Die Geschichte einer optischen Täuschung
In meiner Kinderzeit wurde oft gemutmaßt, dass es Menschen auf dem Mars gäbe, weil man dort die sogenannten „Kanäle“ festgestellt hatte. Kürzlich las ich, dass sich die Kanaltheorie durch die diversen Sonden als Irrtum herausgestellt haben.
Leider stand nicht dabei, was sie „Kanäle“ denn tatsächlich waren. Wieso gab es dort so lange gerade Linien, die als Kanal interpretiert wurden? Sie können ja nicht plötzlich verschwunden sein. Was also steckte dahinter?
Seit dem 17. Jahrhundert war bekannt, daß es auf dem Mars helle und dunkle Flächen sowie weiße Polkappen gibt.
Der Astronom Schiaparelli entdeckte 1877 die beiden winzigen Marsmonde Deimos und Phobos; außerdem sah er dunkle Linien auf dem Mars, die schnurgerade von einem zum anderen dunklen Gebiet quer durch die hellen Gebiete liefen. Er nannte diese Linien „canali“, ohne sich näher über Entstehung und Funktion der „canali“ zu äußern.
Das Problem der „canali“ war, daß die Mehrzahl der Astronomen jener Zeit sie nicht sahen. Aber wer hätte gewagt, dem Entdecker der Marsmonde zu widersprechen?
Zu den wenigen, die die „canali“ sahen, gehörte der Privatmann und Hobbyastronom Percival Lowell, der sich 1894 von seinem Privatgeld eine Sternwarte in Flagstaff/Arizona gebaut hatte. Lowell sah aber noch mehr: Die dunklen Flächen auf dem Mars schienen ihm graublau oder graugrün zu sein. Der grüne Farbanteil schien sich zu vergrößern, wenn der Marssommer einsetzte und die Polkappe abschmolz. Lowell hielt die graugrüne Fläche für Vegetation, die durch das Schmelzwasser der Pole zu wachsen anfängt. In der darüber ausbrechenden wissenschaftlichen Kontroverse äußerte Lowell dann, die „canali“ seien wirkliche Kanäle, sie würden ein planetenumspannendes Bewässerungssystem bilden, mit dem eine uralte Zivilisation gegen den Tod durch Vertrocknen ankämpft; die roten Flächen wären schon Wüste. Den Einwand, die Kanäle seien bei dem bißchen Wasser, das sie führen könnten, zu dünn, um von der Erde aus gesehen zu werden, vermochte Lowell zu parieren: Links und rechts der Kanäle sei ein Stück bebautes Land, und deswegen wären sie sichtbar.
Allerdings zweifelte ab 1905 auch Lowell an den Kanälen. Sie waren auf Fotos nicht zu sehen. Er wandte sich deswegen von Mars ab zur Suche nach dem „transneptunischen Planeten X“.
Die Bekanntheit der „Marskanäle“ resultierte aus einer Unzahl Abenteuergeschichten über „Flüge zum Mars“; das 1938er Hörspiel von Orson Wells, das in den USA eine Massenpanik auslöste, handelte davon, daß „Schiffe vom Mars“ auf der Erde gelandet seien.
In dem sehr zuverlässigen Buch „Schlag nach - Natur“ von 1950 heißt es, daß die Marskanäle allgemein als optische Täuschung angesehen würden, weil das Auge helle und dunkle Punkte gern durch Linien miteinander verbindet. Aber die dunklen Flächen wurden immer noch für „Sumpfgebiete mit niedriger Vegetation oder Steppe“ gehalten.
Die amerikanische Raumsonde „Mariner 4“ nahm 1965 aus knapp 10.000km Entfernung vom Mars 22 Fotos auf und sandte sie zur Erde. Sie zeigten eine Kraterlandschaft. Trotzdem steht noch in einem 1969 erschienenen Buch etwas über das „Rätsel der Marskanäle“, obwohl ein paar Seiten weiter eines der Mariner-4-Fotos abgedruckt ist.
Im Jahre 1971 gewann „Mariner 9“ über 7.000 Bilder des Mars, aus denen eine Art Karte zusammengesetzt werden konnte. Das war dann nach fast 100 Jahren das Ende der „Marskanäle“.
Summa: Die Marskanäle waren eine optische Täuschung. Sie „hielten“ sich nur deswegen so lange, weil erstens einige profilierte Astronomen wie Schiaparelli und Lowell sie gesehen hatten, und zweitens, weil sie von der Abenteuerliteratur populär gemacht worden waren.