Kriterien eines Gedichts

Hallo!
Seht ihr literarische Kriterien dafür, dass man Grassens Gedicht für ein solches halten müsste?
Gebrochene Zeilen allein können es ja nicht sein. Das erreicht man zur Not auch mit einem Textprogramm ohne Silbentrennung.
(Wenn jemand den Eindruck hätte, ich wollte hier eine politische Diskussion beginnen - dieser Eindruck wäre der falsche, bitte.)
Beste Grüße!
H.

Hallo!

Zunächst einmal: Der unbeschriebene Raum auf der rechten Seite, das heißt der (künstlerisch) festgelegte Zeilenumbruch, ist das wesentliche Definitionsmerkmal für ein Gedicht. Mehr braucht es wirklich nicht.

Und darin sehe ich auch den Grund, warum Grass diese Form gewählt hat.

Denn zwei Folgerungen ergeben sich aus Zeilenumbrüchen: Sie verordnen dem Leser eines Gedichtes Pausen, kurze am Ende eines Verses und lange am Strophenende. Der Leser muss innehalten. Gedichte werden also langsamer gelesen und das einzelne Wort gewinnt an Dauer und Gewicht. Das eine ist also die Tempogestaltung.

Das andere, dass der Zeilenumbruch besorgt, ist die zusätzliche gedanklich-sprachliche Einheit des Verses.

Von beiden diesen Möglichkeiten macht Grass in diesem Gedicht Gebrauch. Wenn man es laut liest, und die Verse als gedankliche Einheiten wahrnimmt, wird das sehr deutlich. Stilistisch unterscheidet es sich natürlich kaum von einem prosaischen Kommentar. Und niemand wird den Teufel tun, es auswendig zu lernen. Aber es ist doch ein Gedicht. Man mag davon halten was man will, aber eines ist doch erstaunlich: Wir schreiben das Jahr 2012 und die Titelseiten unserer Zeitungen berichten über ein politisches Gedicht.

Gruß
Peter

Hallo,

Seht ihr literarische Kriterien dafür, dass man Grassens
Gedicht für ein solches halten müsste?

Es erinnert mich irgendwie an Hermann Hesse: Heute ist er anerkannter Poet und Geschichtenschreiber. Früher war er ein Unverstandender, über den alle entsetzt waren und ihn für verrückt erklärten, genau wegen seiner damals litararisch unmöglichen Form Gedichte zu schreiben, die niemand verstand.

Ob sich Grass an die literarischen Regeln gehalten hat ist völlig unwichtig: Er hat etwas geschrieben und jeder kann sich darüber Gedanken machen, es für richtig oder nicht richtig halten.

Gebrochene Zeilen allein können es ja nicht sein. Das erreicht
man zur Not auch mit einem Textprogramm ohne Silbentrennung.

Oh je…

Guten Abend!

Zunächst einmal: Der unbeschriebene Raum auf der rechten
Seite, das heißt der (künstlerisch) festgelegte Zeilenumbruch,
ist das wesentliche Definitionsmerkmal für ein Gedicht.

Nein.

Mehr
braucht es wirklich nicht.

Das reicht mir bei weitem nicht, es braucht EINIGES mehr.

zwei Folgerungen ergeben sich aus Zeilenumbrüchen: Sie
verordnen dem Leser eines Gedichtes Pausen, kurze am Ende
eines Verses und lange am Strophenende.

Wo erkennst du hier „Verse“? Zeilen, ja. (Die Prosa Thomas Manns ist rhythmischer als diese „Verse“.)
Aber eine große Zahl dieser Zeilen endet mitten im Satz, ohne dass für eine Staupause Anlass ist.

Der Leser muss
innehalten. Gedichte werden also langsamer gelesen und das
einzelne Wort gewinnt an Dauer und Gewicht. Das eine ist also
die Tempogestaltung.

Das Lesetempo kannst du auch durch Zeilenumbrüche nicht erzwingen; im Gegenteil, diese Zeile hier kann man schneller überblicken und lesen als im Blocksatz.

Das andere, dass der Zeilenumbruch besorgt, ist die
zusätzliche gedanklich-sprachliche Einheit des Verses.

Durch Zeilenumbruch entsteht Einheit? Durch Blocksatz nicht?
Und in Prosatexten findet man keine Abschnitte?

