Kants Kategorischer Imperativ

Lieber Dahinden

Lieber Voltaire

„Soll ich meinem sterbenskrankem, schwer leidendem Vater ein
Mittel verabreichen, um sein Leiden zu beenden?“ Individuell
mag dies eine richtige Lösung sein

Das Problem ist, dass derjenige, der es seinem Vater verabreicht, wohl der Erbe ist. - Man kann nun meinetwegen den Chefarzt holen und schauen, was der tut. Aber der kennt wiederum den Vater nicht. - Warum ich jetzt eine Sterbehilfe-Debatte vom Stapel lasse? Nun, weil Du ein Beispiel für (echte) Einzelfallgerechtigkeit geben wolltest, und man kann meiner Ansicht nach keine solchen Beispiele geben.

Aber einiges ist und bleibt jederzeit wahr.

Völlig richtig. Bloß was?

Das kommt darauf an, Wem man vertraut.

Viele Grüße
Voltaire

Gruss
Mike

Moin Gandalf,

Tiere, die artgerecht gehalten werden, bzw. nach Öko-Standards
alá Demeter haben eine bessere Ökobilanz als intensiv
gehaltene Tiere.

Da sieht man mal, wieviel ich von Hühnerhaltung verstehe :smile: Aber ich finde andererseits wird durch dieses Beispiel auch klar, dass Vernunft nur ein Mittel sein kann, um ein vorher gestecktes Ziel zu erreichen. Über die (ethische) Qualität des Ziels, das durch die Vernunft erreicht wird (Ökobilanz, preiswerte Eier etc.) sagt die Vernunft an sich meiner Meinung nach nichts aus.

Gruß
Marion

Moin,

Nach außen hin mag die Situation ja sogar identisch sein
(verheirateter Partner), aber inhaltlich? Es gibt
außereheliche Verhältnisse, die Ehen zerstören, und
außereheliche Verhältnisse, die Ehen stabilsieren (nur
Überschauen wir die Konsequenz unseres Verhaltens nunmal
leider nicht restlos in dem Moment, wo eine Entscheidung von
uns gefordert wird) .

hier forderst du gerade die Genauigkeit, die du eigentlich
nicht willst.

Nicht ich fordere diese Genauigkeit, sonder meiner Meinung nach erfordert Kant diese Genauigkeit, wollte man seinen Ansatz tatsächlich in die Praxis umsetzen.

Der konkrete Vergleich ist (auch nach Kant) wieder eine Sache
der Urteilskraft, formal kann man nur sagen, dass die
bedeutsamen Elemente einer Situation die gleichen sein müssen.
Es ist also (in diesem Kontext) nicht sinnvoll, die
„Verhältnisse, die eine Ehe zerstören“ mit den „Verhältnissen,
die Ehen stabilisieren“ zu vergleichen, denn das einzige, was
sie ähnlich sein lässt, ist, dass es „Verhältnisse“ sind.
Vielmehr ist zu fragen - und das ist jetzt durchaus formal und
nicht inhaltlich - ob wir „Verhältnisse, die Ehen zerstören“
tolerieren, ABGESEHEN von den übrigen Umständen. In diesem
Kontext ist also die Frage der möglichen Zerstörung das
entscheidende Moment.

Ok, akzeptiert. Aber das würde meiner Meinung nach voraussetzen, dass wir uns in dem Moment, wo die Entscheidung gefordert ist, schon über die Konsequenz unseres Handels einwandfrei im Klaren sind. Im Allgemeinen weiß man allerdings erst nachher, ob ein „Verhältnis“ eine Ehe zerstört oder stabilisiert hat. Wenn wir immer schon wüssten, welche Konsequenzen eine Entscheidung letztendlich hat, wäre es ja einfach. Das Problem ist aber ja doch, dass wir uns ständig entscheiden müssen, ohne uns wirklich über mögliche Konsequenzen im Klaren zu sein. Wir brauchen somit eine Entscheidungshilfe, die bereits die Handlung an sich betrifft. Und hier versagt Kant meiner Meinung nach, weil völlig identische Handlungen ganz unterschiedliche Konsequenzen haben können, uns also die „bedeutsamen Elemente“, wie du sie oben genannt hast, gar nicht erkennbar sind.

