Jüdisches Museum / Von Michael Naumann

Zur Kenntnisnahme:

Ein Museum für die Zukunft / Von Michael Naumann

Erinnerungskultur ist einer der Respekt erheischenden, zugleich Abstand schaffenden Begriffe, mit dem seit fast einem Jahrzehnt von wohlmeinenden Politikern und Publizisten in Deutschland hantiert wird, wenn von der NS-Geschichte und ihrer Rolle im öffentlichen Leben die Rede ist. Der Begriff kreist vor allem um den historisch angemessenen, pädagogischen und wissenschaft-lich haltbaren Umgang der Politik mit der Verbrechensgeschichte des millionenfachen Juden-mords. Das Unfassbare steht im Zentrum. Es entzieht sich in Wirklichkeit der erhofften, erlösen-den Wirkung von politisch organisierter Erinnerung. Die sechs Millionen toten Juden kehren nicht wieder. Aber sie sollen nicht vergessen werden.
Die festliche Eröffnung des Jüdischen Museums am nächsten Wochenende in Berlin, des Li-beskind-Baus (jetzt bereits die bedeutendste architektonische Attraktion der Hauptstadt) ist eine Wegmarke auf der langen Strecke, die seit Kriegsende auf der Suche nach unserer eigenen Ver-gangenheit zurückgelegt wurde. Der bekannte, leicht formulierte Vorwurf einer gesellschaftlichen, ja sogar staatlich organisierten Verdrängung des Völkermords hält bei genauer Betrachtung nicht stand. Das schreckliche Geheimnis des Mordgeschehens in den besetzten Gebieten Polens und Russlands war mit grosser Wahrscheinlichkeit bereits während der Kriegsjahre nach 1942 keines mehr. Und spätestens seit der Befreiung von Bergen-Belsen und Auschwitz 1945 wussten alle, die lesen, sehen und hören konnten, dass die schlimmsten Ahnungen seit der sogenannten „Reichskris-tallnacht“, also seit den bestellten Pogromen, bestätigt und dass die moralische Schuld, die auf Deutschland lasten sollte, grenzenlos waren.
Ein andere Sache ist die juristische Vergangenheitspolitik der 50er Jahre. Begünstigt durch die neue Frontstellung des Kalten Kriegs und die Herausforderungen des Wiederaufbaus, verflüchtigte sich nach den Nürnberger Prozessen die strafrechtliche Verantwortung der Tätergeneration in Ver-jährungsdebatten und grotesken Gerichtsurteilen. Die deutsche Elite, sofern mitschuldig, kam da-von. Nur ein einziger deutscher Richter von Tausenden der Hitler hörigen Juristen wurde schuldig befunden; ins Gefängnis kam er aus Altersgründen nie. Hochrangige Wehrmachtsoffiziere, allemal Mitwisser des Genozids, machten Karriere. Es war die Zeit der „Landserhefte“ - der deutsche Er-oberungsfeldzug als tragischer Abenteuerurlaub für Millionen. Hitlers Finanzminister, mitverant-wortlich für den Zahngold-Transfer aus den KZs in die Schweiz, wirkte als bekannter Lobbyist der Industrie in Bonn. Der Name Globke, Kommentator der nationalsozialistischen Rassengesetze, dann Adenauers Kanzleramtschef, stand für die Kompromissbereitschaft der Unionsregierungen. Bis tief in die 60er Jahre lehrten demokratisch gewendete Historiker, Rechtsgelehrte, Germanisten und Philosophen mit tiefbrauner Vergangenheit an den Universitäten. Nicht alle gaben ihre alten Ansichten auf. Neben der drohenden Bildungs- gab es auch eine offizielle Erinnerungskatastrophe.