Stilistisch unterscheidet es sich natürlich kaum von einem
prosaischen Kommentar.

Stilistisch: Die Sprache ist das Kriterium eines sprachlichen Kunstwerks. Und hier finde ich nichts, was über einen halbwegs ambitionierten Prosatext hinausgeht.

Aber es ist doch ein Gedicht. Man mag
davon halten was man will, aber eines ist doch erstaunlich:
Wir schreiben das Jahr 2012 und die Titelseiten unserer
Zeitungen berichten über ein politisches Gedicht.

Schön wär’s. Die Zeitungen und die sonstigen Kritiker urteilen hier überhaupt nicht über ein Gedicht, sondern über einen politischen Text. Schreib ihn in Blocksatz, dann merkst du, wie banal er ohne Kothurn daherkommt. Das als Verse auszugeben gibt Grass die Möglichkeit, als Seher, als Deuter aufzutreten:
med ana letzten schwoazzn dintn.

Versteh mich bitte recht: Du hast mit deinen Aussagen über Zeilen, Verse, Strophen, Rhythmus usw. theoretisch völlig recht. Mein Problem ist nur: Ich finde in diesem Text, konkret, zu wenig davon an Gelungenem, Stringentem.
Freundlichen Gruß!
H.

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Hi,

ich habe eine einfachere Definition für Dich:

Ein Gedicht ist ein GEdicht, wenn sein Verfasser es ein GEdicht nennt.

Dir als Leser obliegt es, zu entscheiden, ob es dir gefällt oder nicht. Aber es ist nicht Deine Entscheidung, ob es ein Gedicht ist.

Na gut, noch ein paar technische Dinge: Verse sind die Zeilen eines GEdichtes, Strophen seine Absätze. Nur entscheidet beim Gedicht der Wille des Künstlers, wann der Vers zuende ist - beim Prosatext (Gedichte sind ja auch Texte…) entscheidet das das Layout der Seite.

Und wer ein Gedicht querliest oder querzulesen versucht oder quergelesene GEdichte meint, verstanden zu haben, wird mit stream of consciousness nicht unter 5 Seiten bestraft.

die Franzi
PS: auch das hier ist ein GEdicht: http://www.celan-projekt.de/todesfuge-deutsch.html

Hallo!

Zum „wesentlichen Definitionsmerkmal“: Wenn du 10 Gedichte verschiedener (moderner) Autoren miteinander vergleichst, und ein ihnen gemeinsames Merkmal suchst, welches nicht zugleich für einen Prosatext gelten kann, dann wird es nur auf dieses hinauslaufen können: die Einteilung in Verse. Ein Vers ist nicht zwingend rhythmisch (im Sinne von metrisch gebunden), ein Vers ist - einfach definiert - eine Zeile, deren Ende nicht durch das Format oder den Ende eines Absatzes, sondern durch den Verfasser in künstlerischer Absicht festgelegt wurde.

Zu „Durch Zeilenumbruch entsteht Einheit.“: Ich schrieb „eine zusätzliche gedanklich-sprachliche Einheit“. Also zusätzlich zum Satzteil, zum Satz und zum Absatz, kommt die Möglichkeit des Verses als eigenen Sinnabschnitt.

Ich will das am Beispiel zu demonstrieren: Die erste Zeile des Gedichts lautet:

Warum schweige ich, verschweige zu lange,

Der Zeilenumbruch an dieser Stelle (und hier bin ich schon im Bereich der Interpretation) erlaubt diese ersten 6 Wörter gesondert zu betrachten, und man denkt natürlich an die letzte große Kontroverse um Günter Grass. Ich erinnere mich vage, er habe damals gesagt, man könne ihn durchaus dafür kritisieren, dass er so lange geschwiegen habe, aber nicht dafür, in der Waffen-SS gewesen zu sein. Ich kann mir vorstellen, dass er bewusst daran anknüpft.

