Hallo Oliver,
ich verstehe einige Zitate Nietzsches nicht. Vielleicht kannst
Du sie mir erläutern?
ich versuche es.
"Das Individuum, welches auf sich selbst stehen
will - da braucht es letzte Erkenntnisse,
Philosophie. Die andern Menschen brauchen langsam anwachsende
Wissenschaft." (aus: „Wissenschaft und Weisheit im Kampf“)
Wenn man auf sich selbst stehen will? Was heißt das?
Individuen sind Subjekte. Subjekte sind Gegenstand von Wissenschaft, aber nicht als Subjekte, sondern als Objekte.
Und wieso braucht man dazu „letzte Erkenntnisse“? Was sind „letzte
Erkenntnisse“? Was sind Erkenntnisse nach Nietzsches Auffassung?
Nietzsche meint die Selbstgewissheit eines Individuums. Wissenschaft betrachtet Typen, Regeln, Ordnungen - und vernachlässig damit (ob zu Recht oder zu Unrecht, ist eine zweite Frage) die Subjektivität, das Einzelne. Wissenschaft subsumiert.
Neigung, Liebe, Lust, Unlust, Erhebung,
Erschöpfung - das kennt alles die Wissenschaft nicht.
Wie kommt Nietzsche denn darauf? Die genannten Zustände sind
genauso Gegenstand der Wissenschaft, wie sie bei
Wissenschaftlern selbst vorkommen.
Ja, das stimmt, aber sie sind es als kategorisierte (und damit typisierte) Verhaltensweisen, nicht als subjektive Erlebnisse, denn die Betrachtung ist nicht subjektiv, sondern objektiv.
Das, was der Mensch lebt und erlebnt, muss er sich irgendworaus
deuten, daraus abschätzen."
In welchem Zusammenhang steht dieser Satz mit dem unmittelbar
vorhergehenden?
Was meint Nietzsche mit „deuten“?
Hier habe ich einen Sprung gemacht, weil ich darauf hinaus wollte, dass Nietzsche - wie alle - Wissenschaft voraus setzt und überschreiten möchte. Dieses Anliegen halte ich für diskutabel und in gewisser Hinsicht auch berechtigt, wenn auch mit Schwierigkeiten befrachtet. Der Mensch deutet sich also, indem er über die Wissenschaft hinaus geht, was ihn aber nicht der Pflicht enthebt, vorher die Wissenschaft durchlaufen zu haben.
Diesen Fehler eben begehen einige, wenn sie meinen im Namen von Marx und Adorno (warum mir gerade diese beiden einfallen, kannst du dir vielleicht denken) mit Dialektik auf Logik verzichten zu können. Sie tun das mit Unrecht, denn nicht nur Hegel und Marx, sondern auch Adorno wusste, was wir als Menschen an der Wissenschaft resp. Logik haben. „Deuten“ heißt, dass das Erkannte sich auf etwas anderes bezieht (auf es verweist), das in der Erkenntnis nicht erfasst ist.
Es geht dabei aber eben nicht um Verneinung der Logik, auch nicht um deren Überwindung, sondern eher um deren Übersteigung im Sinne eines Perspektivenwechsels. Dieser Perspektivenwechsel ist nicht wissenschaftlich, weil er nicht methodisch ausgeübt werden kann. Nietzsche (der auch nicht gegen die Logik an sich, sondern nur gegen rein objektive Betrachtungsweisen als alleinige Erkenntnismittel war) meint die Betrachtung der eigenen subjektiven Interessen. Das ist auch kein schlichter Egoismus, sondern eine Art erweiterte Denkform, die bewusst (also mit vollem Blick auf die Leistung der Wissenschaft, nur eben auch auf ihre Grenzen!) den logischen Bereich als unzureichend setzt, um einen anderen Bereich zusätzlich (und nicht als Ersatz) zu erschließen.
Vielleicht sagen diese Zeilen ja schon, was ich sagen will:
Nein, leider nicht.
Jetzt?
Natürlich ist die Logik nicht erschöpfend, nicht allumfassend
Geht das aus den Nietzsche-Zitaten hervor?
In gewisser Hinsicht schon, freilich nicht rein logisch. 
(aber was ist schon allumfassend …?)
Das Weltall? 
Das würde ich bestreiten. 
Herzliche Grüße
Thomas