aber sehr wohl, dass es auch damals schon getrennt war,
u.a. ja auch im Tempel.

damit beziehe ich mir nur auf das Schriftum. Du hast natürlich recht, daß Männer und Frauen damals schon getrennt waren, dies war aber so selbstverständlich, daß sich schriftlich wenig darüber ausgelassen wurde.

Gruß Mirko

BS"D

Hallo Edel.

warum werden die Frauen in den Synagogen von den
Männern getrennt?

Nein, das genaue Gegenteil ist der Fall. Im Judentum gilt,

dass je später in der Schöpfung etwas geschaffen wurde, um so
näher steht es zu G’tt, um so heiliger ist es. In diesem Sinne
steht die Frau dann in der Heiligkeit über dem Mann und ist im
Allgemeinen näher zu G’tt. Darin sehen dann auch viele den
Grund, warum Frauen für ihr Gebet eben nicht die Gemeinde
bedürfen.

Gruss,
Eli

Moin Eli,

Da kann ich mich nicht anschließen. Sie sind gleichberechtigt. Sündige Frauen haben nach Buch Mose die gleichen Strafen zu erleiden. G’tt und Frauen haben manchmal gleiche Eigenschaften wie die Fürsorge ihrer Kinder. Jesaya: Wie die Mutter ihr kind nicht vergißt, so kann der Herr Israel nicht vergessen. Im männlichen Wesen ist die Erstgeburt das nähere. nur Jakob hat sich die Erstgeburt erschwindelt.

Gruß Peter

BS"D

Da kann ich mich nicht anschließen.

Dann wäre es schön, wenn du sagen könntest, welche jüdische Quelle dieses anders sieht oder was das jetzt dein persönlicher Kommentar?

Sie sind gleichberechtigt.

Das sicherlich eben genau nicht, da die Rollen von Frau und Mann ebenso wie ihre Aufgaben nach der Tora unterschiedlich sind. Vielleicht meintest du gleichwertig?

Sündige Frauen haben nach Buch Mose die gleichen Strafen zu
erleiden.

Daraus folgt ja nur eine Gleichheit in diesem Bereich, aber auch schon hier werden aufgrund der Rollen und Aufgabenverteilung sehr wohl auch Unterschiede gemacht.

nur Jakob hat sich die Erstgeburt erschwindelt.

Hat er? So weit ich mich erinnere, hat er sie sich erworben, da er hierbei nichts verborgen hat, sondern offen gesagt hat, was er will. Hinzu kommt, dass dieses von G’tt so gewollt war.

Allerdings ist mir nicht ganz klar geworden, was diese Anmerkungen nun mit dem Thema noch zu tun haben?

Gruss,
Eli

Besiyata DeShamaya , bedeutet in Etwa: mit der Hilfe des
Himmels.

Danke!

Grüße Nico

Hallo Iris,
zunächst eine grundsätzliche Anmerkung von mir. Die Bibel im Allgemeinen und der Tanach im Speziellen gehören wie andere Weisheitsbücher auch zum kulturellen Erbe der gesamten Menschheit. Es gibt eine zweitausendjährige außerjüdische Rezeptionsgeschichte dieser Texte und die dort zum Ausdruck gebrachten Ideen sind in vielen Fällen nicht spezifisch jüdisch – die Kultur, in der die Texte des Tanach entstanden, war auf vielfältige Weise mit anderen Kulturen (insbesondere den Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens) verbunden und von ihnen beeinflusst.

Es gibt sehr unterschiedliche Traditionen, die Texte des Tanach und speziell das „Auge um Auge“ zu interpretieren. Es gibt natürlich die jüdische Tradition (besser: jüdische Traditionen), es gibt die christliche Exegese aus der rückwärts gewandten Perspektive des sog. Neuen Testaments und es gibt die historisch-kritische Interpretation (um nur einige, nicht alle Möglichkeiten zu nennen). Was es nicht gibt, das ist eine jüdische Deutungshoheit. Auslegungen, die der jüdischen Tradition widersprechen, als „antisemitisch geprägte Stereotypen“ zu denunzieren – da macht man es sich dann doch etwas zu einfach.

Wenn man nun mit dem „Auge um Auge“ belegen will, dass jüdisches Rechtsverständnis im Kern Rachejustiz sei, dann ist es natürlich unredlich, die jüdische Auslegungstradition dieser Stelle außer Acht zu lassen. Das hieße, auf Grund von Vorurteilen wesentliche Informationen zu ignorieren und aus den so gefilterten Informationen falsche Schlüsse zu ziehen. Vulgo: Dummheit, das grundlegende Merkmal von Antisemitismus.