Der zweite Grund, warum man diese Zeile als eigene Einheit betrachten kann, ist der Umstand dass sie wiederholt, sich fortentwickelnd, wieder auftaucht. (Warum aber schwieg ich bislang?.. Und zugegeben: ich schweige nicht mehr)

Das ist nur ein kleines Beispiel zur Verdeutlichung und ich will jetzt nicht zu tief in die Analyse einsteigen. Es lohnt sich ja nicht. Es ist kein gelungenes, kein besonders kunstfertiges Gedicht. Aber darum geht es ja nun nicht. Es geht nur darum: Es ist ein Gedicht. Ein Gedicht muss nicht über ein „halbwegs ambitionierten Prosatext“ hinausgehen. Es muss nur Zeilen brechen. Was wir uns als Vierelstarke bei der Flüsterpost zugeraunt haben…

Rot ist die Liebe
Schwarz ist das Loch
Mädel sei tapfer
Rein muss er doch

…ist auch ein Gedicht. Nicht besonders kunstfertig, und nicht besonders geschmackvoll. Aber ein Gedicht ist es doch.

Ich will dir soweit recht geben: Es ist kein großes Kunstwerk. Er hat es wohl aus anderen als aus künstlerischen Gründen in ein Gedicht gekleidet. Und natürlich kommentieren die Zeitungen es nicht als Gedicht sondern als politischen Text.

Aber soweit dir widersprechen und mich wiederholen: Es ist ein Gedicht. Weil zum Gedicht nicht mehr gehört als der bewusst eingesetzte Zeilenumbruch. Nur zum guten Gedicht gehört EINIGES mehr.

Gruß
Peter

PS: auch das hier ist ein GEdicht:
http://www.celan-projekt.de/todesfuge-deutsch.html

Oder das hier: http://www.poemhunter.com/poem/16-bit-intel-8088-chip/
Ein wunderbares Gedicht. Wenn man es in Prosa schreibt, hat man nicht viel mehr als eine technische Beschreibung:

With an Apple Macintosh you can’t run Radio Shack programs in its disc drive. Nor can a Commodore 64 drive read a file you have created on an IBM Personal Computer. Both Kaypro and Osborne computers use the CP/M operating system but can’t read each other’s handwriting for they format (write on) discs in different ways. The Tandy 2000 runs MS-DOS but can’t use most programs produced for the IBM Personal Computer unless certain bits and bytes are altered.

PS: auch das hier ist ein GEdicht:
http://www.celan-projekt.de/todesfuge-deutsch.html

Es berührt mich unangenehm, dieses Gedicht mit der Formulierung „auch“ dem Text von Grass an die Seite gestellt zu sehen.
(Nicht nur, weil mich „todesfuge“ an eine sehr gute Prüfungslehrprobe erinnert.)

H.

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Hallo!

Seht ihr literarische Kriterien dafür, dass man Grassens
Gedicht für ein solches halten müsste?
Gebrochene Zeilen allein können es ja nicht sein.

Stimmt, gebrochene Zeilen sind ganz klar zu wenig.

Zum Gedicht gehört ein (fiktiver) Urheber, der ein „Dichter“ sein kann, dazu gehört die Selbstbezeichnung als „Gedicht“, dazu gehört ein Erscheinungsort, in dem ein Gedicht erscheinen kann, dazu gehört viel weißes Papier um das Gedicht herum, dazu gehört ein Gedicht-Kritiker, dazu gehört der Zeilenbruch, dazu gehört der Reim, dazu gehört ein Rhythmus, dazu gehört das lyrische Ich und so weiter.

Nichts davon MUSS gegeben sein, und nicht ALLE diese Aspekte müssen zugleich gegeben sein, aber wenn nicht drei, vier, fünf von ihnen zugleich gegeben sind, dann KANN kein Gedicht sein.

Folglich ist die Gedichtigkeit des Gesichts auch kein intrinsisches Merkmal eines Textes, sondern eine komplexe Verküpfung von textuellen, personalen und institutionellen Faktoren.

E.T.

Hallo!

Gehen wir das mal durch:

Einen Urheber hat jeder Text, einen Erscheinungsort alles Erschienene. Lyrisches Ich nennt man den Erzähler eines Textes, nachdem man anerkannt hat, dass es sich bei dem Text um ein Gedicht handelt. Kaum ein Gedicht bezeichnet sich ausdrücklich als Gedicht, weil es als solches klar erkennbar ist. Wie auch ein Bild als Bild erkennbar ist, ohne dass irgendwo das Wort „Bild“ fallen muss. Erkennbar ist das Gedicht durch die Einteilung nach Versen, also durch den weißen Raum, also durch den künstlerisch festgelegten Zeilenumbruch. Bekräftigt wird der Eindruck eines Gedichtes, wenn die Verse als Verse etwas bewerkstelligen.

