Hallo Walden,
In bezug auf das Heilsziel ‚bodhi‘ sind
diese Dinge irrelevant, insofern kann hier weder von Erfolgen
noch von Misserfolgen geredet werden.
Auch nicht im oben genannten Sinn? Wenn du einer Lehre folgst,
ist sie erfolgreich oder nicht.
Mit „diese Dinge“ war „Armut oder Wohlstand“ bzw. sozialer Status gemeint – es ging ja hier im Thread ursprünglich um die Behauptung, buddhistische Praxis ziele auf Wiedergeburt in einer höheren Kaste ab. Dass der achtfache Pfad zur Überwindung des Leidens führt, also in diesem Sinne, wenn er konsequent gegangen wird, ‚erfolgreich‘ ist, davon gehen Buddhisten natürlich aus.
Dieses ‚davon ausgehen‘ ist verwandt mit der Forderung des ‚Glaubens‘ im Christentum, zeigt jedoch einige nicht unbedeutende Unterschiede. Daher wird der entsprechende Begriff – saddha – idR auch mit ‚Vertrauen‘ übersetzt, nicht mit Glaube. Saddha ist etwas anderes als nitiham (etwa: Überlieferungsglaube). Häufig zitiert wird in diesem Zusammenhang das Kalamer Sutta (A.III.66):
„Geht […] nicht nach Hörensagen, nicht nach Überlieferungen, nicht nach Tagesmeinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen und logischen Schlüssen, nicht nach erdachten Theorien und bevorzugten Meinungen, nicht nach dem Eindruck persönlicher Vorzüge, nicht nach der Autorität eines Meisters! Wenn ihr aber […] selber erkennt: ‚Diese Dinge sind unheilsam, sind verwerflich, werden von Verständigen getadelt, und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Unheil und Leiden‘, dann […] möget ihr sie aufgeben.“
Vertrauen ist ein Glaube auf Kredit, ein Glaube, der der Bestätigung durch eigene Erfahrung bedarf. Die Verifizierung ist möglich, weil das Heilsziel nicht im Transzendenten verortet wird, sondern unmittelbar erfahrbar ist. Nicht nur Bodhi, das Erwachen / die Erleuchtung ist erfahrbar – schon im ‚Vorfeld‘ erfährt man durch ernsthafte buddhistische Praxis eine Transformation subjektiven Erlebens in Richtung Leidfreiheit.
- so können diese als Indikatoren ‚erfolgreichen‘ (ethischen)
Handelns im o.a. Sinne genommen werden, weil sie mit bodhi in
engem Zusammenhang stehen.
OK, so meinte ich das. Haben Misserfolge, also auch
äußerliche keine erzieherischen oder weisenden Effekte?
Grundsätzlich hat jede Erfahrung potentiell einen erzieherischen oder weisenden Effekt. Ob ‚äußerlicher‘ Erfolg oder Misserfolg - es gilt, unsere Reaktion auf diese Erfahrungen zu beobachten und zu analysieren. Durch Übung kann man lernen, dies sehr unmittelbar zu tun – Empfindungen und Gefühle im schon im Augenblick des Entstehens bewusst wahrzunehmen. Dies ist ‚rechte Achtsamkeit‘, einer der acht Übungsaspekte buddhistischer Praxis. So gelangt man dazu, die Dinge anzunehmen, wie sie kommen, ohne Gier und ohne Furcht – und sie loszulassen, wie sie gehen, ohne Erleichterung und ohne Bedauern.
Dann wird die Frage nach dem „Wozu“ also ignoriert?
Ja, es ist eine Frage, deren Beantwortung nicht heilsdienlich ist. Es gibt dazu im Culamalunkya Sutta (M.63) ein bekanntes Gleichnis:
„Gleichwie etwa, […] wenn ein Mann von einem Pfeile getroffen wäre, dessen Spitze mit Gift bestrichen wurde, und seine Freunde und Genossen, Verwandte und Vettern bestellten ihm einen heilkundigen Arzt; er aber spräche:
‚Nicht eher will ich diesen Pfeil herausziehn bevor ich nicht weiß, wer jener Mann ist, der mich getroffen hat, ob es ein Krieger oder ein Priester, ein Bürger oder ein Bauer ist, […]wie er heißt, woher er stammt oder hingehört, […]ob es ein großer oder ein kleiner oder ein mittlerer Mensch ist, […] ob seine Hautfarbe schwarz oder braun oder gelb ist, […] in welchem Dorf oder welcher Burg oder welcher Stadt er zu Hause ist, […] bevor ich den Bogen nicht kenne, der mich getroffen hat, ob es der kurze oder der lange gewesen, […] bevor ich die Sehne nicht kenne, die mich getroffen hat, ob es eine Saite, ein Draht oder eine Flechse, ob es Schnur oder Bast war, […] bevor ich den Schaft nicht kenne, der mich getroffen hat, ob er aus Rohr oder Binsen ist, […] mit was für Federn er versehn ist, ob mit Geierfedern oder Reiherfedern, mit Rabenfedern, Pfauenfedern oder Schnepfenfedern, […] mit was für Leder er umwickelt ist, mit Rindleder oder Büffelleder, mit Hirschleder oder Löwenleder, […] bevor ich die Spitze nicht kenne, die mich getroffen hat, ob sie gerade oder krumm oder hakenförmig ist, oder ob sie wie ein Kalbzahn oder wie ein Oleanderblatt aussieht‘: nicht genug könnte, […] dieser Mann erfahren: denn er stürbe hinweg.“
Durch die buddhistische Praxis wird die Frage obsolet bzw. die Antwort findet sich auf einer Ebene, die nicht kommunizierbar ist. Dazu weiter unten mehr.