Wenn man das „Auge um Auge“ jedoch nüchtern betrachtet, so ist dies nichts anderes als die griffige Formulierung eines archaischen Rechtsgrundsatzes, nämlich der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem. Diese Vorstellung von Gerechtigkeit steht in jeder Kultur am Anfang juristischen Denkens, sie ist keineswegs spezifisch jüdisch, vielmehr eine anthropologische Konstante. In einer sich formierenden sozialen Gemeinschaft ersetzt dieser Grundsatz das Prinzip privater Rache, steht ihm freilich noch sehr nahe. Diese Nähe muss auch sein, andernfalls gäbe es keine Bereitschaft, auf Rache zu verzichten und sich stattdessen einem sozialen Kontrollmechanismus zu unterwerfen.

Rache ist fast immer Überkompensation, bedeutet also, Böses mit Schlimmerem zu vergelten und führt damit zur Eskalation von Konflikten. Der Grundsatz, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, soll eben diese Eskalation vermeiden und damit den inneren Frieden einer Gemeinschaft sichern.

Regelmäßig entwickelt sich dieser Grundsatz weiter. Das logische Prinzip der Wiedergutmachung bei Vermögensschäden wird auf Körperschäden übertragen. Dies bedeutet einen durchaus nicht selbstverständlichen Schritt der Abstraktion. Manchmal ersetzt das Prinzip der Wiedergutmachung das Prinzip der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem sogar vollständig, wie wir es etwa in den Wergeld-Bestimmungen des Sachsenspiegels finden. Dieser Entwicklung von Recht trägt die jüdische Auslegungstradition des „Auge um Auge“ Rechnung – die Auslegung wurde einer faktischen Weiterentwicklung von Rechtsverständnis und –praxis in der judäischen Gesellschaft angepasst. Aus dem Text selbst lässt sich ein Wiedergutmachungsprinzip bei Körperschäden mE nicht herauslesen. Wie so etwas aussieht, zeigt der schon erwähnte Sachsenspiegel.

Nur der Vollständigkeit sei erwähnt, dass es natürlich noch eine weitere Entwicklungsstufe in der Rechtsentwicklung gibt – das Prinzip der Erziehung. Darunter fällt nicht nur der heute im Vordergrund stehende Aspekt der Resozialisierung, sondern zunächst vor allem der der Abschreckung. ‚Erzieherische Justiz‘ ist nicht notwendig ‚human‘ sondern im Gegenteil häufig eine Überkompensierung und auch keine historisch allzu junge Entwicklung – die sprichwörtlich harte Gesetzgebung Drakons etwa ist vor allem von diesem Prinzip geleitet, ein anderes Beispiel wären die chinesischen Legisten.

Nun zu Gandhi. Gandhi hat die Bibel mit Ausnahme der Bergpredigt nicht sonderlich geschätzt. Ein Urteil das ich persönlich durchaus nachvollziehen kann, wenn mir diese Bemerkung erlaubt ist. Natürlich kannte Gandhi die Bibel; er las sie in seinem zweiten Jahr in England, als er auch die Bhagavad-Gita entdeckt hatte. „Sehr intensiv“, wie Du schreibst, hat er sie jedoch meines Wissens nie studiert. Soll heissen, er hat sie als Laie gelesen, ohne sich eingehender mit exegetischer Literatur zu beschäftigen. Vor allem aber sollte man im Auge behalten, dass Gandhi Jurist war und man davon ausgehen kann, dass er die hier diskutierte Stelle mit den Augen und dem Verständnis eines Juristen gelesen hat. Vielleicht wird nun deutlich, warum ich oben so viel Wert auf die rechtsgeschichtliche Ausdeutung dieser Stelle gelegt habe.

Das Gandhi-Zitat hat nicht Geringste mit einem „Rückbezug auf das Stereotyp von der Rache“ zu tun, wie Du schreibst. Es geht vielmehr um das Prinzip der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem. Ganz konkret geht es bei Gandhi um die Frage, ob gewaltsame Unterdrückung gewaltsamen Widerstand (= Vergeltung von Gleichem mit Gleichem) rechtfertigt. Gandhi war Realist genug um zu wissen, dass eben dieses ‚wie du mir, so ich dir‘ dem Gerechtigkeitsempfinden fast aller Menschen entspricht und als Jurist wusste er, dass eben dieses Prinzip – in vielfach modifizierter und sublimierter Form – Grundlage aller Rechtssysteme ist. Ich hatte in diesem Zusammenhang oben von einer „anthropologischen Konstante“ gesprochen.

