Karneval/Zirkus-Bedrohung west. Subjektjektivität?

Guten Tag.

Ergeht es einigen von Ihnen eventuell auch so:

Beim Anblick eines Zirkus-Zeltes vor den Stadttoren überfällt Sie ein leichtes Unbehagen?
Womöglich ist das nicht der Fall, aber auffällig doch, dass das Motiv des Karnevals und des Schaustellers in der Pop-Kultur zumeist mit einem negativ im Sinne von horroresk konnotiertem Surrealismus verbunden wird.
Ich denke da an Nick Caves „The Carny“, Katharine Dunns „Geek“, das Motiv der „Freak Show“ - die Liste ist lang.

Was sind nun die kulturgeschichtlichen Gründe für diese „uneasiness“, wie der Brite sagt, gegenüber dem event „Zirkus“ seinem Milieu?

Drei Thesen unterschiedlicher Tiefe und Komplexität:

  1. Paradoxe Identifikation, soll heißen:
    Die zur Schau getragene Fröhlichkeit, das bunte Leben, erinnert einen negativ daran, dass die Welt voller schlechter Dinge ist. Es wirkt ein - wie auch immer bewusster - Mechanismus der Scham, des schlechten Gewissens oder dergleichen, der die Abwendung und die zeitweise Gleichgültigkeit, ja das bewusste Wegschauen von diesen und Ignorieren dieser Dinge zu kompensieren sucht.

  2. Der Karneval/Zirkus als (unbewusster) Feind kapitalistischer Zurichtung:
    Ein Konglomerat aus verschiedenen, polit-ökonomisch bedingten Zwängen (Uniformität, Zeitstrukturierung, Sesshaftigkeit, Austauschbarkeit auf anonymen Märkten, etc. - nachzuschlagen bei Marx, Postone und den anderen, ähem, Marxisten), die allesamt auf eine Durchrationalisierung des Menschen hinauslaufen, Subjektivität deswegen erst hardcore-rational erzwingen einerseits, andererseits diese Subjektivität zu einer nackt rationalen machen, sorgt für eine Verdrängung aller als „irrational“ markierter Phänomene, sowohl der Außenwelt, als auch des Leibes und letztlich auch der emotionalen Affekte und der Fantasie, d.i. der Einbildungskraft im kantschen Sinne. Das ganze sublimierte Zeug muss nun irgendwie heraus und aufgrund der qua Vernunft festgeschriebenen Demarkationen tut es das in Form eines - Unbehagens. (diese These verfolgt also zweierlei Themen:
    a) Entwicklung von Rationalitätsstrukturen als Voraussetzung der Möglichkeit moderner Subjektivität; Verdrängung, Sublimierung, Ausbruch [bei bestimmten Triggern] und Externalisierung in Form eines Unbehagens
    b) durch die Einübung und Zementierung kapitalistisch organisierten Zeitmanagements [und den ganzen anderen Dingen, die das mit sich zieht] ebenfalls Verdrängung aller Dinge, die darunter naturgemäß nicht fallen können).

  3. Die (verhältnismäßig) starre Ordnung und Organisation christlichen Glaubens führt zu einer Ausgrenzung synkretistischer Aktivitäten und Lebensformen. Die werden als „bastardisiert“ (Veit-Wild) gebrandmarkt.
    Zum einen ist dem Karneval als künstlerischer Ausdrucksform eine sehr ambivalente Ästhetik immanent. Ein Eklektizismus, was die Auswahl religiös besetzter Symbole, meinethalben auch deren Parodie (oder Quasi-Parodie, durch Einbettung in einen Kontext des entertainments) anlangt, würde dafür sorgen, dass auch hier der Mechanismus des schlechten Gewissens greift. Tiefer gar: Was von internalisierten Glaubenssätzen abweicht, macht einem Angst.
    Zum anderen apostrophiert der Zirkus das Körperliche, Animalische. Den Leib im Gegensatz zur Seele. Die Auflösung der Hierarchie (vordergründig nur, wohlgemerkt). Die Illusion i.G. zum Glauben. Und so weiter.
    Kurzum: Eine kulturgeschichtlich tradierte Religiösität (die sich, atheistischen Bekenntnissen zum Trotz, ja so einfach nicht auflösen lässt) sorgt, wieder, für eine Externalisierung in Form der Verdrängung. Der wird geantwortet mit einem Unbehagen.

Über weitere Thesen, Gegenthesen, oder gar eine längere Abhandlung würde ich mich sehr freuen. Das Thema bewegt mich doch.

Mit freundlichen Grüßen,
C. P.

Hallo C.P.

  1. Der Karneval/Zirkus als (unbewusster) Feind
    kapitalistischer Zurichtung

Ich habe noch keinen Zirkus erlebt, der diesem Bild entsprochen hätte. Die Zirkusse (Plural von Zirkus?), die ich erlebte, waren alle mehr oder weniger „normierter“ Bestandteil der verwalteren kaptalistischen Welt, sind gleichsam ein notwendiger „entlastender“ Baustein wie Ballermann, Karneval, Bierzelt u.ä.
Die von Ihnen angesprochene Durchrationalisierung des Menschen wird meiner Ansicht nach keineswegs durch so einen Zirkus (im doppelten Sinne) angetastet.
Gruß,
Branden

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Bemerkung Arschloch.

