Lebenserfahrung und Klavierspiel

Hallo Musikkenner,
soeben lese ich in einer Novelle (Das Konzert von Hartmut Lange), dass ein junger begnadeter Klavierspieler den Vortrag einer Alterssonate von Beethoven abbricht, weil er noch zu jung und noch nicht die notwendig Altersweisheit habe. Ich halte das für weit hergeholt. Daher die Frage: Drückt sich im Vortrag einer Klaviersonte tatsächlich auch die Lebenserfahrung des Spielers aus? Ich denke, „handwerkliches Können“ (Virtuosität) sollten genügen, der Ausdruck ist wohl erlern- und trainierbar und wohl eher von der momentanen Stimmung als der Lebenserfahrung des Künstlers abhängig. Oder würde ein Klavierspieler Beethovens E-Dur Sonate op. 109 im Alter tatsächlich anders spielen als in jungen Jahren? Wo läge der Unterschied im Spiel? Danke für Eure Antworten!

Wolfgang D.

hallo wolfgang,

ich denke auch nicht, dass man dringend die gleiche Lebensweisheit/ Altersweisheit braucht wie der Komponist, um dessen Stücke spielen zu können. Ich glaube auch, dass man ein Stück, in dem quasi viel Altersweisheit drin steckt, auch ganz jung und frisch interpretieren kann, jede Interpretation ist sowieso anders und wenn sie authentisch und begründet ist, kann auch eine sehr außergewöhnliche Interpretation ihre Berechtigung haben.
Allerdings:

Drückt sich im
Vortrag einer Klaviersonte tatsächlich auch die
Lebenserfahrung des Spielers aus?

ja! Es geht hier in erster Linie um das Nachempfinden-können von gewissen Gemütslagen, die der Komponist beim schreiben gefühlt hat oder hat ausdrücken wollen.
Ein nachvollziehbareres Beispiel ist Schuberts Winterreise, bei der auch viele Interpreten sehr vorsichtig sind und meinen, sie könnten sie vielleicht (noch) nicht so tief nachempfinden wie sie es müssten, um dem Stück gerecht zu werden. Hier hat es nicht viel mit Altersweisheit zu tun, Schubert war ja nur paarunddreißig, aber mit dem tiefen Gefühl von Todessehnsucht, enttäuschter Liebe. Und wer das selbst noch nicht so stark erlebt hat (von pubertärer Zurückgewiesenheitstrauer abgesehen), der fühlt sich da evtl. nicht reif für. Er kann aber auch den anderen Weg gehen und bewusst eine jugendlich-naive Interpretation abliefern.

Ich denke, „handwerkliches
Können“ (Virtuosität) sollten genügen, der Ausdruck ist wohl
erlern- und trainierbar

oh nein! Beides, Handwerk UND Ausdruck ist zum Teil trainierbar und zum Teil Talent, und wenn ich mich festlegen müsste auf eins von beiden, was mehr Talent erfordert als dass es erlernbar ist, würde ich fast zum Ausdruck neigen.
Ja, man kann den Ausdruck nachmachen, den der Lehrer vormacht, das machen die ganzen Wunderkinder ja auch, und für die genügt das. Aber der Grund, warum die wenigsten Wunderkinder später gestandene Solisten werden, obwohl sie das Handwerk und den Ausdruck schon haben, ist der, dass Erwachsene ihre Persönlichkeit mit einsetzen müssen.
Als Kind bist du quasi noch eine Art ausführendes Organ, als Erwachsener kommt die Persönlichkeit dazu, und die wird a) nicht nur von einem erwachsenen Künstler erwartet, sondern kommt b) noch dem bloßen Technik- und Ausdrucksspiel in die Quere.
Es gibt keinen Erwachsenen, der (sich) nicht hinterfragt, der nicht von sich aus gewisse Dinge ausdrücken will. Ausdruck ist nicht nur laut und leise, kurze, lange Töne, Pedal oder kein Pedal. Ausdruck ist zum einen das Stück mitempfinden auf der Bühne und dazu den Zuhörer auf diese Reise mitzunehmen.
Nur dann wird ein Künstler auch individuell. Handwerklich und ausdrucksmäßig gut spielen kann jeder Klavierstudent.

und wohl eher von der momentanen
Stimmung als der Lebenserfahrung des Künstlers abhängig.

