Hallo Udo,
erst einmal meinen herzlichen Dank für die detaillierte Erläuterung der chemischen Vorgehensweise.
Ich will mal versuchen die Problematik zusammenzufassen - bitte berichtige mich, falls ich etwas mißverstanden habe.
Mabuse: jedes Hormon ist an vielen Vorgängen beteiligt, kooperiert mit anderen bei unterschiedlichen Kombinationen und Mengenverhältnissen. Die meisten Funktionen und Abhängigkeiten sind uns bis heute unbekannt. Der Einsatz eines Hormons wird auch immer Funktionen beeinflussen, die wir noch nicht kennen.
Laralinda: Hormonfunktionen sind ein großes Mobile, alle beeinflussen sich gegenseitig über komplexe Mechanismen. Zu unterschiedlichen Zeiten werden auch unterschiedliche Hormonmengen benötigt, damit wird eine genau Dosierung unmöglich.
Deine erste Antwort: unterschiedliche Physiologie des Körpers, der das Östrogen aufnimmt, vorliegende unterschiedliche Regulation, Mangel anderer Stoffe beeinflußt die Wirkung des Hormons, unterschiedliche Konzentrationsgradienten im Körper.
Als Beispiel für die Problematik der Dosierung bieten sich Insulin bei Diabetikern, Marcumar bei Blutgerinnungsstörungen an.
Naturidentisch-synthetisch: Das ist streng wörtlich zu nehmen.
Naturidentisch heißt, dass das Molekül synthetisch hergestellt
wurde (oder aus natürlichen Quellen isoliert wurde was aber
hier nicht gefragt war), aber in Zusammensetzung und Struktur
dem natürlich vorkommenden Wirkstoff entspricht. Dies gilt
auch für eventuelle sterische Strukturmerkmale.
So weit ist’s klar. Ich ging bisher davon aus, daß die Behauptung naturidentisches Hormon, genau dieses Hormon in seiner Gesamtheit, mit allen Substanzen und Funktionen dupliziert. Gemäß deiner Beschreibung trifft das aber offenbar nicht zu. Es werden nur die davon benötigten Teile dupliziert.
Synthetisch kann entweder naturidentisch sein oder auch
abweichend, aber mit den gewünschten funktionellen
Eigenschaften. Hier ist ein weites Feld für Veränderungen am
Wirkstoff die eine funktionelle Anforderung erfüllen, aber
z.B. zusätzliche Eigenschaften haben. Typische zusätzliche
Eigenschaften sind verlängerte Halbwertszeit in vivo oder
verbesserte Stabilität des Wirkstoffs in der
Flasche/Tablette/Hitze etc.
Diese Veränderungen führen möglicherweise zu einer anderen Funktionsweise im Körper und damit zu den verflixten Nebenwirkungen, die keiner will.
Bei komplexen Molekülen lässt man manchmal Gruppen weg, wenn
sie für die gewünschte Funktion des Wirkstoffs nicht wichtig
erscheinen. Beispiele sind Kohlenhydrate an Peptidhormonen wie
Insulin. Da nimmt man an, dass der Kohlenhydratanteil nur für
die Ausschleusung aus dem Golgi Apparat erforderlich ist.
Erscheinen - nimmt man an: was aber, wenn er noch weitere bisher unbekannte Funktionen hat? Das wurde wohl auch getestet, wobei wichtig wäre zu erfahren, wie langfristig oder ob das am Menschen langfristig, bei der Komplexität der Funktionen überhaupt genau nachvollziehbar wäre/ist.
Bei molekularbiologisch hergestellten Proteinen (Fibrinolytika,
Faktor VIII, Erythropoetin, Interleukine etc) fehlen die
Kohlenhydratseitenketten, weil das Synthesesystem E. coli das
nicht kann. Falls nötig kann man dann Hefezellen oder
Hamsterzellen zur Synthese nehmen.
Grob betrachtet, werden also Kohlenhydratseitenketten, die natürlicherweise enthalten sind, hier durch Anderes ersetzt, was man wohl als körperfremd bezeichnen muß. Auch hier stellt sich die Frage, wie langfristig wurde das am Menschen getestet? Sind es derartige Veränderungen, die langfristig zu den unerwünschten Nebenwirkungen führen können, ohne daß man genau weiß, wie diese tatsächlich zustande kommen? Einfach deshalb, weil man über die komplexen Gesamtfunktionen noch nicht genug weiß, das aber in Kauf nimmt, weil man sonst das dringend benötigte Medikament gar nicht hätte?
Auf dem Markt sind z.T. Wirkstoffe die mit beiden Synthesesystemen :hergestellt wurden. Man kann daraus schließen, dass die heutigen
Zulassungsverfahren so stringent sind, dass die Risiken, die
aus einer von der Natur abweichenden Struktur erwachsen,
ausreichend niedrig sind.
Für viele von der Natur abweichende Strukturen stimmt das sicherlich. In jüngerer Vergangenheit hat sich allerdings gezeigt, daß die Zulassungsverfahren wohl nicht ganz so stringent sind, wie sie sein sollten - doch das ist wieder ein anderes Thema.
Aus dem oben gesagten ergibt sich wohl, daß man bei sog. naturidentischen, synthetisch hergestellten Stoffen, bei der Frage, ob sie dem körpereigenen Stoff entsprechen, antworten müßte: JAEIN! Ein Teil wird naturidentisch dupliziert, aber nicht unbedingt alles.
Bleiben Funktionen unberücksichtigt, weil man meint, sie seien nicht nötig, hat man etwas verändert.
Auf Grund der Komplexität des Geschehens, wie auch von Mabuse und Laralinda beschrieben, ist die langfristige Wirkung auf den Körper dann kaum noch abschätzbar. Hier hebe ich auf langfristig ab, denn kurz- manchmal auch mittelfristig werden die Wirkungen ja erfaßt. Langfristig oft aber erst nach jahrelanger Verwendung der Substanz - was bei der Hormontherapie während der Menopause inzwischen dazu geführt hat, daß die Krankenkassen davon abraten. Hier wurden die Folgen (Nebenwirkungen) erst nach vielen Jahren sichtbar.
Ich möchte hier niemandem zu nahe treten. Während meiner Ausbildung habe ich mal versucht den eigentlich recht simplen Zitronensäurezyklus genau nachzuvollziehen - auf einer großen Tafel! Viele der daran beteiligten Substanzen sind bekannt, als ich aber versuchte herauszufinden, was jede einzelne von ihnen bewirkt, fiel auf, daß vieles nur Pauschal bekannt, anderes noch unbekannt ist, die Verschachtelungen extrem komplex sind - letztlich gab ich auf, die Tafel war auch viel zu klein!
Insoweit kann ich mal wieder nur meiner Ärztin zustimmen: so viel Medikamente wie nötig, aber so wenig wie möglich. Solange wir so wenig über die tatsächlichen Vorgänge im Körper wissen, ist höchste Vorsicht angebracht und die Chemiker beneide ich bestimmt nicht um ihre Aufgabe hier versuchen zu müssen, möglichst alles zu berücksichtigen. Man kann sich dabei nur noch wundern und staunen, wie dieser Körper, in seiner Komplexität und dennoch Perfektion, je zustande kommen konnte… Die Evolution brauchte dazu einige Millionen Jahre, Chemiker, Biologen und Ärzte gibt’s dagegen erst seit einigen Hundert Jahren… Bis sie mit der Evolution gleichziehen, wird’s wohl noch ein Weilchen dauern. 
Herzliche Grüße,
Cantate