Es gibt natürlich Herausforderungen an die Definition. Wie die Definition der Musik durch die Musique concrète oder John Cages 4’33’’ herausgefordert wird; so wird die Definition des Gedichts z. B. durch die Einführung freier Rhythmen und durch die visuelle Poesie herausgefordert. (Beispiel: Reinhard Döhls „apfel wurm“)

Ich finde aber, man macht es sich zu einfach, wenn man damit die Definition durch ein klares Kriterium aufgibt und nur mehr mit Verknüpfungsdefinitionen operiert, im Sinne von „Wenn eine gewisse Anzahl von Bedingungen aus einer Gruppe von Bedingungen erfüllt ist, dann ist X Teil von Y.“

Nochmal: „Gedicht“ ist kein Qualitätsurteil, sondern ein Gattungsbegriff der Literatur. Ein Gedicht ist Literatur in Versen. Ein Vers ist eine Textzeile, deren Ende durch den Dichter festgelegt wurde, und die eine sprachlich-gedankliche Einheit bildet.

Kannst du mir ein Beispiel für einen Text nennen, der mein Kriterium erfüllt, aber kein Gedicht ist? Oder kannst du mir ein Beispiel für einen Text nennen, welcher mein Kriterium nicht erfüllt, aber trotzdem ein Gedicht ist? Wenn du eines findest, muss ich meine Definition überdenken. Ansonsten verstehe ich nicht, welchen Nutzen die übrigen von dir genannten Kriterien für die Definition haben.

Gruß
Peter

Hi!

Einen Urheber hat jeder Text

Ja.
Damit ein Text politischen Inhalts von der Urheberin „Angela Merkel“ als Gedicht gesehen wird, muss er, meiner Sichtweise gemäß, aber andere Aspekte stärker erfüllen als wenn ein „Günter Grass“ der Urheber ist.

einen Erscheinungsort alles
Erschienene.

Wenn ein Text tagespolitischen Inhalts im ARD-Videotext erscheint, muss er … als im Feuilleton der Süddeutschen.

Lyrisches Ich nennt man den Erzähler eines
Textes, nachdem man anerkannt hat, dass es sich bei dem Text
um ein Gedicht handelt.

Aber nur wenn du voraussetzt, dass die Textgattung immer schon vorher erkannt ist.
Ich setze das nicht voraus.

Kaum ein Gedicht bezeichnet sich
ausdrücklich als Gedicht

Das hier zum Thema gemachte Gedicht aber beispielsweise schon.

Ich finde aber, man macht es sich zu einfach, wenn man damit
die Definition durch ein klares Kriterium aufgibt und nur mehr
mit Verknüpfungsdefinitionen operiert, im Sinne von „Wenn eine
gewisse Anzahl von Bedingungen aus einer Gruppe von
Bedingungen erfüllt ist, dann ist X Teil von Y.“

Ich behaupte ja auch nirgendwo, dass meine konstruktivistische Sichtweise (im Vertrauen gesagt, habe ich bei meiner Antwort Nelson Goodmans Kunstbegriff in „Wann ist Kunst?“ auf die hiesige Fragestellung anzupassen versucht) die einzig richtig sei.
Aber sie scheint mir passend und elegant, jedenfalls nicht „einfach“.

Nochmal: „Gedicht“ ist kein Qualitätsurteil, sondern ein
Gattungsbegriff der Literatur.

Wie kommst du auf die Idee, ich hätte ersteres geglaubt?

Kannst du mir ein Beispiel für einen Text nennen, der mein
Kriterium erfüllt, aber kein Gedicht ist? Oder kannst du mir
ein Beispiel für einen Text nennen, welcher mein Kriterium
nicht erfüllt, aber trotzdem ein Gedicht ist? Wenn du eines
findest, muss ich meine Definition überdenken. Ansonsten
verstehe ich nicht, welchen Nutzen die übrigen von dir
genannten Kriterien für die Definition haben.

Auf dein Kriterium ist Hannes doch bereits eingegangen.