In der DDR war das Thema durch die Staatsdoktrin des Antifaschismus erledigt: Alle Täter sassen im kapitalistischen Westen. Nicht der Auschwitz-Prozess, sondern ein amerikanisches Fernsehme-lodram, „Holocaust“, sollte schließlich in den 70er Jahre die massenhafte seelische Kehre bringen: Was, um Gotteswillen, haben wir getan? Die späteren Jenninger-, Walser-, Goldhagen-Debatten öffneten verblüffende Ausblicke in die wechselnden nationalen Seelenlagen: Der Politiker, im-merhin Bundestagspräsident, hatte als erwachsener Mann offenkundig zum ersten Mal Augenzeu-genberichte aus den Lagern gelesen und war erschüttert - und fasziniert. Seine Gefühle konnte er nicht in die dafür längst bereitliegenden, politisch korrekten Betroffenheitsphrasen fassen. Er musste gehen. Der Dichter Walser hatte schon zuviel über Auschwitz gelesen und wollte die Gräuel-Bilder nicht mehr sehen. Das fanden Millionen andere auch, Umfragen bestätigten es. Der junge amerikanische Historiker Goldhagen vermittelte seine jugendlichen begeisterten Lesern und Zuhörern das beruhigende Gefühl, dass es zwar eine Art deutschen, antisemitisch-genozidalen Volkscharakter gegeben hätte - den der Großeltern, versteht sich - , der aber jetzt überwunden sei. Die dritte Generation war gerettet. Die erstaunlichen Widersprüche dieser Debatten bezeugen im Rückblick nur eins: Wir können unserer Geschichte nicht entkommen. Das ist in letzter Instanz ih-re Lehre. Ein Menschenleben nach Kriegsende scheint die oft beschworene Nachkriegszeit ver-spätet, aber nun wirklich anzubrechen: In einer nie zuvor dagewesenen politischen Einmütigkeit baut und restauriert der Staat mit Milliardenaufwand Museen der eigenen Geschichte - durchaus gegen demoskopisch ermittelte Mehrheitsmeinungen, die unter Verschluss bleiben. Die finanziell jahrelang vernachlässigten KZ-Gedenkstätten in Ost- und Westdeutschland, die Berliner Topogra-phie des Terrors, das ästhetisch umstrittene Mahnmal neben dem Brandenburger Tor, das Jüdische Museum, aber auch die zäh vorangetriebene Einrichtung des Zwangsarbeiterfonds signalisieren einen Bewusstseinswandel der politisch Verantwortlichen. Er wäre in den 50er Jahren noch unvor-stellbar gewesen. Dass sich hier ein politisch verwalteter „Sühnestolz“ manifestiere, dass Deutsch-land sogar in einer Art Selbstabrechnung mit teutonischer Gründlichkeit vorgehe, ist ein dialekti-scher Einwand, der davon ausgeht, dass es derart kollektive Gefühlslagen auf nationaler Ebene wirklich geben kann. Die Dinge liegen aber komplizierter: Eine Nation kann sich nicht als Ganzes erinnern, ebenso wenig wie sie sich schämen oder schuldig oder gar stolz fühlen kann; denn sie verfügt nicht über ein kompaktes Einzelbewusstsein, noch über eine kugelrunde Leitkultur. Wenn Kultur der Namen ist für alle Formen des kritischen Selbstgespräches einer Gesellschaft, dann symbolisiert „Erinnerungskultur“ allenfalls die unendlich vielen Formen der Zuwendung einzelner Menschen zu ihren eigenen - vielleicht vergessenen, vielleicht verdrängten - Erfahrungen: Sie können erlebte Wirklichkeit „aus erster Hand“ ebenso betreffen wie durch Kunst und Film, durch Bilder, Bücher und Gespräche, durch Schule. Museum und Universität vermittelte historische Rea-lität. Vergangenheit ist vergangen, doch sie kann von jenem Einzelnen erinnert, also zur Gegen-wart werden. Historische Bildung beruht auf Erinnerung. Ohne sie müsste eine Gesellschaft sich selbst und ihre Institutionen regelmäßig neu erfinden. Soziologen und Demoskopen mögen versu-chen, die kollektiven Summen solcher komplexen Bewusstseinsprozesse zu ziehen, Historiker und Politiker sich bemühen, sie in bester oder auch eigennütziger Absicht „leitkulturell“ zu steuern: Kultur entzieht sich in freien, selbst in totalitären