Hallo Rosinantee,
mal einen kleinen Crashkurs in Marxismus/Leninismus:
Seit der Urgesellschaft gab es immer Klassengesellschaften mit einer Mehrheit, die die Güter produzierte und einer parasitären Minderheit, die die Arbeitskraft dieser Mehrheit ausbeutete und auf deren Kosten lebte – anders gesagt, einer Klasse, die sich den Mehrwert der Arbeit (oder doch den größten Teil davon) aneignete. Der Mehrwert ist der Wert jenes Anteils der Produktion, die über das zur Reproduktion / Erhaltung der Arbeitskraft Notwendige hinaus produziert wird.
Von diesem Mehrwert kann nun die ausbeutende Klasse sehr komfortabel leben, so lange die Ausgebeuteten mitspielen. Das Instrument, das für die Aufrechterhaltung dieses (freilich nicht für Alle) angenehmen Zustandes sorgt, ist der Staat, der das Herrschaftsinstrument der Ausbeuterklasse ist – insbesondere mit Hilfe des Gewaltmonopols, das der Staat mittels Polizei, Justiz und Militär ausübt.
Nun ist es recht naiv, anzunehmen, die herrschende Klasse würde sich durch freundliche Überredung mit einer klassenlosen Gesellschaft abfinden, in der der Mehrwert nicht mehr durch sie abgeschöpft und akkumuliert (angehäuft) wird. Natürlich werden die bestehenden Verhältnisse mit den zur Verfügung stehenden staatlichen Mitteln geschützt. Voraussetzung einer sozialen Revolution zur Schaffung einer klassenlosen (kommunistischen) Gesellschaft ist also zunächst die Eroberung der politischen Macht bzw. die Brechung der politischen Macht der herrschenden Klasse.
Theoretisch ist das auch gewaltlos in einer bürgerlichen Demokratie möglich – wenn sich die herrschende Klasse tatsächlich an die demokratischen Spielregeln hält, auch wenn ihre Entmachtung auf der Tagesordnung steht. Der hier schon erwähnte Sturz Salvador Allendes ist ein Musterbeispiel dafür, wie naiv es ist, darauf zu vertrauen. Es genügt also nicht, durch eine politische Revolution (die sich theoretisch auch durchaus gewaltlos in Form einer demokratischen Abstimmung vollziehen kann) die politische Macht zu gewinnen; diese Macht muss auch ausgeübt werden, um die Klassengesellschaft in eine klassenlose Gesellschaft überführen zu können – was zunächst einmal bedeutet, die Produktionsmittel aus Privateigentum in Gesellschaftseigentum zu überführen. Also die herrschende Klasse zu enteignen, was sich diese in aller Regel nicht widerstandslos gefallen lässt.
Erforderlich ist mithin für die Übergangszeit von der Klassengesellschaft in die klassenlose kommunistische Gesellschaft die Ausübung einer Diktatur durch das Proletariat – bzw. dessen ‚Avantgarde‘, ihrer politischen Organisation (der Partei). Das heisst die Klasse, die die politische Revolution durchgeführt hat, muss diese durch Zwangsmaßnahmen schützen und mit ihnen die soziale Revolution vorantreiben. Nicht nur durch Schutz nach innen gegen Konterrevolutionäre, sondern auch nach außen gegen militärische Bedrohungen und Interventionen, da im Kapitalismus die Ausbeuterklasse längst nicht mehr nur national, sondern international agiert und versucht, ihre Interessen durchzusetzen. Daher die Notwendigkeit einer Weltrevolution. Erst wenn weltweit die klassenlose Gesellschaft erreicht, besteht keine Notwendigkeit mehr für einen Staat bzw. für staatlichen Zwang und dieser stirbt ab.
So weit die Theorie. Wie nun die Diktatur des Proletariats konkret aussieht, darüber gab und gibt es recht unterschiedliche Vorstellungen. Marx und Engels äußerten sich da noch sehr unbestimmt – Plechanow und Lenin entwickelten ihre Modelle, Kautsky und Luxemburg andere. Da gibt es eine ganz erhebliche Spannweite zwischen Rosa Luxemburg (die freilich keine Gelegenheit hatte, ihre Vorstellungen in der Praxis zu testen) als einem Extrem und z.B. Pol Pot als anderem Extrem.
Konkret zeigte sich, dass in den sozialistischen Staaten (kommunistische gab es – auch nach Selbstverständnis z.B. der Sowjetunion - nie) die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht zu einer egalitären Gesellschaft führte, sondern dass sich im „real existierenden Sozialismus“ eine Bürokratenklasse herausbildete, die problemlos die Rolle der alten Ausbeuterklasse übernahm und die Diktatur des Proletariats nicht zum Vorantreiben der sozialen Revolution (was ihre eigene Entmachtung bedeutet hätte), sondern zum Machterhalt missbrauchte. Nicht, dass dieses Problem nicht schon frühzeitig gesehen wurde – für eine Gegenstrategie (konsequentes Vorantreiben der Weltrevolution nach außen, ‚permanente Revolution‘ nach innen) stand vor allem Leo Trotzki. Es war jedoch nicht Trotzki, sondern Stalin, der sich durchsetzen konnte.
Freundliche Grüße,
Ralf