Klassische Elemente in Goethes Faust?

Ich beschäftige mich gerade mit der Klassik und habe Schwierigkeiten, Goethes Faust (I) dort einzuordnen. In der Klassik geht es doch hauptsächlich um die ästhetische Erziehung des Menschen, das Theater bzw. die Literatur soll dem Menschen helfen, zu einer Einheit zwischen Stoff und Inhalt, zwischen Pflicht und Neigung zu gelangen. So sind in Schillers Dramen „Die Jungfrau von Orleans“, „Maria Stuart“ und „Wilhelm Tell“ jeweils sehr idealistisch gezeichnete (Vor)bilder von Menschen zu sehen, ebenso in Goethes „Iphigenie auf Tauris“. Alle sind sie im Grunde fromm und dienen dem moralischen Gesetz, nicht immer dem weltlichen. Sie sind somit das, was man heutzutage „authentisch“ nennen würde, wenn auch mit religiösem / moralisch-didaktischem Hintergrund.

Faust hingegen ist hin-und hergerissen zwischen den Mächten, er ist meist ein Spielball zwischen Gott und Teufel. Mit seiner Lebensweise und seinen Ansichten verkörpert er ganz und gar nicht das Ideal des Menschen, also quasi das Vorbild, sondern eher ein Abbild, einen Stellvertreter der Menschheit. Am Ende des ersten Fausts verlässt er das gerettete Gretchen, dem er zuvor so viel Unglück brachte, um mit Mephistopheles zu verschwinden.
Die Quintessenz lautet nach vielen Interpretationen: Der Mensch kann sich irren aber er soll nie aufhören zu streben. Das ist kurz gesagt der richtige Weg, der ideale Weg.

Liegt also das typisch Klassische lediglich in Fausts Streben und weniger in seiner (kaum vorhandenen) äußerlichen Frömmigkeit? Ich habe diesbezüglich Probleme, Faust in die Klassik einzuordnen. Wer kann mir weiterhelfen und vielleicht einige Aspekte näher beleuchten bzw. hinzufügen?

Danke vorab!

Hallo Chris,
das Problem am Faust ist, dass sich Goethe gut 60 Jahre lang damit beschäftigt hat. Die Figur hat ihn also fast sein ganzes Leben lang - und damit durch verschiedene Literaturepochen - begleitet. Die Geburtsstunde des Goethe-Faust schlug zur Zeit des Sturm und Drang, und diesen Tonfall hat der alte Geheimrat auch in den weiteren Entwicklungsphasen der Geschichte zumindest in Teilen noch zu erhalten versucht. Du kannst den Faust des ersten Teils also eigentlich als Stürmer und Dränger auf dem Weg zur Klassik betrachten. Die Getchen-Geschichte hat auch Anklänge an das bürgerliche Trauerspiel. Ein paar Aufklärungs-Reste aus dem Lessing-Faust ließen sich vielleicht auch noch finden.
Zum Thema Klassik wirst du am ehesten im zweiten Teil fündig. In der „klassischen Walpurgisnacht“ hat Goethe eine symbolische Vereinigung von Klassik und Romantik inszeniert. Faust, in Gestalt eines Kreuzritters (Mittelalter, Romantik) begegnet Helena, dem Schönheits-Ideal der Antike (altes Griechenland, Klassik). Hier arbeitet Goethe mit Stilmitteln der antiken Tragödie (Chor, alte Versmaße), und da findest du auch so etwas wie Edelmut, Heroismus, Aufopferung und menschliche Größe…
Liebe Grüße
Petra

Dann hat sich die Vermutung also doch als richtig erwiesen, ich danke dir für deinen kompetenten Rat.
Nachdem ich mich vorhin noch einmal mit den Charakteren auseinandergesetzt hatte, bin ich zu folgendem Schluss gekommen:

Heinrich Faust ist vor allem in seinem unermüdlichen Streben der Übermensch, das Ideal, das Vorbild für die übrigen Menschen. Er irrt zwar wie es alle Menschen tun aber das Unterscheidende ist eben doch seine Unzufriedenheit, die er im Faust I bis zum Ende nicht ablegen kann. Ich muss gestehen, dass ich den Faust II bisher nicht gelesen habe, er hängt mit meiner jetigen Recherche auch nicht unmittelbar zusammen, deshalb konzentriere ich mich hier auf den ersten Teil.

Der Pakt mit Mephistopheles ist für Faust schon so gut wie gewonnen, da er weiß, dass es nichts auf der Welt gibt, was ihn glücklich und zufrieden machen würde. Die Zufriedenheit würde das Ende allen Strebens bedeuten und damit wäre er Mephistopheles ausgeliefert. Dass Faust kaum religiös ist, stimmt auch nicht so ganz. Er kann sich nur nicht mit den weltlichen Instanzen (Kirche, christl. Glauben etc.) abfinden (siehe Gretchenfrage).

Wagner ist das perfekte Beispiel für den Massenmensch, der nur um des Ansehens willen strebt und nicht, um etwas Höheres zu bewirken. Er wäre zufrieden, wenn er Fausts Wissen hätte, aus reinem Egoismus.

Gretchen ist zwar in vielerlei Hinsicht ein Mensch, der vom rechten Weg abgekommen ist aber obwohl sie sogar ihr Kind tötet, gibt sie sich letzten Endes nicht auf. Sie ergibt sich vielmehr ihrem Schicksal und bereut ihre Taten, für die sie auch nach dem Tod zu büßen bereit ist. So heißt es von oben (aus dem Himmel): „(Sie) ist gerettet!“

Besonders in Faust und in großen Teilen auch in Gretchen zeigt sich hier der klassische Idealismus, weshalb man dann schon sagen kann, dass Goethe trotz zahlreicher Vorüberlegungen und Nachbearbeitungen ein recht klassisches Werk geschaffen hat, wenn auch nicht ganz übereinstimmend mit den prototypischen Werken der Epoche.

[Bei dieser Antwort wurde das Vollzitat nachträglich automatisiert entfernt]