Menüfolge bei Brecht

Liebe Wissende,

ich hoffe, ich bin bei Euch richtig - oder lieber bei „Geschichte“?
In Brechts „Kleinbürgerhochzeit“, geschrieben 1919, Uraufführung 1926, gibt es eine recht schräge Menüfolge:

-Kabeljau
-Pudding mit Sahne und Sauce
-Gebäck und Wein

und später dann noch
-Creme und Glühwein

Mir erscheint insbesondere die direkte Folge von Pudding und Gebäck etwas seltsam. War/ist das im süddeutschen Raum üblich? Oder war es schon damals absonderlich? Dann müsste ich die Reaktion der Gäste ja anders inszenieren. Ist es womöglich gar kein süßes Gebäck?
Was ist unter „das Creme“ zu verstehen, das laut Textbuch nicht auf dem Herd zubereitet wird? Und dazu Glühwein???

Hallo Andreas,

ich hoffe, ich bin bei Euch richtig - oder lieber bei
„Geschichte“?

es gibt eine ganze Wissenschaft Geschichte des Essens und Trinkens

In Brechts „Kleinbürgerhochzeit“, geschrieben 1919,
Uraufführung 1926, gibt es eine recht schräge Menüfolge:

-Kabeljau
-Pudding mit Sahne und Sauce

„Pudding“ meint nicht:
Milch mit Stärke gekocht
sondern:
Durchgedrehtes/gehacktes Fleisch mit Eiern, Mehl, Gewürzen und evtl. Butter zu einer dicken Masser gemengt und in einer „Puddingsform“ gekocht
ich gebe mal ein modernes Fisch-Rezept, in der Eile nur das gefunden, damit Du es Dir ungefähr vorstellen kannst
http://www.kochmix.de/rezept-drucken-23285.html

… gibt es auch in der Brotvariante, ungefähr wie Serviettenkloß(Böhmische Knödel) aber eben in einer Metallform im heißen Wasserbad gekocht oder im Ofen gebacken

kommt in Scheiben geschnitten auf den Tisch und schmeckt Du glaubst es nicht wie lecker
Heute nennt man die Fleischvariante eher „Pastete“

-Gebäck und Wein

vermutlich Kleingebäck, also „Plätzchen“ oder ein Napfkuchen. Kuchen und Kompott als Nachtisch war vor Einführung von Kühlschrank und Eismaschine sehr beliebt. Der Wein dürfte ein sehr süßer Dessertwein gewesen sein; Madeira, Sherry, vielleicht Moselwein, Ausprägung mindestens Spätlese

und später dann noch
-Creme und Glühwein

Mir erscheint insbesondere die direkte Folge von Pudding und
Gebäck etwas seltsam. War/ist das im süddeutschen Raum üblich?

nicht nur dort!
Ich besitze zahlreiche Kochbücher aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Dort sind immer wieder einmal ähnliche Menüfolgen für die gutbürgerliche Küche beschrieben.
… übrigens ist das Brecht-Menü ein eher sparsames
eben kleinbürgerlich. Kabeljau war vermutlich Stockfisch, denn bekam man ganzjährig relativ preisewert und im Winter auch manchmal frisch. Braten konnten sich die Leute nicht leisten, darum die Puddingversion und weil es halt doch eine Hochzeit war, mit Sahne (und nur Soße)

Oder war es schon damals absonderlich? Dann müsste ich die
Reaktion der Gäste ja anders inszenieren. Ist es womöglich gar
kein süßes Gebäck?

das Gebäck schon, aber der Pudding nicht
siehe oben

Was ist unter „das Creme“ zu verstehen, das laut Textbuch
nicht auf dem Herd zubereitet wird? Und dazu Glühwein???

es gibt zwei, nein sogar Möglichkeiten:
1: die Creme wurde auf einer Art Rechaud/Spirituskocher direkt bei Tisch bereitet - vielleicht weil die Hausfrau dem Transport vom Herd zur Tafel nicht traute (Creme fällt zusammen)
2. es war tatsächlich eine kalt gerührte Creme,
also etwa so etwas wie Dickmilch, Quark etc
solches ist mir aber in alten Kochbüchern eher nicht begegnet
3. Es war eine gestockte Eiermilchcreme = Crema catalana/Creme brulée.
dazu verquirlt man frische Milch und viele Eigelb + 1 ganzes Ei mit Zucker, gießt das Ganze in eine Form und lässt es im Ofen (dort im Wasserbad) bei milder Hitze stocken.
Heute flämmst Du das mit dem Propangasding ab, nachdem die Oberfläche gezuckert wurde

damals nahm die Hausfrau ein glühendes Schüreisen und hielt es kreuzweise über die fertige kalte Creme, so dass es auch noch ein nettes braunes Gitter bekam

so. Hoffe geholfen zu haben
viele Grüße
Geli

Servus, Andreas,

Gelis tollen Ausführungen ist nichts hinzuzufügen, außer vielleicht den kleinen Zusatz, dass mit „das“ Creme vermutlich die Creme Bavaroise gemeint ist. Näheres und Zubereitungsart habe ich dir schon im Brett „Dialekte“ geschrieben.