Es gibt situationsbestimmende und situationsmarginale
Eigenschaften. Sollten im Falle des späteren Andershandelns
die situationsbestimmenden Eigenschaften der Situation
dieselben sein (oder hinreichend ähnlich, was wieder die
Urteilskraft zu bestimmen hätte), dann müsste man sich zum
späteren Zeitpunkt vorwerfen, zum früheren Zeitpunkt die
falsche Entscheidung getroffen zu haben. Das ist verzeihlich,
aber trotzdem nicht angenehm.

Das Problem ist aber ja, dass wir in der Regel gar nicht wissen, wie eine Sache ausgegangen wäre, wenn wir uns anders entschieden hätten. Vielleicht ja noch schlimmer. Somit halte ich das (mögliche) Ergebnis einer Handlung als Entscheidungshilfe zu nehmen für sehr unbefriedigend.

Man kann natürlich der
Adenauerschen Doktrin folgend sagen, dass das eigene Geschwätz
von gestern mich nichts mehr angeht (was auch Herr A.
natürlich nicht ganz so streng, sondern eher witzig gemeint
hat), aber dann gibt es gar keinen Maßstab des Handelns. Das
ist vertretbar, aber unbefriedigend.

Es gibt ja andere Maßstäbe, als das Ergebnis. Zum Beispiel die Motivation.

Du argumentierst auf der Ebene dessen, was ist , was
geschieht, die Kantische Ethik und die philosophische Ethik
allgemein zielt aber auch das, was sein soll. Beides
darf man nicht verwechseln.

Verwechseln sicherlich nicht, aber wenn das was sein soll, mit keinerlei Hilfe bei Entscheidungen bringt, die das betreffen, was ist, dann bleibt es eben ausschließlich abstrakt, und genau da war ja auch mein anfänglicher Vorwurf.

Das ist richtig, trifft aber Kant nicht. Denn Kants Ansicht
nach geht es nicht darum, sich richtig zu verhalten, sondern
darum, die richtige ABSICHT zu haben. Wer also nach Kant
falsch handelt, aber in guter Absicht, handelt trotzdem
moralisch. Nur muss sich eben diese Absicht nach dem
Kategorischen Imperativ richten und allgemeingültig gedacht
sein.

Kannst du mal ein konkretes Beispiel nennen, wie das praktisch aussehen könnte?

Natürlich kann man Mitgefühl haben, aber das schreibt - wie
Kant auch - immer noch keine konkreten Handlungen vor.

Sicher. Mitgefühl ist ja keine abstrakte Idee. Jemand, der einem Wesen Mitgefühl entgegenbringt, wird diesem z.B. nicht schaden wollen. Mitgefühl mag keine konkrete Handlungsanweisung sein (um die ging es mir wie gesagt ja auch nicht), aber es ist als Motivation eine Grundlage, die bestimmte Handlungen nach sich zieht, die z.B. anders aussehen als Handlungen, bei denen z.B. Hass die Grundlage (oder Motivation) ist.

Wer sagt denn, dass man „konkrete Anweisungen“ braucht? …

Das sagst du selbst, indem du die fehlenden „konkreten
Anweisungen“ bei Kant als mangelnde Praxisbezogenheit
geißelst.

Kants Vorstellungen funktionieren meiner Meinung nach in der Praxis eben auch nicht anders. Kant liefert somit eine Idee, aber bleibt die Methode schuldig, wie diese nun in die Praxis umgesetzt werden soll. Andere Vorstellungen, z.B. meine, funktionieren jedoch ganz gut ohne konkrete Handlungsanweisungen.

Ich stimme deinen Ausführen zum Mitfühlen durchaus
zu und auch deine Personenbeispiele sind richtig. Aber du
misst mit zweierlei Maß.

