Moin,
Meiner Meinung nach hat Kant an den Stellen, an denen er
Rigorosität an der Praxis fordert, Unrecht. Das bedeutet aber
nicht, dass das oberste Prinzip (der Kat. Imp.) nicht doch zu
Recht rigoros sein darf. Das oberste Prinzip MUSS sogar
rigoros sein, damit es alle Fälle unter sich fassen kann.
Damit reicht aber das oberste Prinzip noch lange nicht für
alle Einzelbeurteilungen aus. Und erst auf den unteren Ebenen
geht es überhaupt um Genauigkeit. Der Sinn dieser Genauigkeit
ist die Anpassung des obersten Prinzips an die jeweiligen
Gegebenheiten.
Einverstanden.
Um nun unter diesen Voraussetzungen keinen Widerspruch
zwischen den Ebenen zuzulassen, ist es notwendig, das oberste
Prinzip so aufzufassen, dass es nur die formalen Aspekte des
Gegebenen umfasst, die inhaltlichen Aspekte der jeweiligen
Situation aber variabel bleiben. Wenn Kant - wie das die
Mehrzahl der Gelehrten meint - die Rigorosität auch auf der
unteren Ebene gelten lassen will, dann hat er Unrecht (was
ebenfalls die meisten Fachleute meinen). Gleichwohl aber gibt
es einige Menschen, die meinen, dass Kant deswegen nicht
gänzlich im Unrecht ist, sondern nur an dieser
Übergangsstelle.
Ok. Nur erscheint mir dann der praktische Nutzen zumindest zweifelhaft, wenn nicht gar missverständlich (wie ja die Beispiele mit dem Stalinismus oder Nationalsozialismus verdeutlichen).
Kant geht es nicht um die Folgen, sondern um die Absichten.
Das ist ein wichtiger Unterschied. Möchte man nun - wie auch
ich gerne - Kant mit utilitaristischen (also
folgeorientierten) Grundsätzen in Einklang bringen, dann muss
man den Kat. Imp. so auffassen, dass er auch die zu
wünschenden (und natürlich erkennbaren) Folgen mit einbezieht.
Das würde bedeuten, dass man nur diejenigen Folgen für
erstrebenswert erklärt, von denen man meint, dass auch andere
in derselben Situation anerkennen sollten. Damit wäre dem Kat.
Imp. Genüge getan. Über die WIRKLICH erstrebenswerten Folgen
ist damit noch nichts gesagt, sondern dies sagt nur etwas
Damit hab ich auch soweit kein Problem, sondern eher damit:
darüber aus, welche Art von Folgen wir erstreben sollten, nämlich solche, die aus unserer Sicht verallgemeinbar (in der
beschriebenen Weise) wären.
Wie bereits oben angedeutet sieht das, was aus unserer (subjektiven) Sicht verallgemeinbar wäre, vermutlich bei jedem anders aus, je nachdem, was jeder so für ethisch vertretbar hält. Somit liefert Kant zwar ein Mittel, aber keine Grundlage für ethisches Verhalten. Da man jedoch davon ausgehen kann, dass sowieso die meisten Menschen in gewisser Weise nach ihren ethischen Grundsätzen handeln (welche auch immer das sein mögen), wäre der Ansatz von Kant eigentlich überflüssig.
Diese „Leerheit“ des Kat. Imp. ist zwar einerseits ein Makel,
andererseits auch eine Chance. Diese Chance besteht darin,
dass wir moralisch handeln können, ohne alle Folgen kennen zu
müssen. Und das ist doch eigentlich sehr realistisch, gerade
weil wir - wie du sehr richtig sagst - nicht alle Folgen
kennen können.
Schön und gut. Nur befürchte ich, dass man mit Kant keinen gesellschaftlichen Konsens darüber finden wird, wie moralisches Handeln dann nun (inhaltlich) überhaupt aussehen könnte.
Somit halte
ich das (mögliche) Ergebnis einer Handlung als
Entscheidungshilfe zu nehmen für sehr unbefriedigend.