Ist dir die „ontologische Differenz“ ein Begriff?
Grob. Es gibt Menschen, die schätzen Heideggers Sprache, andere finden sie abstoßend. Ich persönlich gehöre zu den Menschen, die das ‚Heideggern‘, den ‚Jargon der Eigentlichkeit‘ (Adorno), als eine Zumutung empfinden. Das hat mich von einer tieferen Beschäftigung mit ihm abgehalten.
Vielleicht wird meine Intention des threads jetzt
deutlicher?
Ein wenig schon. In der buddhistischen Philosophie wird allerdings Sein und Seiendes nicht geschieden. Es gibt keine Inhärenz (und folglich auch keine Subsistenz), sie wird explizit verworfen. Dies ergibt sich aus der grundlegenden Lehre von den drei Seinsmerkmalen (trilaksana) – die Dinge (dharmata, das empirisch Erfahrbare) werden leidhaft erfahren (duhkha), sie sind unbeständig, im Fluss (anitya) und sie haben keine Identität, keinen festen Wesenskern, kein ‚Sein‘ (anatman). Sie sind allesamt aufeinander bezogen, gegenseitig bedingt und bilden so einen Konditionalnexus. Außerhalb dieses Nexus steht nichts Bedingendes, das selbst nicht-bedingt wäre.
So jedenfalls die Position der noch existierenden buddhistischen Denkrichtungen. Es gab in der Geschichte Schulen des sog. hinayanischen Zweiges, die mehrere nicht-bedingte dharmata (in unterschiedlicher Anzahl) postulierten - so z.B. den Raum. Die einzige noch existierende Schule dieses Zweiges, die Theravada-Schule, fasst allerdings lediglich nirvana als nicht-bedingt auf - allerdings nicht als etwas, das seinerseits bedingend auf samsara (Sein/Seiendes) wirken würde. Der andere Hauptzweig, das Mahayana, verwirft auch dieses und postuliert eine fundamentale Identität von nirvana und samsara. Der Unterschied besteht in der Existenz bzw. Nicht-Existenz einer ‚entfalteten Vorstellung‘ (vikalpa), deren Bestandteil die Bedingungsbeziehungen sind. Existiert vikalpa, ist alles bedingt - ist es aufgelöst, ist nichts bedingt, da nichts im herkömmlichen Sinne existiert.
Die (mahayanisch-)buddhistische Position, die das Seinsmerkmal (laksana) ‚anatman‘ explizit als ‚leer von einem inhärenten Sein‘ definierte (insbesondere ist hier Nagarjuna zu nennen), entstand vermutlich als Gegenposition zur hinduistischen Vaisesika-Philosophie, die sechs Kategorien (padartha) des Seins definierte: dravya (Substanz, Materie), guna (Akzidens, Eigenschaft), karma (Handeln), samanya (Allgemeinheit), visesa (Unterschiedenheit) und samavaya. Dieses ‚samavaya‘ ist es, das gewöhnlich mit ‚Inhärenz‘ wiedergegeben wird. Es steht (etwas allgemeiner als in der abendländischen Philosophie) für Relationen zwischen einem Über- und einem Untergeordneten - also z.B. für die Relation zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, zwischen Substanz und Akzidens, zwischen Generellem und Speziellem. Der Buddhismus wiederum verwirft solche ‚hierarchischen‘ Relationen. Die Begriffe, die Erfahrungen wiedergeben, sind wie die Erfahrungen selbst in Art eines Netzes (der bereits angesprochene Konditionalnexus, pratitya-samutpada) aufeinander bezogen, nicht in Art einer Stufenleiter oder Pyramide auf etwas Transzendentes, jenseits der Erfahrung, hinter den Begriffen Liegendes. Begriffe bilden also Bezüge und Bedingungen ab, keine Dinge, die ‚an sich‘ und ‚für sich‘ (abgetrennt und isoliert) nicht existieren. Das ‚Ganze‘, die ‚Substanz‘, das ‚Generelle‘, das ‚Sein‘ - das sind alles nur Gedankenkonstruktionen, denen keinerlei tatsächliche Realität zukommt. Das ist eine Konsequenz der anatman-Lehre.