Natürlich. Es geht ja auch um zwei völlig unterschiedliche Ansätze. Wenn jemand mit zwei unterschiedlichen Fahrzeugen eine Wegstrecke zurücklegen will, dann kannst du dem Fahrradfahrer nicht vorwerfen, er messe mit zweierlei Maß, wenn er dem Motorradfahrer sagt, er solle doch besser seinen Motor einschalten, wenn er losfahren will.

Gruß
Marion

Lieber Dahinden

„Soll ich meinem sterbenskrankem, schwer leidendem Vater ein
Mittel verabreichen, um sein Leiden zu beenden?“ Individuell
mag dies eine richtige Lösung sein

Das Problem ist, dass derjenige, der es seinem Vater
verabreicht, wohl der Erbe ist. - Man kann nun meinetwegen den
Chefarzt holen und schauen, was der tut. Aber der kennt
wiederum den Vater nicht. - Warum ich jetzt eine
Sterbehilfe-Debatte vom Stapel lasse? Nun, weil Du ein
Beispiel für (echte) Einzelfallgerechtigkeit geben wolltest,
und man kann meiner Ansicht nach keine solchen Beispiele
geben.

Ich versuche, mit meinem Beispiel zu verstehen zu geben, dass es
Situationen gibt, in denen der KI nicht greift. Vor allem in Fragestellungen
mit einem moralischen Aspekt lässt sich nur schwer einschätzen, was
passieren würde, wenn alle Menschen meinem Beispiel folgten.
Die Kritik an meinem Exempel ist berechtigt, gleichwohl findet
sich mit Sicherheit eine Situation, die als Einzelfall gerecht sein mag
aber als Kollektivlösung nichts taugt. Mein Beispiel würde keine
Sterbehilfe-Debatte sondern eine Debatte über Gerechtigkeit auslösen.
Damit würden wir am Ausgangs-Thema vorbeireden.

Aber einiges ist und bleibt jederzeit wahr.

Völlig richtig. Bloß was?

Das kommt darauf an, Wem man vertraut.

Ich vertraue der menschlichen Unzulänglichkeit, die Welt zu erkennen.

Viele Grüße
Voltaire

Lieber Dahinden

Lieber Voltaire

Ich versuche, mit meinem Beispiel zu verstehen zu geben, dass
es
Situationen gibt, in denen der KI nicht greift. Vor allem in
Fragestellungen
mit einem moralischen Aspekt lässt sich nur schwer
einschätzen, was
passieren würde, wenn alle Menschen meinem Beispiel folgten.

Einen Versuch wäre es allemal wert - wohlverstanden, wenn nicht jeder das Gleiche, aber jeder das Seine bekäme…in der Tat (wie Du goldrichtig formulierst) eine Gerechtigkeitsdebatte. Aber genau diese steht hinter unserer Problematik.

Man könnte also statt von Sittenlehre auch von der Lehre der Gerechtigkeit im eigenen Leben sprechen, gewissermassen Gerechtigkeit im eigenen Machtbereich

Die Kritik an meinem Exempel ist berechtigt, gleichwohl findet
sich mit Sicherheit eine Situation, die als Einzelfall gerecht
sein mag
aber als Kollektivlösung nichts taugt.

Nein, eben nicht.

Mein Beispiel würde
keine
Sterbehilfe-Debatte sondern eine Debatte über Gerechtigkeit
auslösen.

Über gerechtes Verhalten in einem Sterbehilfe-Fall…

Damit würden wir am Ausgangs-Thema vorbeireden.

Nein, mir scheint es hier sehr interessant von einer neuen Seite beleuchtet.

Aber einiges ist und bleibt jederzeit wahr.

Völlig richtig. Bloß was?

Das kommt darauf an, Wem man vertraut.

Ich vertraue der menschlichen Unzulänglichkeit, die Welt zu
erkennen.

