La vraisemblance und le vrai ?

Hallo!

In der französischen Klassik wurde im Zusammenhang mit Theaterstücken von der „vraisemblance“ gesprochen.
Ein Theaterstück hatte der „doctrine classique“ zufolge „vraisemblant“ zu sein.

Was bedeutet das?

Dann steht hier noch bei Wiki nach dieses Zitat von Boileau:

«le vrai peut quelque fois n’être point vraisemblable»

(Nicolas Boileau)

was meint Boileau nun hiermit???

Lg

Laura

Hallo Laura,

Ein Theaterstück hatte der „doctrine classique“ zufolge
„vraisemblant“ zu sein.

Was bedeutet das?

man bezog sich damit (wie überhaupt mit der „doctrine classique“) auf die Poetik des Aristoteles, speziell Kapitel 9. Hier http://www.digbib.org/Aristoteles_384vChr/De_Poetik nachzulesen. „daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“ usw. usf.

Dazu gehört natürlich entsprechend auch die Vermeidung des Unwahrscheinlichen, Fantastischen …

«le vrai peut quelque fois n’être point vraisemblable»

(Nicolas Boileau)

was meint Boileau nun hiermit???

übersetze es doch einfach mal. Manchmal geschehen halt in der Wirklichkeit Dinge, die äußerst unwahrscheinlich sind. Das weiss jeder Versicherungsmathematiker. Boileaus Aussage hat nun freilich eine sehr unmathematische Pointe - nämlich dass das klassische Drama, das es vermeidet, Unwahrscheinliches darzustellen, daher einen höheren Anspruch auf Allgemeingültigkeit hat als die Realität.

Freundliche Grüße,
Ralf

Hallo Tychiades,

erstmal Danke für deine ausführliche Antwort.
Dann kann man vermutlich daraus schließen, dass Romane, die zur Zeit der frz. Klassik verfasst wurden, manchmal auch Elemente enthielten, die als „vrai“ galten, aber nicht als „vraisemblable“. Da Romane nicht zur anspruchsvollen Literatur zählten, konnten sich die Autoren so richtig austoben, ohne auf irgendwelche Regeln zu achten. In Tragödien hingegen, durfte nach der klassischen Regelpoetik (doctrine classique) des 17. Jh nichts aufgeführt werden, dass als „invraisemblable“ galt.

Lg

Laura

Hallo Laura,
das ‚vrai‘ wurde eher als Domäne der Historiographie gesehen. Generell bezogen sich die Regeln der ‚doctrine classique‘ und damit die Forderung nach bienséance und vraisemblance auch auf die literarischen Gattungen Epos und Lyrik, nur galten die gegenüber dem Drama als zweitrangige Kunstformen. Der Roman galt bestenfalls als drittrangig.

Wenn man die ‚doctrine classique‘ eher als Zustandsbeschreibung der zeitgenössischen ästhetischen Ideale auffasst statt als Forderungskatalog, so sieht man, dass sie aus der Dramatik abgeleitet ist und die zeitgenössischen Romane (typisch: Perraults ‚Contes de Fées‘ und Mlle Scudérys pseudohistorische Schlüsselromane ‚Le Grand Cyrus‘ und ‚Clélie‘) schlicht ignoriert. Die nun wiederum weder ‚vrai‘ noch ‚vraisemblable‘ sind. Und gelegentlich auch der bienséance entbehren …

Freundliche Grüße,
Ralf

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Hallo Ralf,

und die zeitgenössischen Romane (typisch: Perraults ‚Contes de Fées‘ :und Mlle Scudérys pseudohistorische Schlüsselromane ‚Le Grand Cyrus‘ :und ‚Clélie‘) schlicht ignoriert. Die nun wiederum weder ‚vrai‘
noch ‚vraisemblable‘ sind. Und gelegentlich auch der
bienséance entbehren …

Solche Romane wie „Le Grand Cyrus“ galten als „invraisemblable“, weil es zu viele Zufälle gab, die sich so im wahren Leben unmöglich ereignen können. Den Versuch daran etwas zu ändern, machte Madame de La Fayette:

„Enfin le roman classique s’élaborera en réaction contre
ces romans-fleuves en produisant des récits plus courts,
soucieux de vraisemblance
dans les événements comme dans la psychologie des personnages moins nombreux, avec une langue mesurée à la recherche d’une fiction plus réaliste, plus proche du quotidien des lecteurs et avec une visée morale.“ (wiki fr)

„Le vrai“ meint also geschichtliche Fakten? (–> Historiographie)
Oder eine tiefere Wahrheit? Das habe ich noch nicht so ganz verstanden.

lg

Laura

Hallo Laura,

„Le vrai“ meint also geschichtliche Fakten? (–>
Historiographie)
Oder eine tiefere Wahrheit? Das habe ich noch nicht so ganz
verstanden.

da ich Boileau selbst nicht gelesen habe, kann ich Ersteres nur vermuten. Wenn auch begründet, nämlich auf Aristoteles bezogen: "Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt - man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse -; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. "

Zumindest bei Aristoteles ist ‚le vrai‘ eindeutig „das wirklich Geschehene“, ‚la vraisemblance‘ das, „was geschehen könnte“.

Freundliche Grüße,
Ralf

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Hallo Ralf,

danke für deine letzte Antwort noch! Deine Beiträge zu diesem Thema
haben mir überhaupt sehr gute Anregungen gegeben. Deswegen auch Sternchen …(sehr hilfreich!)

Werde jetzt weiter diesen Fragen nachgehen und mich mit
der Thematik vertiefend zuwenden :smiley:

Gruß

Laura