E.T.

Hallo!

Erstmal will ich den Dampf aus der Sache rausnehmen. Internetdiskussionen werden schnell konfrontativ, wo überhaupt kein Anlass zur Konfrontation ist. Der alte Ratzinger schreibt in seinem Jesus-Buch: „Ich bitte die Leserinnen und Leser um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.“ In keinem Medium wird einem so wenig Sympathie vorausgeschickt wie im Internet. Vielleicht weil man seinem virtuellen Gegenüber nicht ins Auge schauen kann, vielleicht weil man nichts über seinen Hintergrund weiß, vielleicht weil der Streit so folgenlos ist. Und weil kaum einer dem anderen diesen Vorschuss gewährt, wird man im Internet im Zweifel missverstanden, im Zweifel so verstanden als hege man eine böse Absicht, als wolle man den anderen unterbuttern. Und man missversteht sich im Wechsel immer tiefer, bis schließlich Godwin’s Law in Kraft tritt. Und das macht wirklich interessante Diskussionen unmöglich.

Und jetzt denkst du: Was will er denn!? Wir streiten uns ja gar nicht. Das stimmt, und es ist auch wirklich albern, dass ich das von allen möglichen Themen an dieser gesitteten Stelle schreibe. Aber es fängt schon wieder an mit dem leidigen Reflex, den anderen im Zweifelsfall ungünstig zu verstehen. Mir geht es um nichts weiter, als meine Definition an deiner Definition zu messen. Ich finde deine Überlegung interessant, aber ich verstehe nicht, wozu die vielen Kriterien für eine Definition des Gedichts nötig sind. Ich verstehe, dass Goodman eine solch komplexe Definition für den Begriff der Kunst verwendet, weil Kunst ja in unzähligen Erscheinungsformen auftreten kann.

Meine Definition der „Literatur in Versen“ habe ich gewissermaßen als Arbeitshypothese formuliert. Du schriebst „gebrochene Zeilen sind ganz klar zu wenig“, also wollte ich dich herausfordern, meine Arbeitshypothese zu widerlegen, indem du mir ein Gedicht nennst, das meine einfache Definition _über_fordert und deine komplexe Definition _er_fordert. Hannes ist darauf auch nur eingegangen, indem er geschrieben hat „Nein, es braucht einiges mehr.“ Falsifiziert hat er sie nicht und du bislang auch nicht. Ihr sagt nur, meine Überlegung sei falsch. Und vielleicht ist sie das auch, aber dann möchte ich halt verstehen, warum. Und das verstehe ich erst, wenn ich ein entsprechendes Beispiel sehe. Mir geht es wirklich nur darum, meine Vorstellung gegen deine Vorstellung antreten zu lassen, und dabei vielleicht eine blöde Vorstellung von mir aufzugeben, und eine klügere anzunehmen.

Nochmal Entschuldigung für die Predigt am Anfang. Die ging nicht gegen dich, sondern gegen andere Leute in anderen Diskussionen. Und die war nur für mich, der abwechselnd begeistert von der Möglichkeit der Internetdiskussion ist und bald wieder genervt von ihrem Verlauf. Musste mal raus.

Yo!
Peter

Hallo!

Meine Definition der „Literatur in Versen“ habe ich
gewissermaßen als Arbeitshypothese formuliert. Du schriebst
„gebrochene Zeilen sind ganz klar zu wenig“, also wollte ich
dich herausfordern, meine Arbeitshypothese zu widerlegen,
indem du mir ein Gedicht nennst, das meine einfache Definition
_über_fordert.

Du schreibst:
„das heißt der (künstlerisch) festgelegte Zeilenumbruch, ist das wesentliche Definitionsmerkmal für ein Gedicht. Mehr braucht es wirklich nicht“.
An anderer Stelle dann:
"ein Vers ist - einfach definiert - eine Zeile, deren Ende nicht durch das Format oder den Ende eines Absatzes, sondern durch den Verfasser in künstlerischer Absicht festgelegt wurde.

Es geht dir also nicht um jeglichen Zeilenumbruch (wie er etwa durch die Software hier beim Zitieren erzeugt wird), noch geht es dir offenbar um den bloßen „[willkürlich] festgelegten Zeilenumbruch“ z.B. den des Drucktechnikers beim Drucken einer Bedienungsanleitung für Waschmaschinen, sondern sehr wohl um den „künstlerisch festgelegten Zeilenumbruch“.