Diese ist kein Jemand. Und wir armen kleinen Erdenbürger brauchen Leute, denen wir vertrauen, weil wir sonst kaum Wissen haben. Wenn Du wirklich nur der Unzulänglichkeit vertraust, hast Du kein Wissen vom Hörensagen. Der allergrösste Teil unseres Wissens ist doch solches, das wir durch Glauben (vom Hörensagen) erstmal angenommen haben.

Aber es ist schon zuzugeben, dass dieses Wissen kein steinhartes Wissen ist, sondern irren kann („errare humanum est“). Umso wertvoller ist ein inneres Gesetz (Kant nennt es „das moralische Gesetz“), im eigenen Gewissen, das diese Überflutung durch unsicheres Wissen durch einen oder mehrere Dämme etwas ausrichtet.

Viele Grüße
Voltaire

Gruss
Mike

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„Was du nicht willst, was man dir tu, das füge keinem andern
zu.“

Liebe tina81
Ich kenne den KI so:
„Handle so, als ob die Maxime deines Willens jederzeit
zugleich als Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung gelten
könne.“

Es gibt nichts Perfektes auf der Welt. Auch nicht von einem
der intelligentesten Menschen, die je auf dieser Welt gelebt
haben.
Viele Grüße
Voltaire

Hallo Voltaire und tina 81,

Man gibt zwar oft beiden Formulierungen das gleiche Prädikat „Goldene Regel“;
Die Kantsche Formulierung läßt mir allerdings die Haare zu Berge stehen, wenn ich z.B. an die mögliche Maxime denke: „Töte so viele Menschen wie möglich, damit Du geachtet und gefürchtet wirst.“ Und auch weniger offensichtlich grausame und dennoch unmenschliche sind denkbar, was sich der gute Kant gar nicht vorstellen konnte.

Und genau das spricht für ihn.

ganz herzlich
Friedhelm

Hallo Marion,

Nicht ich fordere diese Genauigkeit, sonder meiner Meinung
nach erfordert Kant diese Genauigkeit, wollte man seinen
Ansatz tatsächlich in die Praxis umsetzen.

wir haben uns etwas verheddert, denn wir argumentieren im Moment auf zwei verschiedenen Gleisen. Einerseits diskutieren wir über die Rigorosität Kants, andererseits darüber, wie man diese Rigorosität überwinden kann (und ob man das kann, ohne Kant vollständig abzulehnen).

Meiner Meinung nach hat Kant an den Stellen, an denen er Rigorosität an der Praxis fordert, Unrecht. Das bedeutet aber nicht, dass das oberste Prinzip (der Kat. Imp.) nicht doch zu Recht rigoros sein darf. Das oberste Prinzip MUSS sogar rigoros sein, damit es alle Fälle unter sich fassen kann. Damit reicht aber das oberste Prinzip noch lange nicht für alle Einzelbeurteilungen aus. Und erst auf den unteren Ebenen geht es überhaupt um Genauigkeit. Der Sinn dieser Genauigkeit ist die Anpassung des obersten Prinzips an die jeweiligen Gegebenheiten.

Um nun unter diesen Voraussetzungen keinen Widerspruch zwischen den Ebenen zuzulassen, ist es notwendig, das oberste Prinzip so aufzufassen, dass es nur die formalen Aspekte des Gegebenen umfasst, die inhaltlichen Aspekte der jeweiligen Situation aber variabel bleiben. Wenn Kant - wie das die Mehrzahl der Gelehrten meint - die Rigorosität auch auf der unteren Ebene gelten lassen will, dann hat er Unrecht (was ebenfalls die meisten Fachleute meinen). Gleichwohl aber gibt es einige Menschen, die meinen, dass Kant deswegen nicht gänzlich im Unrecht ist, sondern nur an dieser Übergangsstelle.

voraussetzen, dass wir uns in dem Moment, wo die Entscheidung
gefordert ist, schon über die Konsequenz unseres Handels
einwandfrei im Klaren sind.

