Argument 1
- Die Annahme einer mehr oder weniger kontinuierlichen
Ausbreitung des Islam ist falsch.
Das ist sie lediglich für die hier in Frage stehende Epoche - und auch nur dann, wenn man das Vordringen der Seldschuken in Kleinasien außer Acht lässt. Ansonsten jedoch ist das Hochmittelalter von einer Gegenbewegung gekennzeichnet.
Zum einen war ein bedeutsamer Faktor die Destabilisierung von Byzanz nach Manzikert, die ein Eingreifen des Westens nicht nur strategisch sinnvoll machte, sondern es überhaupt erst ermöglichte - insbesondere die Teilnahme der italienischen Normannen (der militärisch schlagkräftigste Teil des Kreuzfahrerheeres) stieß in Byzanz keineswegs auf Begeisterung; mit denen hatte man fast ebenso viel Ärger wie mit den Seldschuken. Ein starkes Byzanz hätte sich einer solchen (nach eigenem Verständnis) Einmischung in Reichsangelegenheiten, wie sie der erste Kreuzzug darstellte, mit allen Mitteln widersetzt. Sehr erhellend für diese politischen Hintergründe ist hier die (auch in deutscher Übersetzung vorliegende) Alexias der byzantinischen Kaisertochter Anna Komnena.
Zum anderen - dies hier ergänzend - sind die Kreuzzüge nicht isoliert zu betrachten sondern eingebettet in einen größeren Kontext, nämlich den ‚rollback‘ islamischer Eroberungen in Europa. Sie laufen parallel zur spanischen Reconquista und schließen sich unmittelbar an die Vertreibung muslimischer Eroberer an - u.a. aus Sizilien (ab 965 komplett unter islamischer Herrschaft), Malta, Unteritalien (Emirate Tarent, Bari und Brindisi). Bari fiel erst im Jahr der Schlacht von Manzikert. Neben diesen größeren Territorien (und kleineren wie den Balearen oder Malta) gab es starke Stützpunkte u.a. auf Korsika, Sardinien und im Rhonedelta, von denen aus immer wieder Raubzüge unternommen wurden - am spektakulärsten die Plünderung von Genua 1002 und Pisa 1004, aber logistisch deutlich bemerkenswerter (und heute kaum bekannt) die Raubzüge nach Savoyen und in die heutige Westschweiz etwa 150 Jahre vor dem ersten Kreuzzug.
Der erste Kreuzzug setzte diese geopolitische Entwicklung des rollback nahtlos fort - in ihrem Selbstverständnis waren die Kreuzfahrer (durchaus nicht unberechtigt) Rückeroberer ehemals (bzw. formalrechtlich immer noch) byzantinischer Territorien und es gab unter ihnen eine nicht unbedeutende ‚legalistische‘ Fraktion, die die neugegründeten Kreuzfahrerstaaten unter Lehenshoheit des Kaisers von Byzanz stellen wollte. Erst recht waren die Byzantiner der Auffassung, dass die Kreuzfahrer des 1. Kreuzzuges die Aufgabe hatten, nach wie vor existierende byzantinische Rechtsansprüche durchzusetzen; die nahöstlichen Territorien waren ja nicht durch Friedensvertrag o.ä. an die muslimischen Eroberer abgetreten worden.
Mit den Kreuzzügen war allerdings - mit Ausnahme Spaniens - der Zenit des ‚rollback‘ auch schon überschritten, wie die kurze Lebensdauer der Kreuzfahrerstaaten zeigt. Während die Expansion der islamischen Türken in Kleinasien und Osteuropa (der unmittelbare Anlass des ersten Kreuzzuges) ihr Maximum erst fast ein halbes Jahrtausend später vor den Toren Wiens erreichen sollte.
Freundliche Grüße,
Ralf