Zum Thema „Klingelhosen“ möchte ich allen Interessierten einen m.E. grundlegenden Artikel anbieten. Ich halte die Erkenntnisse für so grundlegend, daß eine Verbreitung über diesen Weg angebracht erscheint:
Die Ängste eines Neugeborenen
Wenn das Baby zum Tyrannen wird
Wichtig ist, dem kleinen Kind die Furcht zu nehmen / Von Vitus Dröscher
„Babys muß man schreien lassen. Das stärkt die Lungen.“ Dieses oberste Gebot herrscht heute noch in vielen Kinderstuben. Das Schreizimmer in den Entbindungskliniken, in denen zwanzig und mehr Babys stundenlang um die Wette brüllen, ist bereits der Anfang dazu. Und in einem Mütterbuch steht noch zu lesen: „Das Baby, das immer gleich aufgenommen und beruhigt oder gar gefüttert wird, sobald es schreit, wird schnell zu einem wahrhaften Tyrannen werden, welcher seiner Mutter keinen Frieden geben wird.“ Und Autoritätsanbeter sehen schon im Baygebrüll den Keim zu späterem Ungehorsam.
Bewiesen ist von diesen plausibel klingenden Überzeugungen nichts. Wie sehen die Tatsachen aus, die Wissenschaftler merkwürdigerweise erst jetzt exakt zu erforschen beginnen? In Baltimore hat Professor Mary Ainsworth mit ihren Mitarbeitern viele Mütter und deren Kinder ein volles Jahr lang beobachtet, und zwar in Abständen von drei Wochen jeweils für vier Stunden.
Die Ergebnisse sind verblüffend: Alle Kinder, die während der ersten drei Lebensmonate von der Mutter häufig liebevoll getröstet wurden, wenn sie weinten, schrien später im Alter zwischen neun und zwölf Monaten nicht, wie erwartet, mehr, sondern erheblich weniger als jene, denen die Mutter durch Nichtbeachten des Schreiens das Gebrüll abgewöhnen wollte. Also nicht diejenigen Babys wurden zu Tyrannen, auf deren Weinen hin die Mutter immer gleich gelaufen kam, sondern gerade die anderen, die man brüllen ließ.
Bislang waren sich zahlreiche „Experten“ darüber einig, daß belohnende, tröstende Behandlung der weinenden Kinder das Weinen verstärke. „Nichts haben sie verstanden“, kommentiert der Bielefelder Professor Klaus Grossmann die neuen Forschungen. „Sie haben nur ein paar triviale Erkenntnisse aus Tierdressuren unbesehen auf einen Verhaltensbereich angewendet, der so gar nicht zu begreifen ist.“
Das Schreien ist bei Säuglingen etwas ganz anderes als bei ungezogenen Lausejungen: kein Akt der Aggression, sondern ein Signal der Angst.
Wir Zivilisationsmenschen müssen uns klarmachen, daß unsere Babys von Natur aus „Mutterhocker“ sind - ähnlich wie neugeborene Affen, die sich ständig an ihre Mutter klammern. Wenn der enge Körperkontakt, den ein Baby braucht, die wohlige Wärme, der Nuckel, der beruhigende Schlag des mütterlichen Herzens, plötzlich nicht mehr da ist, überfällt das Kind die Furcht vor dem Verlassensein, das den Tod bedeuten könnte.
Je länger das Baby schreien muß, desto tiefer brennt sich diese Angst in die Seele ein. Als Folge übersteigert sich die Angst in der Charakteranlage und kann sich nicht im dynamischen Gleichgewicht mit dem Gefühl der Geborgenheit und der Sicherheit zum normalen Maß entwickeln. Das Heranreifen des Urvertrauens ist gefährdet, jener wichtigsten psychischen Leistung im ersten Lebensjahr eines Menschen. Damit bekommt das Fundament Risse, auf dem sich gefühlsmäßige Bindungen erst zur Mutter und später auch zu anderen Menschen aufbauen können.
Vielen Eltern scheint aber gar nicht an einer optimalen Form der Angstbewältigung ihres Kindes gelegen zu sein und auch nicht am angstfreien Aufbau einer harmonischen zwischenmenschlichen Beziehung als vielmehr an der Erziehung zum Gehorsam. Können diese Eltern ihr Ziel tatsächlich erreichen, indem sie ihr schreiendes Baby unbeachtet allein lassen und es nur zu „geregelten“ Zeiten füttern und wickeln?
Auch diese Frage hat Professor Ainswoth untersucht. Sie beobachtete den Gehorsam von neun bis zwölf Monate alten Kindern gegenüber der Anweisungen ihrer Mütter. Welche Mütter hatten die gehorsameren Kinder, die ständig besorgten und bemühten Frauen oder jene, die Gehorsam erzwingen wollten?
Das Ergebnis stellt alle bisherigen Anschauungen und Erziehungstheorien auf den Kopf: Die nachgiebig umsorgten Kleinkinder gehorchten in 86 Prozent aller registrierten Fälle, die der in puncto Schreienlassen unnachgiebigen Mütter nur zu 49 Prozent.
Im zarten Kindesalter ist Gehorsam lediglich eine besondere Form des Mitmachenwollens, des Miteinander in ihrer ersten sozialen Gemeinschaft, nämlich der von Mutter und Kind. Das Baby kommt mit der instinktiven Bereitschaft zur Welt, Kontakt zur Mutter zu suchen, auf ihre Signale einzugehen, zu tun, was wiederum freundliche Signale von der Mutter zur Folge hat, etwa das Lächeln, zu unterlassen, was die Bindung schä-digende Wirkungen hat - eben dieser persönlichen Bindung zuliebe.
Wichtig ist daher in erster Linie, daß diese Bindung, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu-stande kommt, daß, statt Gehorsam zu trainieren, die Qualität des Miteinander verbessert wird. Dressurmethoden sind demgegenüber nicht nur primitiv und brutal. Sie bewirken vor allem das Gegenteil von dem, was man erhofft.
Und es ist auch der Grund, weshalb so viele autoritäre Eltern oppositionelle Kinder ohne Zusammen-gehörigkeitsgefühl haben. Bislang wurde das Pro-blem nur durch die falsche Brille gesehen: Nicht das autoritäre Verhalten der Eltern ist der Angel-punkt. Antiautoritäre Eltern, die ihr Baby „sich selbst entwickeln“, also auch schreien lassen, erlei-den den gleichen Schiffbruch.
(Quelle: DIE ZEIT vom 19.3.1976)
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