Das ‚Ich‘ ist eine Illusion
Hi Suzette.
(spricht man den Namen englisch oder französisch aus?)
Das Ego ist ein soziales Produkt,… es ist kein
Naturgewächs, es ist ein „Konstrukt“.und sozialisierende Prozesse sind keine Konstrukte?
Du bringst das Thema in den Bereich des Dialektischen, wohin es natürlich auch gehört. Das heißt hier, dass Individuum und Gesellschaft immer in einem Verhältnis wechselseitiger Bestimmung stehen.
Ich würde dennoch sagen, dass der Schwerpunkt dieser wechselseitigen Relation ganz eindeutig beim Faktor „Gesellschaft“ liegt. Alles, aber auch alles wird dem heranwachsenden Individuum von Mitmenschen angelernt oder vermittelt. Es wächst vom Start weg in eine Struktur hinein, die ihm die wesentlichen Bezugspunkte und Ziele für das praktische Leben liefert. Es lernt an, mit und durch die Eltern zu lieben, zu hassen, zu begehren, zu verweigern. Es lernt moralische Regeln. Es lernt zu sprechen, also sich kommunikativ in das soziale Leben einzuklinken. Es lernt sich selbst als „Ich“ zu sehen, es bekommt einen Namen aufgeklebt, eine geschlechtliche Identität, ein bestimmtes Rollenverhalten. Wir wissen nicht, wie sich ein Mensch entwickeln würde, der ohne all diese äußeren Faktoren aufwüchse (das bekannte Kaspar-Hauser-Problem).
Aufgrund all dieser Umstände wäre es unsinnig, an irgendeinem Punkt auf der linearen Lebensskala plötzlich eine Zäsur einzukerben und zu sagen: „Stop! Ab jetzt bin ich ein Ich! Ab jetzt will und kann ich frei sein von allen Beschränkungen, die die Gesellschaft mir auferlegt.“ Diese Zäsur kann nie und nirgendwo stattfinden. Der Mensch hat von Anfang an k e i n Ich und wird es auch später nie haben. Das Ich ist ein soziales Konstrukt, das notwendig ist, damit die Individuen mit relativer Selbstverantwortlichkeit handeln können und damit sie überhaupt „adressierbar“ sind.
Das „Ich“: das ist ein Stellvertreter für den Namen eines Individuums. „Wer hat das auf die Tafel gekritzelt?“ - „Ich, Herr Lehrer.“ Wenn der Schüler hier Ich sagt, könnte er genausogut auch seinen Namen sagen. Das Ich ist keine Entität, kein selbstseiendes Ding. Es ist ein Etikett.
Und wenn doch, wer, wenn nicht das Ego ist deren
Schöpfer? Stichwort Autopoiesis.
Ich habe oben erklärt, wie diese Egos zustandekommen: als Konstrukte des Sozialen. Wenn du dagegen sagst, dass die Egos das Soziale konstruieren, stehen wir vor der Frage: was war zuerst da, das Ei oder die Henne? Fakt ist jedenfalls, dass jedes Ego zunächst mal auf Zero war und dann sozial konstruiert wurde. Davon müssen wir ausgehen. Die erwachsen gewordenen Egos besorgen dann die Sozialisation der nachwachsenden Egos.
Betrachten wir aber, wie das System überhaupt entstand, müssen wir zurückgehen in Zeiten, als der Mensch eigentlich noch auf der tierischen Stufe stand. Als er also praktisch noch kein Ego im heutigen Sinne hatte. Die „Sozialisation“ aber funktionierte damals auch schon. Daraus schließe ich: die Sozialisation ist der entscheidende Faktor. Dass die Egos auf diesen Prozess Einfluss haben (das nennt sich u.a. Kulturgeschichte), heißt nicht, dass diese Egos nicht sozialisiert entstanden wären. Das heißt nur, dass es ein Wachstums- und Lernpotential im menschlichen Geist gibt.
Anstatt von „Ich“ ziehe ich es vor, von Individualität zu sprechen. Ein individueller Mensch hat nicht notwendig ein Ego - es ist ein allgemeiner, universeller Geist, der ihn belebt, aber das auf eine individuelle, besondere Weise.
Der Fehler der meisten Leute liegt darin, diesen Unterschied nicht zu erkennen.
Könnte (Konjunktiv!) das erkennende Ego sich nicht
selbstreferenziell aus diesen Strukturen lösen?
Unmöglich. Das Ego i s t eine Struktur, die man psychoanalytisch oder buddhistisch oder sonstwie beschreiben kann. Nimm die Strukturen weg, und das Ego geht ein wie ein plattgeschossener Ballon.
Nun kommst du sicher wieder mit deinen, mir fatalistisch
erscheinenden Aussagen, der Art:
"Soll heißen: der Mensch ist von Geburt an schon „verkauft“.
Da hast du die Ironie und die Anführungszeichen übersehen. Ich habe doch klar gemacht, dass der Mensch alternativlos an soziale Inhalte gebunden ist. Das kann positiv oder negativ sein, je nach diesen Inhalten. Aber es gibt keine Alternative. Das war also n i c h t fatalistisch - denn das würde bedeuten, es gäbe keine positiven Inhalte, an die der Mensch sich binden könnte.
Die gibt es aber.
Gruß
Horst