Ein Pianist übt ein Stück, das er aufführt, mehrere Monate, bevor er es auf die Bühne bringt. Damit eben möglichst nichts von der Tagesform abhängig ist. Ist der Pianist müde, kann er seine lebhaften Stücke doch nicht müde klingen lassen. Nein, der Musiker muss in der Lage sein, egal, wie er grade drauf ist, sich im Konzert vollkommen in die Musik einzufühlen, in dem Gefühl aufzugehen, das dieses und jenes Stück gerade fordert, und zugleich noch Herr seiner selbst zu bleiben.
In das Üben und die Interpretation des Stücks findet sehr wohl die Lebenserfahrung Platz. Momentane Stimmung macht nur kleinste Veränderungen beim Vortrag aus.

Oder
würde ein Klavierspieler Beethovens E-Dur Sonate op. 109 im
Alter tatsächlich anders spielen als in jungen Jahren? Wo läge
der Unterschied im Spiel?

Das Gemeine an der Musik ist, dass man so etwas nicht festmachen kann, dass es keine „Gebrauchsanweisung“ gibt.
Um an oben anzuknüpfen: Wenn jemand z.b. eine tieftraurige Stelle spielt und in diesem Moment eigene erlebte Trauer nachfühlt, findet er womöglich einen ganz besonderen Klang, ein ganz besonderes Rubato, eine ganz besondere Art, das Pedal zu halten. Dann findet er lauter Stilmittel, nach denen er vorher, bevor er diese tiefe Trauer nachempfinden konnte, bevor er also evtl. selbst ein Erlebnis hatte, das dieses Gefühl auslöste, immer verzweifelt gesucht und nicht gefunden hat. Und er kann diese auch so rüberbringen, dass sein Gefühl beim Zuhörer genauso ankommt.

Ich hoffe, das ist einigermaßen nachvollziehbar.

Gruß
Judy

hallo wolfgang,

ich denke auch nicht, dass man dringend die gleiche
Lebensweisheit/ Altersweisheit braucht wie der Komponist, um
dessen Stücke spielen zu können. Ich glaube auch, dass man ein
Stück, in dem quasi viel Altersweisheit drin steckt, auch ganz
jung und frisch interpretieren kann, jede Interpretation ist
sowieso anders und wenn sie authentisch und begründet ist,
kann auch eine sehr außergewöhnliche Interpretation ihre
Berechtigung haben.
Allerdings:

Hallo Judy,

dank für Deinen tollen Beitrag, dafür einen *

Wolfgang D.

Es ist schon so, dass jungen Pianisten häufig vom Spiel gewisser Werke abgeraten wird, die späten Beethoven-Klaviersonaten gehören sicherlich dazu, v.a. die letzte, opus 111 wegen des 2.Satzes. Häufig sind es besonders gewichtige Spätwerke, vor denen junge Spieler zurückschrecken bzw. zu viel Respekt haben, um sie zu spielen, oder von denen sie von ihren Lehrern abgehalten werden.

Wenn man sich klarmachen will, was in diesen Werken drinsteckt, was junge Menschen oftmals nicht oder nur selten und schwer nachfühlen und darstellen können, empfehle ich mal zu lesen:

  1. Die 5 Seiten, die Thomas Mann in seinem Doktor Faustus der Sonate op.111 widmet (zwischen S.50 und 100)

  2. Eine Besprechung einer späten Klaviersonate (z.B. Hammerklaviersonate op.106 oder op.111) aus Joachim Kaisers „32 Beethoven Klaviersonaten und ihre Interpreten“.