Kant geht es nicht um die Folgen, sondern um die Absichten. Das ist ein wichtiger Unterschied. Möchte man nun - wie auch ich gerne - Kant mit utilitaristischen (also folgeorientierten) Grundsätzen in Einklang bringen, dann muss man den Kat. Imp. so auffassen, dass er auch die zu wünschenden (und natürlich erkennbaren) Folgen mit einbezieht. Das würde bedeuten, dass man nur diejenigen Folgen für erstrebenswert erklärt, von denen man meint, dass auch andere in derselben Situation anerkennen sollten. Damit wäre dem Kat. Imp. Genüge getan. Über die WIRKLICH erstrebenswerten Folgen ist damit noch nichts gesagt, sondern dies sagt nur etwas darüber aus, welche Art von Folgen wir erstreben sollten, nämlich solche, die aus unserer Sicht verallgemeinbar (in der beschriebenen Weise) wären.

Diese „Leerheit“ des Kat. Imp. ist zwar einerseits ein Makel, andererseits auch eine Chance. Diese Chance besteht darin, dass wir moralisch handeln können, ohne alle Folgen kennen zu müssen. Und das ist doch eigentlich sehr realistisch, gerade weil wir - wie du sehr richtig sagst - nicht alle Folgen kennen können.

Somit halte
ich das (mögliche) Ergebnis einer Handlung als
Entscheidungshilfe zu nehmen für sehr unbefriedigend.

Und genau das tut Kant ja gerade auch nicht, sondern er orientiert sich an der Absicht des Handelnden (nicht an der Handlung und nicht an den Folgen). Genau das müsste dir eigentlich sympathisch sein.

Es gibt ja andere Maßstäbe, als das Ergebnis. Zum Beispiel die
Motivation.

Das ist Kants Position: Es kommt auf die Absicht an.

Hilfe bei Entscheidungen

Wenn ich mich also frage, ob ich moralisch handele, wenn ich handele, dann muss ich mich (nach Kant zunächst) schlicht fragen, ob ich meine Handlung für (im genannten Sinn) verallgemeinerbar halte. Ich muss also von mir als Person und von meinen Vorlieben prinzipiell absehen. Um mit deinen Worten zu sprechen: Ich muss nachprüfen, ob meine Motivation auch für andere zutreffend ist bzw. sein kann und sollte (ganz abgesehen von den Folgen).

Kannst du mal ein konkretes Beispiel nennen, wie das praktisch
aussehen könnte?

Wenn ich ein Verhältnis eingehe, von dem ich nicht weiß, ob es schädlich oder stabilisieren für die betreffende Ehe ist, dann muss ich mich (um moralisch in diesem Sinn zu sein) fragen, ob auch jede andere Person an meiner Stelle meiner Einschätzung nach so handeln sollte. Und wenn man die Folgen nicht kennt, diese aber für wesentlich hält, dann sollte man eben - auch gegen die eigene Präferenz - eher die Finger davon lassen (um es mal salopp zu sagen).

Und in diesem Sinn ist auch Mitgefühl durchaus kantisch: wenn ich nämlich der Meinung bin, dass alle Menschen (unabhängig von ihren jeweiligen Präferenzen) Mitgefühl in jeder Situation zur Beurteilung der Gesamtsituation UNBEDINGT (also rigoros!) mit heranziehen sollten.

Kant liefert somit eine
Idee, aber bleibt die Methode schuldig, wie diese nun in die
Praxis umgesetzt werden soll.

Richtig ist aus meiner Sicht: Kant liefert die Idee (da sind wir uns einig) und die Methode (an anderen Textstellen, wie ich schon sagte), bleibt aber in der Umsetzung (seiner Beispiele) für die jeweilige Situation zu sehr an der Rigorositätsforderung hängen, weil er den richtigen Zusammenhang seines obersten Prinzips mit der Folgeneinschätzung nicht sieht (bzw. noch nicht sehen konnte, weil der Utilitarismus, also diejenige Ethik, die die Folgen als Handlungsbeurteilungsgrundlage für wesentlich ansieht erst später entstanden ist).

Natürlich. Es geht ja auch um zwei völlig unterschiedliche
Ansätze.