Das „Auge um Auge“ war für Gandhi nichts Anderes als archetypischer Ausdruck eben dieser menschlichen Grundhaltung. Ihm ging es darum, diese Grundhaltung und ihre spirituellen Konsequenzen („Blindheit“) mittels einer Metapher bewusst zu machen und zu überwinden – nicht um eine Kritik des Judentums oder des Christentums.

Freundliche Grüße,
Ralf

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Hi Ralf,

vielen Dank für deinen ebenso lesenswerten wie erhellenden Beitrag!
Dein Wissen und die Art, es rüberzubringen, beeindrucken mich nicht zum ersten Mal.

Viele Grüße und *
WoDi

ROFL u made my day
who needs witzebrett?

warum werden die Frauen in den Synagogen von den
Männern getrennt ?

Damit die Männer durch den Anblick von freilaufenden Frauen nicht vom Beten abgelenkt werden. Frauen traut man diese Selbstdisziplin aber schon zu, daher dürfen Frauen auf die Männer gucken. Die Synagoge ist sowieso ein Männerort. Frauen beten eher zuhause bzw. sind zu festen Gebeten gar nicht verpflichtet.

Steht die Frau unter dem Mann ?

Das Judentum ist keine egalitäre Ideologie. Daher muß man antworten: Ja. Zumindest in der Theorie. In der Praxis hat der jüdische Ehemann nichts zu melden.

:stuck_out_tongue_winking_eye:

Gruß
d.

Hi

Will sagen: Wir emfpinden heute ja us-amerikanische
BHegründungen der Todesstrafe als Rachsüchtig, diese werden
nun wiederum mit „Auge um Auge“ begründet.

Wer pro Todesstrafe ist und diese religiös begründet, bezieht sich damit nicht auf das Auge, sondern auf den Satz „Wer eines Menschen Bluß vergießt, dessen Blut soll vergossen werden“.

Das ist ja die Frage, die mich beschätftigt, wer hat da was wo
hineingelesen. Zumindest christl. Befürworter der Todesstrafe
werden vielleicht einen Rachegedanken haben, den aber positiv
rezipieren.

Das Christentum begründet sich doch gerade auf der Ablehnung einer (imaginierten) jüdischen Rachsüchtigkeit. Warum sollte ein Christ so argumentieren? Eventuell liegt es daran, daß die meisten sich jenseits von Rachsüchtigkeit nichts vorstellen können, das man allgemein Sühne, Entschädigung oder veraltet „Vergeltung“ (von GELD) nennt. Vergeltung bedeutet nicht Rache sondern Wiederherstellung von Gerechtigkeit.

Exodus 21:12: Wer einen Menschen schlägt, daß er stirbt, der
soll des Todes sterben.
Ein Europäer empfindet dies nun schon als „Rache“,

Damals war Blutrache die Norm, d.h. wenn einer einen anderen umbringt, werden dafür 10 seiner Verwandten von den Verwandten des Opfers umgebracht. Es geht dabei auch nicht um persönliche Rache sondern um Wiederherstellung der Sippenehre. (In vielen Gegenden ist das auch heute noch so.) Die Forderung nach einer gesetzlich verankerten Strafe, die unabhängig von Sippen für jeden gleichermaßen galt, schuf dem Abhilfe. Natürlich stand auf Kapitalverbrechen der Tod, denn Mord kann nicht gesühnt werden.

Wer die biblische Todesstrafe als primitiv und antiquiert moniert, ist einfach in seiner eigenen Ideologie zu sehr verhaftet, um die damalige gesellschaftliche Tragweite dieser Gesetze zu verstehen.

Ein Amerikaner (man verzeihe mir die Vereinfachungen) sieht
das als gerecht an, und kann dann auf

Was hast du nur dauernd mit den Amerikanern? Hehe

Exodus 21:13 Hat er ihm aber nicht nachgestellt, sondern hat
Gott es seiner Hand widerfahren lassen, so will ich dir einen
Ort bestimmen, wohin er fliehen kann.

Das war doch der Ort, an dem ein Verbrecher sich vor Blutrache flüchten konnte. Oder liege ich da falsch.