Stimmt!

Guten Tag.

Ergeht es einigen von Ihnen eventuell auch so:

Beim Anblick eines Zirkus-Zeltes vor den Stadttoren überfällt
Sie ein leichtes Unbehagen?
Womöglich ist das nicht der Fall, aber auffällig doch, dass
das Motiv des Karnevals und des Schaustellers in der
Pop-Kultur zumeist mit einem negativ im Sinne von horroresk
konnotiertem Surrealismus verbunden wird.
3. Die (verhältnismäßig) starre Ordnung und Organisation
christlichen Glaubens führt zu einer Ausgrenzung
synkretistischer Aktivitäten und Lebensformen. Die werden als
„bastardisiert“ (Veit-Wild) gebrandmarkt.
Zum einen ist dem Karneval als künstlerischer Ausdrucksform
eine sehr ambivalente Ästhetik immanent. Ein Eklektizismus,
was die Auswahl religiös besetzter Symbole, meinethalben auch
deren Parodie (oder Quasi-Parodie, durch Einbettung in einen
Kontext des entertainments) anlangt, würde dafür sorgen, dass
auch hier der Mechanismus des schlechten Gewissens greift.
Tiefer gar: Was von internalisierten Glaubenssätzen abweicht,
macht einem Angst.
Zum anderen apostrophiert der Zirkus das Körperliche,
Animalische. Den Leib im Gegensatz zur Seele. Die Auflösung
der Hierarchie (vordergründig nur, wohlgemerkt). Die Illusion
i.G. zum Glauben. Und so weiter.
Kurzum: Eine kulturgeschichtlich tradierte Religiösität (die
sich, atheistischen Bekenntnissen zum Trotz, ja so einfach
nicht auflösen lässt) sorgt, wieder, für eine Externalisierung
in Form der Verdrängung. Der wird geantwortet mit einem
Unbehagen.

Über weitere Thesen, Gegenthesen, oder gar eine längere
Abhandlung würde ich mich sehr freuen. Das Thema bewegt mich
doch.

Mit freundlichen Grüßen,
C. P.

Ja, Dankeschön für die freundliche Zuwendung, C.P., und die vielschichtige Betrachtung dieser Welt der Aliens und Schausteller innerhalb der „normalen“ Welt!
Ich bin selbst eine Weile mit dem Zirkus „Friederike Hagenbeck“ durch die Lande gezogen. Trug zur Aufführung einen grauen Anzug mit roten Streifen an den Seiten; und sah bei der Kartenkontrolle den erwartungsvollen Kindern und deren Eltern in die Augen.
Ich wußte, daß die jeweiligen Bewohner einer Gegend ihre Wäsche von der Leine nahmen. Wahrscheinlich wurde auch geklaut. Ich weiß es nicht.
Und während der Fahrt von einem Ort zum nächsten lernte ich eine Welt verstehen, die mir bis dahin unverständlich war: In meinem Wohnwagen lag ein großer Stapel „Lore-Romane“ von meinem Vorgänger, die ich alle durchlas; eine ganz neue Welt für mich, wobei mir plötzlich die merkwürdigen Sprüche der Mädchen aus den Tanzzelten wiederbegegneten, die ich vorher nie verstand und zuordnen konnte. :smile:
In der relativ kleinen Zirkusgemeinschaft gab es natürlich Rangelei, Eitelkeit, Wichtigtuer, Obere und Untere, Neid und Zank - und wohl auch Frömmigkeit, aber eher als Privatsache.
Der jedesmal große Augenblick einer Vorstellung, in dem mit Frack und Zylinder, Musik-tusch, Beleuchtung und Proklamation eine eigene Wertewelt aufgebaut wurde, die sich nun behaupten und auch bezahlt machen mußte, war in gewisser Weise natürlich ein kleines Spiegelbild der anderen „normalen“ Wertewelt des Staates und der Kirche, - mit ähnlichem - wenn auch mehr gespieltem und leicht parodiertem Pathos.

Und gerade die Kinder spielen gerne mit. Sie erkennen das Spiel.
Dies war immer das Schöne und Echte und Dankbare, - nämlich das Spiel.

Die Tristes, Angst und Einsamkeit, die Nichtzugehörigkeit der „Aliens“, der Zirkuskünstler und Clowns als Thema wie z.B. in der Kunst, möchtest Du jetzt ethisch und soziologisch als Selbsthinterfragung des „Normalen“ heranziehen? Ich weiß nicht? und fürchte sogar, daß Du damit am Ende den Schwächeren triffst.

Mein erster Eindruck war jedenfalls, daß Du Dich in einer Analyse der frommen europäischen Provinz mit ihren Werten versuchst. ???

ganz herzlich
Friedhelm