Das bestreite ich, wie du aus meinen Ausführungen sicher herauslesen kannst.

Gruß

Bona

Moin,

Meiner Meinung nach hat Kant an den Stellen, an denen er
Rigorosität an der Praxis fordert, Unrecht. Das bedeutet aber
nicht, dass das oberste Prinzip (der Kat. Imp.) nicht doch zu
Recht rigoros sein darf. Das oberste Prinzip MUSS sogar
rigoros sein, damit es alle Fälle unter sich fassen kann.
Damit reicht aber das oberste Prinzip noch lange nicht für
alle Einzelbeurteilungen aus. Und erst auf den unteren Ebenen
geht es überhaupt um Genauigkeit. Der Sinn dieser Genauigkeit
ist die Anpassung des obersten Prinzips an die jeweiligen
Gegebenheiten.

Einverstanden.

Um nun unter diesen Voraussetzungen keinen Widerspruch
zwischen den Ebenen zuzulassen, ist es notwendig, das oberste
Prinzip so aufzufassen, dass es nur die formalen Aspekte des
Gegebenen umfasst, die inhaltlichen Aspekte der jeweiligen
Situation aber variabel bleiben. Wenn Kant - wie das die
Mehrzahl der Gelehrten meint - die Rigorosität auch auf der
unteren Ebene gelten lassen will, dann hat er Unrecht (was
ebenfalls die meisten Fachleute meinen). Gleichwohl aber gibt
es einige Menschen, die meinen, dass Kant deswegen nicht
gänzlich im Unrecht ist, sondern nur an dieser
Übergangsstelle.

Ok. Nur erscheint mir dann der praktische Nutzen zumindest zweifelhaft, wenn nicht gar missverständlich (wie ja die Beispiele mit dem Stalinismus oder Nationalsozialismus verdeutlichen).

Kant geht es nicht um die Folgen, sondern um die Absichten.
Das ist ein wichtiger Unterschied. Möchte man nun - wie auch
ich gerne - Kant mit utilitaristischen (also
folgeorientierten) Grundsätzen in Einklang bringen, dann muss
man den Kat. Imp. so auffassen, dass er auch die zu
wünschenden (und natürlich erkennbaren) Folgen mit einbezieht.
Das würde bedeuten, dass man nur diejenigen Folgen für
erstrebenswert erklärt, von denen man meint, dass auch andere
in derselben Situation anerkennen sollten. Damit wäre dem Kat.
Imp. Genüge getan. Über die WIRKLICH erstrebenswerten Folgen
ist damit noch nichts gesagt, sondern dies sagt nur etwas

Damit hab ich auch soweit kein Problem, sondern eher damit:

darüber aus, welche Art von Folgen wir erstreben sollten, nämlich solche, die aus unserer Sicht verallgemeinbar (in der
beschriebenen Weise) wären.

Wie bereits oben angedeutet sieht das, was aus unserer (subjektiven) Sicht verallgemeinbar wäre, vermutlich bei jedem anders aus, je nachdem, was jeder so für ethisch vertretbar hält. Somit liefert Kant zwar ein Mittel, aber keine Grundlage für ethisches Verhalten. Da man jedoch davon ausgehen kann, dass sowieso die meisten Menschen in gewisser Weise nach ihren ethischen Grundsätzen handeln (welche auch immer das sein mögen), wäre der Ansatz von Kant eigentlich überflüssig.

Diese „Leerheit“ des Kat. Imp. ist zwar einerseits ein Makel,
andererseits auch eine Chance. Diese Chance besteht darin,
dass wir moralisch handeln können, ohne alle Folgen kennen zu
müssen. Und das ist doch eigentlich sehr realistisch, gerade
weil wir - wie du sehr richtig sagst - nicht alle Folgen
kennen können.

Schön und gut. Nur befürchte ich, dass man mit Kant keinen gesellschaftlichen Konsens darüber finden wird, wie moralisches Handeln dann nun (inhaltlich) überhaupt aussehen könnte.