Und damit bist du bereits weit über den Zeilenumbruch hinaus, und brauchst mehr und andere Kriterien als nur den Zeilenumbruch selbst, nämlich die Kriterien für Kunst.
Und wenn du diese hast, dann kann auch der Zeilenumbruch verzichtbar sein - wie beim Monostichon.

Gruß
Tyll

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Hallo Tyll!

Es geht dir also nicht um jeglichen Zeilenumbruch (wie er etwa durch die Software hier beim Zitieren erzeugt wird), noch geht es dir offenbar um den bloßen „[willkürlich] festgelegten Zeilenumbruch“ z.B. den des Drucktechnikers beim Drucken einer Bedienungsanleitung für Waschmaschinen, sondern sehr wohl um den „künstlerisch festgelegten Zeilenumbruch“.

Genau!

Und damit bist du bereits weit über den Zeilenumbruch hinaus, und brauchst mehr und andere Kriterien als nur den Zeilenumbruch selbst, nämlich die Kriterien für Kunst.

Das ist richtig, insofern es Kriterien geben muss, wann ein Zeilenumbruch als „künstlerisch festgelegt“ gilt. Das ist der Fall, wenn durch den Zeilenumbruch…

… Verse als eigene Sinnabschnitte/gedanklich-sprachliche Einheiten entstehen.
… vom Dichter erwünschte Pausen entstehen.
… ein Schriftbild entsteht, das in Bezug zum Inhalt des Textes steht.

Oder, als negative Definition, wenn der Zeilenumbruch nicht durch das Format, eine Auflistung oder den Ende eines Absatzes erforderlich ist, sondern durch Eingriff des Dichters geschieht.

Ich will argumentieren, dass die Definition des Gedichtes nicht eine ausformulierte Definition der Kunst oder der Literatur in sich einschließen muss, sondern nur (in klassischer Form) angeben muss, welche artgebende Differenz das Gedicht vom nächsthöheren Gattungsbegriff (der Literatur) unterscheidet. Und dein sehr richtiger Einwand mit dem Monostichon hat mich nun dazu gebracht, als artgebende Differenz nicht mehr den Zeilenumbruch sondern den Vers zu betrachten (bzw. die beiden nicht mehr als eines zu sehen). Also:

Gedicht = Literatur in Vers(en).

Denn ein Vers wird nicht alleine durch den „künstlerisch festgelegten Zeilenumbruch“ definiert, sondern beim Fehlen einer nächsten Zeile (auch zur Unterscheidung vom Aphorismus) durch die metrische Gestaltung.

Wenn aber jemand den künstlerisch festgelegten Zeilenumbruch (also unter den oben genannten Bedingungen) in einem Text durchgehend als Mittel verwendet, dann muss der Text ein Gedicht sein, oder? Mir fällt kein Gegenbeispiel ein.

Gute Nacht!
Peter

Hallo Peter!

Oder, als negative Definition, wenn der Zeilenumbruch nicht
durch das Format, eine Auflistung oder den Ende eines Absatzes
erforderlich ist, sondern durch Eingriff des Dichters
geschieht.

Aufstellung:
Benaglio – Träsch, Russ, Felipe, Rodriguez – Polak, Jiracek – Dejagah, Schäfer – Helmes, Mandzukic.
Schiedsrichter: Dingert.

Ein Gedicht?
Wenn es so im Sportteil der BILD abgedruckt ist, wohl kaum.

Wenn es völlig unverändert im Feuilleton der FAZ abgedruckt und mit Sarah Kirsch unterzeichnet ist, dann kann man es wohl mit Fug und Recht, ohne dass ein Dichter überhaupt nur irgendwie eingegriffen hätte, ein „lyrisches objet trouvé“ nennen.
Deshalb wird noch lange nicht jede Kicker-Ausgabe zum Gedichtband, wenn man Sarah Kirsch unter die Aufstellungen schreibt.
Das ist nicht beliebig reproduzierbar, sondern muss Ereignis-Charakter haben.