Hier nochmal eines der vielen, vielen Rezepte:
http://www.chefkoch.de/rezepte/257501101160654/Bayer…

LG.jenny

Danke!
Liebe Geli, liebe Jenny,
einen dicken Knutscher für Eure Hilfe!

Das bringt zwar mein Konzept gehörig durcheinander, aber nun erscheint es mir logisch. Die Puddingform kenne ich noch von meiner Mutter - blöde, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin, aber die Sahne hat mich wohl auf die falsche Fährte gesetzt.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß auf dieser herrlichen Seite,
Andreas

Nachtrag (nein, leider doch nicht)
Ich hatte leider ein paar wichtige Fakten unterschlagen:

wenn Muttern den Pudding bringt (direkt nach dem Kabeljau), kündigt sie dies an mit „Hier kommt die Nachspeise“ - des weiteren ist die Rede von „Pudding mit Schlagsahne“. Ich fürchte, es ist doch ein süßer Pudding.
Schade - und ich fand Gelis Erklärung so ungeheuer charmant! Außerdem würde ihre Speisenfolge auch von einem heutigen Publikum verstanden …

Ich nehme nun mal an, dass die Mutter im Stück einiges durcheinanderbringt - wäre die einzige vernünftige Lösung. Und wieder ist man auf sich selbst zurückgeworfen :wink:

Trotzdem: nochmals Danke!
Andreas

HAllo,

-Kabeljau
-Pudding mit Sahne und Sauce
-Gebäck und Wein

und später dann noch
-Creme und Glühwein

Kleinbürgerlich begrenzt: Hauptspeise (Fisch) und Nachspeise.

Und dann hinterher, nicht direkt als Gang, sondern einfach so zum Wein was zum Knabbern dazu.
Wie wäre das?

Gruß
Elke

Liebe Elke,
etwas in der Richtung schwebt mir auch vor. Da hat der Brecht etwas zusammengestellt, bei dem ich mich frage: WARUM? Verstehe ich es nur nicht? Und dann kommt für mich als Regisseur hinzu: mein Publikum soll es ja auch verstehen. Ist die Menüfolge damals in Augsburg üblich gewesen oder wäre sie auch dort zumindest mit Stirnrunzeln hingenommen worden (oder war sie völlig indiskutabel)? In jedem Fall muss ich sie für ein heutiges Publikum „übersetzen“.
Leider gibt es bei Brecht schon Wein zum Fisch …
Alles läuft darauf hinaus, dass Mutti völlig überfordert ist und einfach aus der Küche herausschleppt, was da ist: Hauptsache die Gäste sind versorgt und es entsteht keine „Lücke“ - ein bischen das, was wir alle von Familienfeiern kennen. Ich inszeniere es jetzt wohl so, dass Mutti das für den späten Abend geplante Gebäck direkt nach dem Pudding aufträgt.

Toll, dass Ihr Euch wirklich „mitsorgt“ um meine Probleme. Eine wirklich schöne Seite dies!

Lieben Gru0,
Andreas

lieber andreas,
du kennst ja sicher im zusammenhang mit brecht den sogenannten V-Effekt. (aLSO Verfremdungseffekt). deshalb ist die speisenfolge surreal.

[Bei dieser Antwort wurde das Vollzitat nachträglich automatisiert entfernt]

Hallo, Andreas!

Geli hat ja schon sehr viel geschrieben; hier bei Wiki kannst Du auch noch sehr schön nachlesen, was Pudding, was Creme, was Flammeri ist.

http://de.wikipedia.org/wiki/Pudding

Grüßle
Regina (die letztens einen Pudding im Wasserbad gekocht hat und sich über die Bedeutungsverschiebung des Wortes „Flammeri“ nach „Pudding“ gewundert hatte)

als einkaufstipp: es gibt momentan bei JOKERS ein buch genau zu diesem thema: „Komm und setz dich, lieber Gast“ Am Tisch mit Bertolt Brecht und Helene Weigel …

ich habe es selbst fuer meinen paps gekauft :smile: vielleicht hilft dir das weiter, oder fuettert dein interesse …

freundlich grueßt
die
rike