Somit halte
ich das (mögliche) Ergebnis einer Handlung als
Entscheidungshilfe zu nehmen für sehr unbefriedigend.

Und genau das tut Kant ja gerade auch nicht, sondern er
orientiert sich an der Absicht des Handelnden (nicht an der
Handlung und nicht an den Folgen). Genau das müsste dir
eigentlich sympathisch sein.

Nicht wenn die Absicht so aussieht, dass die Grundlage jeder subjektive Größenwahn bezüglich dessen sein kann, was jemand meint zur Allgemeingültigkeit erklären zu können.

Wenn ich mich also frage, ob ich moralisch handele, wenn ich
handele, dann muss ich mich (nach Kant zunächst) schlicht
fragen, ob ich meine Handlung für (im genannten Sinn)
verallgemeinerbar halte. Ich muss also von mir als Person und
von meinen Vorlieben prinzipiell absehen. Um mit deinen Worten
zu sprechen: Ich muss nachprüfen, ob meine Motivation auch für
andere zutreffend ist bzw. sein kann und sollte (ganz
abgesehen von den Folgen).

Und genau hier tut sich nämlich die Lücke auf. Wenn ich von mir als Person und meinen Vorlieben absehen soll, worauf soll ich mich dann laut Kant bei meiner Prüfung stützen? Die einzige Motivation, die ich im Sinne von Kant geltend lassen würde, wäre Altruismus. Hätte Kant das im Sinn gehabt, hätte er es aber auch gleich so nennen können. Was du oben schreibst klingt zwar recht konkret, bleibt aber in der inhaltlichen Ausgestaltung weiterhin vage.

Wenn ich ein Verhältnis eingehe, von dem ich nicht weiß, ob es
schädlich oder stabilisieren für die betreffende Ehe ist, dann
muss ich mich (um moralisch in diesem Sinn zu sein) fragen, ob
auch jede andere Person an meiner Stelle meiner Einschätzung
nach so handeln sollte. Und wenn man die Folgen nicht kennt,
diese aber für wesentlich hält, dann sollte man eben - auch
gegen die eigene Präferenz - eher die Finger davon lassen (um
es mal salopp zu sagen).

Nun, der eine wird vielleicht sagen, jeder andere, also auch ich selbst, sollte das Risiko ruhig eingehen, der andere wird sagen, lieber die Finger davon lassen, falls der Schuss mal nach hinten losgeht. Letztendlich wären beide vermutlich davon überzeugt, richtig zu handeln, und somit auch davon überzeugt, dass jede andere Person ebenfalls so handeln sollte.

Und in diesem Sinn ist auch Mitgefühl durchaus kantisch: wenn
ich nämlich der Meinung bin, dass alle Menschen (unabhängig
von ihren jeweiligen Präferenzen) Mitgefühl in jeder Situation
zur Beurteilung der Gesamtsituation UNBEDINGT (also rigoros!)
mit heranziehen sollten.

Der entscheidende Unterschied ist, dass Mitgefühl in der rigorosen Ausprägungsform altruistisches Handeln wäre, also unbedingt die Entscheidung zugunsten anderer Wesen. Sicher bleibt auch dies in den meisten Fällen ein Ideal, aber im Gegensatz zu Kant hat man hier etwas sehr konkretes, an das man sich annähren kann.

Richtig ist aus meiner Sicht: Kant liefert die Idee (da sind
wir uns einig) und die Methode (an anderen Textstellen, wie
ich schon sagte), bleibt aber in der Umsetzung (seiner
Beispiele) für die jeweilige Situation zu sehr an der
Rigorositätsforderung hängen, weil er den richtigen
Zusammenhang seines obersten Prinzips mit der
Folgeneinschätzung nicht sieht (bzw. noch nicht sehen konnte,
weil der Utilitarismus, also diejenige Ethik, die die Folgen
als Handlungsbeurteilungsgrundlage für wesentlich ansieht erst
später entstanden ist).

