Narzisstische Konflikte
Hallo Noi,
zunächst einmal: „Konflikttechnisch“ hast du dein Gespräch mit dem Schüler optimal gestaltet. Auch, dass der Schulleiter ihn an dich zurückempfohlen hat (hoffentlich mit den rechten Worten), war bestens. Wichtig für dich wäre es, zu erfahren, ob der Schüler bei anderen Lehrern dasselbe Verhalten zeigt. Zu vermuten ist das ja wohl.
Aber gerade weil das Gespräch von dir so geführt war, wie du es schilderst, deutet seine Reaktion:
Die ganze Zeit hat er immer nur geschrien „das ist aber unfair, das ist aber unfair“.
darauf hin, dass es sich bei ihm nicht bloß um ein Problem des gekränkten Ehrgeizes handelt. Sein Verhalten ist nicht rational nachvollziehbar, insbesondere, weil er ja keine direkte inhaltliche Reaktion auf das zeigt, was du ihm erklärtest.
Ich glaube mich daher mit der Vermutung nicht allzuweit aus dem Fenster zu hängen, dass man dies als Anzeichen einer Persönlichkeitsstörung vom narzisstischen Typ interpretieren kann. Wobei ich davon ausgehe, dass deine Beschreibung „nur geschrien“ wörtlich zu nehmen ist, und dass er außer „unfair“ tatsächlich sonst nichts anderes sprachlich äußerte. Persönlichkeitsstörungen machen sich nämlich vor allem (und im Grunde überhaupt nur) durch ein irrationales dialogisches Verhalten kund.
Und daher hilft auch diese (von Schulz von Thun so propagierte) Unterscheidung von „Beziehungsebene“ und „Sachebene“ hier dialogisch zunächst nicht weiter: Denn für den Narzissten gibt es diesen Unterschied nicht. Bei ihm gehört jeder Sachverhalt ebenso wie andere Personen zu seiner eigenen Integritätssphäre. Das bedeutet: Auch objektive Sachverhalte - und dazu gehören auch Regeln, auch Anweisungen für eine Aufgabenstellung - können ihn verletzen und zur Verzweiflung bringen, wenn er sie nicht bewältigen kann (oder nicht will, falls sie seinem Welt- und Selbstbild nicht genehm sind).
In seinem Ausdruck fällt auf, dass das Schreien zwar eine sehr tiefgehende Verletztheit und Affektdisposition anzeigt, dass aber im Verhältnis dazu die Bezeichnung „unfair“ relativ harmlos ist. Man würde eher stärkere Attribute wie „gemein“ oder „hinterhältig“ für konform halten müssen. Auf jeden Fall ist das Wort - im Sinne des → 4-Seiten-Modells von Schulz von Thun - sowohl eine „Selbstkundgabe“ als auch ein „Appell“. Weder die Beziehung, noch die Sachlage spielen hier eine Rolle.
Daher könnte dieses Wort ein Schlüssel sein, um weiter an ihn heranzukommen. Wieweit du selbst, da du ja seine Lehrerin bist und nicht seine Therapeutin, dich da hineinhängen kannst und willst, wirst du selbst entscheiden können. Daher hier nur ein Vorschlag für ein weiteres Gespräch mit ihm (das auf jeden Fall empfehlenswert ist, da du dich ja offenbar und gottseidank für ihn engagierst):
Du könntest das Gespräch einleiten mit zwei Verständnisrückfragen. Damit wechselst du die Rolle: Er ist der Lehrer, wobei seine Denk- und Erlebensweise der Lernstoff ist, für den er allein der Fachmann ist. Und du bist die Schülerin, die etwas Bedeutsames von ihm zu lernen wünscht. Die Rückfragen wären:
- „Was heißt für dich ‚unfair‘? Kannst du mir ein anderes Beispiel nennen für ein ‚unfaires‘ Verhalten von jemandem? Oder für eine ‚unfaire‘ Situation=“
Und dann, wenn du erfahren (und verstanden!) hast, was er(!) mit ‚unfair‘ meint:
- „Kannst du mir nun weiter erklären, was genau du an diesem Sachverhalt (also schlechte Note, weil er eine Aufgabe nicht ausgeführt hat) ‚unfair‘ findest?“
Falls er darauf Antworten gibt, dürfte sich aufhellen, was ihn an diesem Geschehen kränkt. Ob es lediglich deine Benotung ist (in diesem Fall könntest du weiter fragen, welche Note er denn meint, verdient zu haben). Oder ob es die Aufgabenstellung ist, die ihm gegen den Strich ging, weshalb er also streiken mußte. Daraus könnte sich dann ergeben, dass er sich durch irgendetwas daran überfordert fühlt, dass er also die Aufgabe nicht bewältigen kann (was aber kaum der Fall sein dürfte nach deiner Charakterisierung).
Worauf das Ganze also hinauslaufen dürfte (weil er ja offenbar ansonsten im Unterricht an Beteiligung nichts zu wünschen übrig läßt): Er kann nur „leisten“, wenn er selbst aktiv sein kann, wenn er selbst die Initative ergreifen kann. Bei schriftlichen Arbeiten ist er aber mit einer Aufgabenstellung, also mit einer Forderung von außen konfrontiert. Er kann dann nicht agieren aus eigener Motiviertheit, sondern nur re-agieren, womit seine Eigeninitiative lahmgelegt ist. Soetwas ist für einen Narzissten unerträglich und weil er sich dem nicht entziehen kann (weil er ja Schüler ist), bringt es ihn zur Verzweiflung. Er erlebt das als unertrügliche Schmerzen. Und die artikulieren sich dann als Schreien.
Ok, das eventuell zu verifizieren im Gespräch mit ihm, wird an der Situation nichts ändern. Aber immerhin könnte es ihm schon mal Erleichterung verschaffen, wenn er diese Dispsotion einmal jemandem erklären kann - und er sich verstanden fühlt.
Falls du also nochmal ein gespräch mit ihm hast, wäre es willkommen, wenn du uns darüber nochmal berichtest …
Gruß
Metapher