Lagerorchester = Funktionshäftlinge?

Hallo Wissende,

würdet ihr Mitglieder des Lagerorchesters, z.B. in Auschwitz, zu den Funktionshäftlingen zählen?

Schöne Grüße

Petra

Hallo Petra,

würdet ihr Mitglieder des Lagerorchesters, z.B. in Auschwitz,
zu den Funktionshäftlingen zählen?

Das kommt ein wenig darauf an, welche Definition von Funktionshäftling du deiner Fragestellung zugrunde legst bzw. welche Kriterien du miteinander vergleichen möchtest.

Spontan hätte ich diese Frage allerdings mit nein beantwortet. Das liegt darin begründet, dass ich den Terminus „Funktionshäftling“ bisher ausschließlich mit den Kapos assoziiert habe, die die Arbeitsdienste im Lager zu koordinieren und zu überwachen hatten und dadurch also unmittelbar in die Aufrechterhaltung des Lagersystems involviert waren.

Mitgliedern des Lagerorchesters kam zwar zweifellos auch eine nicht weniger befremdliche Funktion zu, indem sie beispielsweise nicht nur morgens und abends für ZwangsarbeiterInnen spielten, sondern ja auch bei der Ankunft von Zügen an den Toren zu spielen hatten. Aber die Funktion, die sie in dem Gesamtkomplex einnahmen, war weniger durch die direkte Arbeitsentlastung der SS gekennzeichnet, sondern eher die einer etwas bizarren Begleitung: sie verliehen den Lagern einen Anstrich von Normalität oder ermunterten vielleicht gar auch zum durchhalten. Andererseits lieferten sie vielleicht den Lagerkommandanten und ihren Schergen auch einfach nur eine besonders markante Hintergrundmusik bei ihren Folterungen (letztere Schlussfolgerung sollte ich, glaub ich, erklären: ich bin auf diese Idee gekommen, weil ich gerade erst vor kurzem gelesen habe, dass im KZ Fuhlsbüttel in Hamburg bei „besonderen Vernehmungen“ in der Gefängniskirche ein SS-Mann die Orgel gespielt hat, während die Gefangenen misshandelt worden sind, auf eine musikalische Begleitung wurde also Wert gelegt).

Zurück zur eigentlichen Frage: Gleichwohl genossen Mitglieder des Lagerorchesters wie die Kapos durchaus gewisse Privilegien und spielten insofern in dem Prozess der Hierarchisierung und Entsolidarisierung der Gefangenen vielleicht durchaus eine ähnliche (obgleich sicher nicht deckungsgleiche) Rolle.

Den letzten Punkt halte ich für durchaus relevant und untersuchenswert. Insofern könnte aus dem anfänglichen nein vielleicht ein klares jein werden.

Die Beantwortung deiner Frage hängt also davon ab, ob du nur das Handeln der betroffenen Menschen oder auch die Wirkung Ihres Handelns im Gesamtgefüge des Lagers insgesamt bewertest. Du müsstest also untersuchen, wie die Mitglieder des Orchesters von den übrigen Gefangenen gesehen wurden, also ob sie ein verstärkendes Element der Entsolidarisierung bildeten oder im Gegenteil tatsächlich eher solidarisierend wirkten. Vermutlich gibt es darauf keine eindeutige Antwort, aber auch die Spannbreite der Bewertungen wäre sicherlich spannend. Ich würde mir in diesem Zusammenhang aber auch Erinnerungen von ehemaligen KZ-Kommadanten oder der Wachmannschaften als Quellen heranziehen, wie sie das Orchester sahen, insofern es überhaupt zur Sprache kommt.

Ganz gleich, welche Ergebnisse deine Analyse der Quellen diesbezüglich hervorbringt, ich würde die Mitglieder des Lagerorchesters trotzdem nicht mit den Funktionshäftlingen gleichsetzen, sondern eher darauf hinweisen, dass sie in dem Entsolidarisierungs- und Hierarchisierungsprozess ein Teilaspekt darstellten.

Gruß
menschine

p.s. Esther Bejarano kennst du vermutlich? Unter anderem in ihren Aufzeichnungen würde ich an deiner Stelle mal nach Hinweisen zur Beantwortung deiner Frage suchen.