Ist das denn nun etwas anderes, als was ich eingangs sagte, nämlich dass Kant abstrakt ist und bleibt?

Natürlich. Es geht ja auch um zwei völlig unterschiedliche
Ansätze.

Das bestreite ich, wie du aus meinen Ausführungen sicher
herauslesen kannst.

Damit sind wir auch wohl noch nicht durch :smile:

Gruß
Marion

Hallo,

Ok. Nur erscheint mir dann der praktische Nutzen
zumindest zweifelhaft, wenn nicht gar missverständlich (wie ja
die Beispiele mit dem Stalinismus oder Nationalsozialismus
verdeutlichen).

diese Missverständnisse resultieren nur aus falschem Verständnis, weil ja die von mir schon angesprochenen Aspektformulierungen des Kat. Imp. nicht beachtet werden. Beide von dir genannten Standpunkte sind interessebezogen, also das genaue Gegenteil von dem, was Kant intendiert.

Wie bereits oben angedeutet sieht das, was aus unserer
(subjektiven) Sicht verallgemeinbar wäre, vermutlich bei jedem
anders aus, je nachdem, was jeder so für ethisch vertretbar hält.

Auch hier liegt das Missverständnis darin, dass die verschiedenen Formulierungen nicht genügend berücksichtigt werden.

Schön und gut. Nur befürchte ich, dass man mit Kant keinen
gesellschaftlichen Konsens darüber finden wird, wie
moralisches Handeln dann nun (inhaltlich) überhaupt aussehen könnte.

Moralität betrifft nach Kant nicht das Handeln, sondern die Absicht.

Nicht wenn die Absicht so aussieht, dass die Grundlage jeder
subjektive Größenwahn bezüglich dessen sein kann, was jemand
meint zur Allgemeingültigkeit erklären zu können.

Kann er ja nicht, s. o.

Und genau hier tut sich nämlich die Lücke auf. Wenn ich von
mir als Person und meinen Vorlieben absehen soll, worauf soll
ich mich dann laut Kant bei meiner Prüfung stützen?

Auf die Vereinbarkeit mit den verschiedenen Formulierungen des Kat. Imp.

Altruismus

Nein, Allgemeinwohl.

Letztendlich wären beide vermutlich davon
überzeugt, richtig zu handeln, und somit auch davon überzeugt,
dass jede andere Person ebenfalls so handeln sollte.

Das stimmt, sie würden nach Kant moralisch handeln, eben weil sie der Überzeugung sind, dass sie im Sinne des Allgemeinwohls so handeln sollten. Ob sie allerdings moralisch richtig handeln, würde wiederum nur eine Überprüfung anhand der diversen Formulierungen darlegen können.

Der entscheidende Unterschied ist, dass Mitgefühl in der
rigorosen Ausprägungsform altruistisches Handeln wäre, also
unbedingt die Entscheidung zugunsten anderer Wesen.

Auch altruistisches Verhalten ist nicht immer von den Interessen bestimmt. Zum Beispiel kann man auch gelegentlich etwas gegen den Willen von Jemandem und doch in seinem Sinne entscheiden (bei Kindern oder bestimmten Patienten von Ärzten ist das sofort einleuchtend). Daher ist Altruismus allein genommen genauso leer wie das von dir kritisierte Verfahren.

Ist das denn nun etwas anderes, als was ich eingangs sagte,
nämlich dass Kant abstrakt ist und bleibt?

Einem Physiker, der eine Formel entdeckt, würdest du ja auch keine Abstraktheit vorwerfen, jedenfalls nicht in pejorativer Absicht. Wenn du also das Wort „abstrakt“ in positiver Bedeutung nimmst, nämlich im Sinne von „abgelöst von Einzelaspekten“, dann kann ich mit der Formulierung insofern anfreunden, als es das Wort „ist“ betrifft. Wogegen das Wort „bleibt“ wiederum die Konkretisierungsversuche Kant durch die genannten Formulierungsunterschiede unberechtigterweise außer Acht lässt.

Gruß

Bona