Das meinte ich eher im philosophischen Sinne. In der Tradition
abendländischer P.
Vielleicht ist nun ein wenig deutlicher geworden, dass da kein grundsätzlicher Widerspruch besteht.
Wenn du Dich z.B. eingehend mit Schopenhauer befasst hast, dann wird Dir vieles bekannt und verwandt vorkommen. Für Westler kann das den Zugang außerordentlich erleichtern. Was den Aspekt ‚mystischer‘ Erfahrung angeht, so gilt etwa für Meister Eckart Entsprechendes.
Du nennst Buddhismus Religion? Ich dachte mir immer es
sei eine Art philosophischer Lehre, ohne Dogmatik?
Das hat mich immer für ihn eingenommen.
Nun, in meinem Verständnis ist Buddhismus in erster Linie ein Weg praktischer Lebensführung und –erfahrung – erst in zweiter Hinsicht der zugehörige theoretische Überbau. Die Freiheit von Dogmatik würde ich nicht unbedingt als ein Kennzeichen von Philosophie ansehen. Im Buddhismus beruht sie auf der Grundaussage, dass es zwei Arten der Wahrheit gibt. Da ist paramartha-satya – die höchste, absolute Wahrheit. Diese entzieht sich jedoch sprachlichem Ausdruck und logisch-intellektuellem Erfassen, sie kann lediglich direkt und unmittelbar erfahren werden, wenn sämtliche Kategorien des Denkens losgelassen werden. Ich möchtes das illustrieren, indem ich hier zwei Zitate einander gegenüberstelle. Das erste ist Dir sicher bekannt, es stammt aus Kants Kritik der reinen Vernunft:
„Denn durch das Ich, als einfache Vorstellung, ist nichts Mannigfaltiges gegeben; in der Anschauung, die davon unterschieden ist, kann es nur gegeben und durch Verbindung in einem Bewußtsein gedacht werden. Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewußtsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde anschauen; der unsere kann nur denken und muß in den Sinnen die Anschauung suchen. Ich bin mir also des identischen Selbst bewußt, in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesamt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen. Das ist aber soviel, als, daß ich mir einer notwendigen Synthesis derselben a priori bewußt bin, welche die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption heißt, unter der alle mir gegebenen Vorstellungen stehen, aber unter die sie auch durch eine Synthesis gebracht werden müssen.“
Das zweite Zitat stammt von Dogen Kigen, aus dem Genjokoan-Kapitel des Shobogenzo:
„Was man das Ergründen des Buddhaweges nennt, ist das Ergründen des Selbst.
Was man das Ergründen des Selbst nennt, ist das Vergessen des Selbst.
Was man das Vergessen des Selbst nennt, ist Aufgehen im Bezeugen der Erleuchtung durch die zehntausend Dinge.
Was man Bezeugen der Erleuchtung durch die zehntausend Dinge nennt, ist das Ineinander-Aufgehen von Körper und Geist des Selbst und Nicht-Selbst, wenn sie sich lösen und abfallen.“
Das, was Dogen hier versucht, in Worte zu fassen, ist der Prozess, der zur Erfahrung von paramartha-satya führt. Das Kant-Zitat hingegen beschreibt die Ebene der Erfahrung aus einer Ich-Perspektive - ob man es „synthetische Einheit der Apperzeption“ nennt oder vikalpa, ‚entfaltete Vorstellung‘, bleibt sich da gleich. Wird diese Erfahrung kommuniziert, mit Anderen geteilt, dann bewegen wir uns auf der Ebene konventioneller Wahrheit, samvrti-satya.
Auf der Ebene samvriti-satya kann keine absolute Wahrheit formuliert werden, kein Dogma. Aussagen auf dieser Ebene haben intentionalen, Werkzeugcharakter. Entscheidend ist nicht ihr Wahrheitsgehalt (den sie im absoluten Sinne gar nicht haben können), sondern der illokutionäre Akt. Auch hier gilt – wie bei der Ethik - das Kriterium ‚Heilsamkeit‘ oder ‚Unheilsamkeit‘. Nicht richtig oder falsch.
Glaube nichts, was du nicht glauben kannst etc.
So ist es – vgl. das Kalamer-Sutta weiter oben.
Freundliche Grüße,
Ralf