Und dein sehr richtiger Einwand mit dem
Monostichon hat mich nun dazu gebracht, als artgebende
Differenz nicht mehr den Zeilenumbruch sondern den Vers zu
betrachten (bzw. die beiden nicht mehr als eines zu sehen).
Also:

Gedicht = Literatur in Vers(en).

Denn ein Vers wird nicht alleine durch den „künstlerisch
festgelegten Zeilenumbruch“ definiert, sondern beim Fehlen
einer nächsten Zeile (auch zur Unterscheidung vom Aphorismus)
durch die metrische Gestaltung.

Du willst also das obige Sarah-Kirsch-Gedicht im Feuilleton der FAZ nicht als Gedicht gelten lassen? Oder schon, aber die textuell völlig identische Mannschaftsaufstellung in der BILD nicht. Oder beide.

Tyll

Hallo!

Ich sehe das so: Die Wolfsburger Aufstellung ist kein Gedicht, weil: keine Literatur in Versen, weil: kein kunstvoller Zeilenumbruch. Die Aufstellung ist meines Erachtens auch dann kein Gedicht, wenn es im Feuilleton erscheint und Sarah Kirsch druntersteht.

Das Objet trouvé (vor allem ready-made) ist natürlich eine besondere Herausforderung an den Kunstbegriff. Und es ist ja darauf aus, den Kunstbegriff zu erweitern oder ad absurdum zu führen.

Das Urinal, das Duchamp kaufte, signierte und in den Kontext der Kunst stellte, ist an sich auch keine Skulptur. Die Kunst besteht darin, dass er einen Alltagsgegenstand von seinem Zweck loslöste und erklärte: Dies ist eine Skulptur, dies ist mein Werk. Das Kunstwerk ist das Urinal, auf der Seite liegend, mit Signatur. Das Kunstwerk ist der dadaistische Witz, das Standardbecken eines Pissoirs im Nachhinein als eigenes Kunstwerk zu deklarieren. Fountain (1917) ist also eine Installation und keine Skulptur.

Und genauso verhält es sich mit deinem Beispiel und dem bekannteren Beispiel Peter Handkes „Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968“. Das Kunstwerk ist die Aufstellung, mit Signatur versehen und im Feuilleton gedruckt, als Gedicht oder Kunstwerk zu deklarieren. Ich würde beide als Textinstallationen bezeichnen, weil sie anders als Gedichte ohne Ortsbezug bzw. gedrucktem Kontext (inkl. Signatur) nicht als Kunst erkennbar sind. Die strukturelle Ähnlichkeit der Aufstellung mit der Gedichtform ist die Grundlage für den Witz und der Witz ist die Kunst.

Habe in MS Paint gerade das hier zusammengezimmert: https://docs.google.com/file/d/0B0e2AIzUIs2POWFoaURC…
Das Foto wird ja nicht zum Gedicht, weil ich es sonettartig gestückelt und mit Sonett überschrieben habe. Als ganzes kann man es wohl Kunst nennen - keine große Kunst, versteht sich - ein Gedicht ist es aber nicht.

Gruß
Peter

Hallo!

Das Objet trouvé (vor allem ready-made) ist natürlich eine
besondere Herausforderung an den Kunstbegriff.

Die Kunst ist ja auch nichts anderes als eine endlose Thematisierung der eigenen Grenzen.

Etwa:

Bei Gedichten werden, wie im vorliegenden
Fall, die Zeilen nicht voll geschrieben.
Links und rechts Luft
schützt vor Fabel.

(Auszug aus Lettaus ‚In memoriam Peter S.‘)

Wir können uns abschließen darauf einigen, dass es, nicht nur im Mikrokosmos von uns beiden, ein Nebeneinander von Gedichts-Definitionen gibt.
Deine schließt Handkes Mannschaftsaufstellung aus, meine nicht.
Beide schließen wir Grass’ Gedicht ein, andere schließen es so aus:

Wenn der Grass-Text ein Gedicht sein soll, dann habe ich gerade nach Verzehr einer Forelle mit Hilfe von zwei, drei melodischen Fürzen eine neue Matthäus-Passion komponiert.
(Sibylle Lewitscharoff)

Dabei gehts auch hier nicht notwendig um ein „Qualitätsurteil“ (du hattest das ja oben angesprochen), sondern um ein Banalitätsurteil :wink:

Gruß
Tyll