Hallo,
in der Branche, in der du akquirierst, kenne ich mich nicht aus. Branchenspezifische Zahlen zur Dauer von Kundenakquisition habe ich leider nicht. Daher kann ich nur allgemein etwas dazu sagen.
Zwar ist die Zielsetzung deines Chefs nachvollziehbar, dass die Investition in Marketing, wie das Entgelt für eine Marketingfachfrau, möglichst bereits in der laufenden Geschäftsperiode durch Mehrumsätze - Erstkauf der Neukunden, neben Rebuy, Cross- und Up-Selling von Stammkunden - mindestens gedeckt werden soll. Wie du argumentierst, in der Kaltakquisition aber entwickelt sich Vertrauen meist erst nach mehreren Kontakten und Geschäftsbeziehungen ergeben sich oft erst in der Zukunft.
Eine Investition in vertrauensbildende Maßnahmen lässt sich allgemein nicht nur klassisch bei Dienstleistungen sondern auch bei Gütern ökonomisch rechtfertigen, wenn a) der potenzielle Käufer Information und Indikatoren sucht, da aufgrund des hohen Preises, der einmaligen oder unregelmäßigen seltenen Anschaffung, o. a. die Qualität, und die Art und die Sinnhaftigkeit einzelner Eigenschaften des Produkts relevant sind (in wirtschaftswissenschaftlicher Begrifflichkeit high involvement product), b) die Qualität oder die Eigenschaften des Produkts erst nach dem Kauf feststehen (z. B. kundenindividuelle Anfertigung), sich sogar nach dem Kauf nicht eindeutig feststellen lassen (z. B. Wirksamkeit), oder aufgrund geringer sachlicher Kenntnisse und Erfahrungen des potenziellen Käufers kaum eingesehen oder beurteilt werden können, und überdies c) ein Überangebot vorliegt, und die Qualität und die Eigenschaften konkurrierender Produkte sich objektiv oder aus Abnehmersicht kaum unterscheiden. Dies einzuschätzen möglich auf der Grundlage einer professionellen Marktanalyse ist allerdings eine vorgeschaltete Managementaufgabe. Falls grundlegend oder temporär aktive Kundenakquisition für das Produkt nicht realistisch ist, ist das Nichterreichen der Kennzahlen nicht auf dich zurückzuführen.
Auch manche anderen Maßnahmen rentieren sich mittel- bis langfristig. Wenn seine emotionale, kognitive, soziale, finanzielle oder infrastrukturelle Lage stabiler oder inzwischen verändert und passend ist, kommt der potenzielle Käufer auf das marketingbedingt als nützlich und angenehm erinnerte Produkt zurück. Wenn ein potenzieller Käufer nicht sofort kauft, bedeutet dies also nicht, dass der Marketer versagt hat. Gleichfalls sollte sich ein Marketer nichts dergleich zwangsläufig vorwerfen lassen, wenn ein Kunde abwandert (insb. der Kundentyp variety seeker, der, obwohl er zufrieden ist, untreu wird, weil er immer etwas anderes möchte). War der Kunde mit dem Kernprodukt, begleitenden Service, oder vieles mehr nach seinen subjektiven und situativen Kriterien zufrieden, kommt er oftmals zurück.
Gewissermaßen systemtheoretisch anhand einer zentralen Unterscheidung Kunde gewonnen/ nicht gewonnen deine Arbeitsleistung zu bewerten wäre nicht vollständig und nicht immer zutreffend. Außer in einem hochdynamischen, kurzlebigen Markt oder wenn das Produkt in absehbarer Zeit abgesetzt wird (dog und ggf. cash cow, als zwei Stadien niedrigen Marktwachstums einer Matrix der Unternehmensberatung The Boston Consulting Group (BCG)), sollte ein Marketer zudem zur Entstehung oder Erhaltung der Marke weitsichtig beitragen. In der Telefonakquise ist dies die Qualität der Kommunikation mit dem Kunden (bspw. empathisch anstatt hard selling, das zwar einen Kaufabschluss erdrängt, aber nachher Enttäuschung, einen emotionalen Knacks und negative Mundpropaganda des Kunden zurücklässt). Nicht immer zutreffend wäre deine Arbeitsleistung bewertet, da es von vielen Faktoren abhängt, ob ein Kaufabschluss erfolgt oder nicht. Einige bestimmte Faktoren sollte ein Marketer jedenfalls teilweise zu beeinflussen verstehen (z. B. Bekanntheitsgrad des Produkts, Mehrwerte des Produkts). Einige andere Faktoren befinden sich indes nicht im Einflussbereich eines Marketers (z. B. Kaufzurückhaltung wegen wirtschaftlicher Rezession oder einer Persönlichkeitsstörung). Weshalb ein potenzieller Käufer gekauft oder nicht gekauft hat, ist häufig ohne eine zeitlich und monetär zu aufwendige empirische Erhebung jedoch nicht bekannt.
Um eine entspannte, produktive Arbeitsatmosphäre zu schaffen, sollte dein Chef in seinem Bereich selbst Marketing betreiben (internes Marketing, Mitarbeiterorientierung).
Wird dir weniger Lohn abhängig vom nur unmittelbar numerischen Arbeitsergebnis ausgezahlt, würde ich raten zunächst den Arbeitsvertrag nochmal zu lesen. Falls gegeben könntest du mit dem Betriebsrat besprechen. Auch kannst du beim Arbeitsgericht klagen.
Gruß,
Sofie Hansen