Servus,
die Sache mit dem Leichenschmaus ist nicht religiös oder biblisch, sondern eine pragmatisch entstandene Tradition der letzten paar hundert Jahre: Wer zu einer Leich kam, hatte noch vor ein-zwei Generationen teilweise eine anstrengende Reise oder einen dito Fußmarsch zu absolvieren. Da ist es naheliegend, dass man die Gäste ähnlich wie bei anderen feierlich begangenen Anlässen bewirtet.
Motive von Speise- und Trankopfern spielen da vielleicht mit hinein - die sind übrigens gar nicht so arg unchristlich: Aus Bolivien wurde mir erzählt, dass da gute Katholiken zu Allerseelen auf den Friedhof gehen, um am und auf dem Grab der verblichenen Angehörigen sozusagen mit diesen zusammen ordentlich zu Feiern.
Ein Nebeneffekt ist, dass nicht nur - wie beim Opfer - die Seele des Verstorbenen freundlich gestimmt wird, sondern auch umgekehrt die Anwesenden mit zwei Viertele Schwarzriesling und einem Rostbraten mit Spätzle intus viel leichter geneigt sind, dem Verstorbenen mit ein paar freundlichen Gedanken das Geleit zu geben und seine zwei-drei Unzulänglichkeiten gerne zu übersehen, als wenn der Magen knurrt und der Kälte der Aussegnungshalle vielleicht höchstens mit ein-zwei Tässlein Brombeerblättertee begegnet werden kann. Dem Verstorbenen mit freundlichen Gedanken und guten Worten das Geleit zu geben, ist nun auch nicht genuin christlich, aber auch nicht etwas, was man aus christlichem Standpunkt abtun müsste. Das Motiv, dass es eine Zeit gibt, während der er nicht mehr ganz hier und noch nicht ganz drüben ist, wird in der Bibel zwar bloß von Jesus Christus selber berichtet, aber es wird Dir beim Tod Nahestehender sicherlich auch schon begegnet sein - das ist keine Spökenkiekerei, es beißt sich nicht mit religiösen Motiven: Aus religiöser Sicht wird vor allem deutlich, dass man eben nicht hinüberschauen kann, dass man eben nicht wissen kann, wie es drüben ist, und sich maximal glaubenderweise drauf verlässt, dass es auf der anderen Seite weiter geht. Wahrscheinlich gibt es mehr oder weniger gesicherte psychologischen oder - im Idealfall - neurologischen Erkenntnisse dazu: Aber es ist sicher auch nicht verkehrt, die häufigen rational nicht erklärbaren Wahrnehmungen des Todes eines Nahestehenden einfach so stehen zu lassen wie sie sind. Aus christlicher Sicht verbotene Zauberei und Gespensterfängerei wäre es erst, wenn man daraus irgendwelchen Glauben im Verstoß gegen das erste Gebot ableiten wollte - einen Verstorbenen mit Anstand und in freundlicher Erinnerung zur Tür zu bringen, ist wohl nicht verboten.
Vielleicht kennst Du von katholischen Beerdigungen das Gebet für denjenigen unter den Anwesenden, der als nächster aufgerufen werden wird. Darin ist die Vergänglichkeit des Diesseitigen schön zum Ausdruck gebracht. Und zu dieser Vergänglichkeit gehört eben auch das Motiv „Wir leben noch“ - und das darf schon von Rostbraten, Spätzle und Schwarzriesling begleitet sein.
Ich such jetzt nicht die einzelnen biblischen Belege dafür, dass nach christlicher Auffassung der Tod nichts Schlimmes oder Böses ist, sondern im Gegenteil die Hauptsache erst nachher kommt - ich denke, Du wirst in diesem Punkt einig gehen. So dass doch eigentlich eine Beerdigung in diesem Sinn einen erfreulichen, erleichternden Aspekt hat, und eben auch Anlass zum Feiern gibt: Wieder einer, der es geschafft hat und nach all dem Unsinn und all der Quälerei endlich heimgekommen ist zu seinem Vater.
Mein Vater, von dem ich erst relativ kurz vor seinem Tod mitgekriegt habe, wie tief überzeugter Christ er war (das war, solange ich ihn gekannt habe, überdeckt durch eine Neigung zu Sarkasmus und Ironie; auch professionell als Psychiater gab er sozusagen den „Geist, der stets verneint“; eingeschlafen ist er dann nach kurzem heftigem Kampf mit einem schalkhaften Lächeln), hat sich zu seiner Beerdigung gewünscht, dass ihm die Trauergemeinde Paul Gerhardts „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ singen möge. Das war an diesem tristen, windigen, kalten Februartag, wo es oben bei St. Martin aus allen Richtungen blies wie fast immer, ein richtig strahlender Auftritt des Schussenrieder Posaunenchors. Einige Momente lang hab ich geglaubt, dass das schon seine Richtigkeit hat mit all den Hoffnungen auf nachher, und dass er jetzt tatsächlich auf dem Weg wäre, endlich das Gesicht seines Herrn zu sehen: Schon ein Anlass zum Feiern, oder nicht?
Bref: Was spricht denn umgekehrt dafür, eine Leich so asketisch wie möglich zu begehen? Es gibt zwar eine Empfehlung, jemand möge einer Beerdigung keine so große Bedeutung beimessen „Lasset die Toten ihre Toten begraben“, aber die steht in einem ganz anderen Kontext und lässt sich nicht als Maßstab anlegen.
Ein schöner Titel für einen Leichenschmaus ist von Dragoslav Stepanovic: „Läbbe geht weiter!“ - für die anderen und auch für den Verstorbenen.
In diesem Sinne
MM