Gesellschaften irgendwann dem staatlichen Zugriff und bleibt unwägbar. Sehr wohl aber bleibt in jedem demokratischen Verfassungsstaat die politische Verantwortung bestehen, den freien Spielraum von Kultur bei Strafe allgemeiner Geist-losigkeit staatlich zu schützen und zu fördern, wie es Artikel 5 des Grundgesetzes fordert. Dem Auftrag dienen heute hunderte von Museen im ganzen Land. Keine anderes Land, mit Ausnahme Frankreichs, dürfte mit solcher Inbrunst „Museumspolitik“ betreiben wie wir. In einer kulturpoli-tisch ersten, bundesweiten Anstrengung war im 19. Jahrhundert das „Germanische Museum“ in Nürnberg entstanden. Im Geist der Romantik sollte die politisch zersplitterte Nation historische, handfeste Kristallisationspunkte ihrer Identität finden. Das Museum ist eine Art Schatzkammer deutscher Kunst- und Alltagsgeschichte geworden. Die deutschen Juden kommen in ihm, von ei-nigen sakralen Kultgegenständen und historischen Hinweisen abgesehen, nicht vor. Das Jüdische Museum zu Berlin, seit einem Jahr unter Bundesverantwortung, soll nach dem Willen seines Di-rektors Michael Blumenthal kein „Holocaust“-Museum werden, sondern die zwei Jahrtausende währende Geschichte der Juden mit (und unter) den Deutschen zeigen. „Wir werden kein Transpa-rent zeigen,“ sagt er, „auf dem steht: Da seht ihr, was ihr verloren habt.“ Das wird auch nicht nötig sein; wer das Museum verlässt, weiß es sowieso. Die elektronische Rekonstruktion des Ghettos von Worms, ein Glanzstück der Ausstellung, bleibt menschenleer.
Es ist im Kern seiner Aussage ein Museum der Abwesenheit, des Verlustes. Aber es ist keine Ausstellung des „Opfervolks“ der Juden. Zu schützen ist das Projekt vor Kritiken, die ihm eine Art Reue- und Versöhnungspolitik unterstellen; weder das eine noch das andere könnte es leisten. Zu schützen ist das Museum und seine Mitarbeiter aber auch vor der bitteren Polemik, „Gedächtnis-theater“ zu verkörpern. Der bereits erhobene Vorwurf ist billig, hier würde ein fragmentarischer jüdischer Lebenszusammenhang in deutscher Vergangenheit aufgebaut, damit wir uns nun als mu-seale „Retter der Opfer“ fühlen können: Das träfe nicht nur die jüdischen Mitarbeiter des Museums, sondern unterstellt der Ausstellung eine magische Wirkung, die sich gegen alle vernünftige Museums-Didaktik entfalten würde. Es geht um einfachere Dinge, in den Worten Michael Blu-menthals: „Wer ist, wer war Jude, und was bedeutete es, in Deutschland Jude zu sein?“ Zu lernen ist, dass die viel beschworene deutsch-jüdische „Symbiose“ ein gelebter Traum war, dass es gleichwohl eine Zeit gab, in der deutsche Juden Außenminister, Buergermeister, demokratische Parteiführer sein konnten, ehe der zur politischen Waffe gewordene Rassismus über sie und die anderen Juden Europas hereinbrach. „Berlin“, so hatte der ehemalige Buergermeister Eberhard Diepgen bei Gelegenheit geseufzt, solle nicht „die Hauptstadt der Reue“ werden - als könnte und sollte es die Gefühlslast aller Deutschen tragen. Aber es ist und war die Hauptstadt, in der vor Kriegsbeginn 173.000 Mitglieder der jüdischen Gemeinde gezählt wurden. Wie sie lebten - aber auch: wie sie starben - und wer all’ die anderen waren, die seit zweitausend Jahren meist in großer Not unter den deutschen Christen existierten, bis sich der Himmel über ihnen vollends verdunkelte - daran wird das Jüdische Museum die Besucher erinnern. Was jeder Einzelne aus dieser Begeg-nung mit deutscher Geschichte macht, wird den wahren Charakter unserer sogenannten „Erinne-rungskultur“ prägen. Sollte es nicht mehr und nicht weniger sein als ein geschärfter Sinn für Tole-ranz, wäre mehr gewonnen, als alle Festtagsreden beschwören können. Das Jüdische Museum weist den Weg in die Gegenwart.
Dass es überhaupt existiert, spricht für sie.