Und genau das tut Kant ja gerade auch nicht, sondern er
orientiert sich an der Absicht des Handelnden (nicht an der
Handlung und nicht an den Folgen). Genau das müsste dir
eigentlich sympathisch sein.
Nicht wenn die Absicht so aussieht, dass die Grundlage jeder subjektive Größenwahn bezüglich dessen sein kann, was jemand meint zur Allgemeingültigkeit erklären zu können.
Wenn ich mich also frage, ob ich moralisch handele, wenn ich
handele, dann muss ich mich (nach Kant zunächst) schlicht
fragen, ob ich meine Handlung für (im genannten Sinn)
verallgemeinerbar halte. Ich muss also von mir als Person und
von meinen Vorlieben prinzipiell absehen. Um mit deinen Worten
zu sprechen: Ich muss nachprüfen, ob meine Motivation auch für
andere zutreffend ist bzw. sein kann und sollte (ganz
abgesehen von den Folgen).
Und genau hier tut sich nämlich die Lücke auf. Wenn ich von mir als Person und meinen Vorlieben absehen soll, worauf soll ich mich dann laut Kant bei meiner Prüfung stützen? Die einzige Motivation, die ich im Sinne von Kant geltend lassen würde, wäre Altruismus. Hätte Kant das im Sinn gehabt, hätte er es aber auch gleich so nennen können. Was du oben schreibst klingt zwar recht konkret, bleibt aber in der inhaltlichen Ausgestaltung weiterhin vage.
Wenn ich ein Verhältnis eingehe, von dem ich nicht weiß, ob es
schädlich oder stabilisieren für die betreffende Ehe ist, dann
muss ich mich (um moralisch in diesem Sinn zu sein) fragen, ob
auch jede andere Person an meiner Stelle meiner Einschätzung
nach so handeln sollte. Und wenn man die Folgen nicht kennt,
diese aber für wesentlich hält, dann sollte man eben - auch
gegen die eigene Präferenz - eher die Finger davon lassen (um
es mal salopp zu sagen).
Nun, der eine wird vielleicht sagen, jeder andere, also auch ich selbst, sollte das Risiko ruhig eingehen, der andere wird sagen, lieber die Finger davon lassen, falls der Schuss mal nach hinten losgeht. Letztendlich wären beide vermutlich davon überzeugt, richtig zu handeln, und somit auch davon überzeugt, dass jede andere Person ebenfalls so handeln sollte.
Und in diesem Sinn ist auch Mitgefühl durchaus kantisch: wenn
ich nämlich der Meinung bin, dass alle Menschen (unabhängig
von ihren jeweiligen Präferenzen) Mitgefühl in jeder Situation
zur Beurteilung der Gesamtsituation UNBEDINGT (also rigoros!)
mit heranziehen sollten.
Der entscheidende Unterschied ist, dass Mitgefühl in der rigorosen Ausprägungsform altruistisches Handeln wäre, also unbedingt die Entscheidung zugunsten anderer Wesen. Sicher bleibt auch dies in den meisten Fällen ein Ideal, aber im Gegensatz zu Kant hat man hier etwas sehr konkretes, an das man sich annähren kann.
Richtig ist aus meiner Sicht: Kant liefert die Idee (da sind
wir uns einig) und die Methode (an anderen Textstellen, wie
ich schon sagte), bleibt aber in der Umsetzung (seiner
Beispiele) für die jeweilige Situation zu sehr an der
Rigorositätsforderung hängen, weil er den richtigen
Zusammenhang seines obersten Prinzips mit der
Folgeneinschätzung nicht sieht (bzw. noch nicht sehen konnte,
weil der Utilitarismus, also diejenige Ethik, die die Folgen
als Handlungsbeurteilungsgrundlage für wesentlich ansieht erst
später entstanden ist).
Ist das denn nun etwas anderes, als was ich eingangs sagte, nämlich dass Kant abstrakt ist und bleibt?
Natürlich. Es geht ja auch um zwei völlig unterschiedliche
Ansätze.
Das bestreite ich, wie du aus meinen Ausführungen sicher
herauslesen kannst.
Damit sind wir auch wohl noch nicht durch 
Gruß
Marion