Und der Aspekt der Genugtuung ist in Ex 21 doch recht
eindeutig enthalten:

Exodus 21:28-29 28 Wenn ein Rind einen Mann oder eine Frau
stößt, daß sie sterben…

Genugtuung siehst du hier? Ich sehe hier einfach die Auflistung eines Paragrafen in einem antiken Strafgesetzbuch, welches mit Verlaub natürlich reichlich seltsame Vorschriften hat. (Wenn wir aber mit unserem Leben von Rindern abhängig wären, wer weiß, welche Gesetze wir für das Töten selbiger hätten.)

Eine Projektion antijüdischer Vorurteile kann ich hier nicht
entdecken.

„Genugtuung“ ist so eine. Ist es denn Genugtuung, wenn ein Falschparker 50 Euro zahlt? Ich denke nicht. Es ist die konsequente Strafe als Folge einer Gesetzesübertretung.

Andererseits: Der KOntext von unserem „Auge um Auge“
beinhaltet ja nun durchaus nicht das, was wir heute als
„gerecht“ verstehen würden. Weder ist heute eine Frau noch ein
Sklave weniger wert als jemand anderes.

Einen tausendejahre alten Text darf man nicht so lesen, als ob er gestern geschrieben wurde. Natürlich kommt dann nur Blödsinn heraus.

Das hat hier datafox schon behauptet und ehrlich gesagt, auch
das ist stereotyp. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass
grundsätzlich jede Religion / jedes Volk / jede wie auch immer
definierte Gruppe eben nicht als ein Brei anzusehen ist.

Mit einem jüdischen Denkhintergrund liest man die Texte der Bibel eben anders als mit einem christlichen.

Die Argumentation: Der Jude versteht den Text entweder so
(gerchter, friedlicher Ausgleich), wenn er ihn aber anders
versteht, ist er kein echter Jude oder aber es liegt an den
Christen, ist ziemlich schwach und unglaubwürdig.

Ein echter Jude? Hmm. Die jüdische Religion besteht aus mehr als nur diesen Texten. Da ist ein ganzer Rattenschwanz an Kommentaren und Weiterfühurngen enthalten, und die groben Inhalte dessen weiß jeder Jude, auch wenn er nicht religiös lebt oder so erzogen wurde. Das ist in der Kultur so drin wie jeder in einem christlichen Land weiß, wer der ungläubige Thomas war (das war eine Millionenfrage bei WerWirdMillionär in Israel!)

So bin ich zwar auch der Überzeugung, dass man zum heutigen
europäischen Christentum auch die klare Ablehnung der
Todesstrage gehört

Das hat mit Christentum überhaupt nichts zu tun sondern mit einer Abgrenzung von den USA. Christlich kann man die Todesstrafe eher begründen als ablehnen, siehe oben.

Ich
will es nicht ausschließen, aber zumindest ist dieses
Vorurteil kein traditionell christliches.

Doch, es ist geradezu klassisch. Gefolgt von den „Pharisäern“ und dem Geldwechsel im Tempel :smile:

  1. Auge/Zahn als Beleg für das genannte Vorurteil ist
    besonders häufig in Friedensgruppen zu finden - hier wird es
    eingesetzt, um Isreal oder die USA zu kritisieren und ihnen
    hier ein archaisches, sprich überholtes REchtsverständnis und
    Menschenbild zu unterstellen.

Das ist moderner Antisemitismus, und dort - wo sonst - blüht das Vorurteil rund um den Spruch mit dem Auge und dem Zahn, um die Rachsüchtigkeit als jüdische Eigenschaft etc. pp.

Der Kontext hier ist auch und oft christlich, es ist jedoch
nicht an den christlichen Kontext gebunden.

Das braucht es nicht. In einem christlichen Land versteht eben jeder sofort, was mit „alttestemantarischer Rache“ und „Auge und Auge“ gemeint ist, wenn es in der Nahost-Seitenkolumne einer beliebigen politischen Tageszeitung steht. So funktioniert Antisemitismus. Er ist kaum hörbarer Orgelpunkt, und alle nicken mit dem Kopf. besonders jene, die ihre Meinung als richtig empfinden…

Ich schweife ab, du weißt was ich meine.

Gruß
d.

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Hi,

Eventuell liegt es daran, daß die
meisten sich jenseits von Rachsüchtigkeit nichts vorstellen
können, das man allgemein Sühne, Entschädigung oder veraltet
„Vergeltung“ (von GELD) nennt.

Umgekehrt: Geld kommt von Vergeltung.

Viele Grüße
WoDi