Methodischer Solipsismus

Hallo,
Wie kommt es, dass sich diese von H. Driesch „erfundene“ und von R. Carnap unglücklich weitergeführte („Logische Aufbau“) philosophische Fachrichtung bis jetzt nicht in den Philosophischen Fachkreisen hat etablieren können?

Driesch
Hallo,

das hat vor allem drei Gründe, denke ich.

Erstens ist mit dem Vitalismus Drieschs sein gesamtes System untergegangen, weil es aus diesem entstanden ist.

Hinzu kamen zweitens die Schwierigkeiten der Rezeption unter den Bedingungen der deutschen Teilung. Eine Rezeption Drieschs fand eigentlich nur durch den Hallenser Reinhard Mocek statt, der aber als Marxist kein Interesse an der Wiederbelebung idealistischer Systeme hatte. Das hat eine eingehende Beschäftigung im Westen nicht gerade gefördert.

Dann ist drittens mit dem methodischen Solipsismus bei Driesch, der Gedanke verbunden, die Sicherheit von der Empirie zu lösen. Und da die Empirie im 20. Jahrhundert durch die Präsenz des Wiener Kreises als DIE wissenschaftliche Quelle der Wissenschaften gilt, sind nichtempirische Methoden unpopulär. Zweitens ist mit der Methode Drieschs die Gegenseite einer induktiven Metaphysik untrennbar verbunden (auch wenn sie zunächst methodisch ausgeblendet wird), was auf starken Widerstand gestoßen ist.

Ganz untergegangen ist die Philosophie Drieschs freilich nicht, sie wirkt in etwas abgewandelter Form in der Wissenschaftsphilosophie Hugo Dinglers weiter, wie ich in meiner Dissertation nachgewiesen habe: ISBN 3487095149 Buch anschauen [Buch anschauen] . Hierin findest du außerdem eine umfangreiche Bibliographie, aber dafür brauchst du sie dir nicht zu kaufen (oder über Fernleihe zu bestellen), denn die gibt es auch (etwas abgespeckt) online: http://www.bautz.de/bbkl/d/driesch_h_a_e.shtml .

Allerdings ist in dem Buch natürlich mehr Wert darauf gelegt, Driesch als Vorbereiter des Konstruktivismus (Erlanger Schule) nachzuweisen. Außerdem ist dort ein Rezensionsverzeichnis und ein Briefverzeichnis enthalten, das dir vielleicht bezüglich Carnap weiterhelfen kann.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

noch eine Ergänzung
Hallo Dominik,

ich weiß nicht, ob meine bisherige Antwort dir weitergeholfen hat oder ob sie schlecht war (ich habe ja keine Reaktion von dir erhalten). Mir ist noch eingefallen, dass der Begriff des „methodischen Solipsismus“ auch bei Wittgenstein (auch im Zusammenhang mit dem - freilich fragwürdigen - Privatsprachenargument) eine Rolle spielt - wenn auch in abgewandelter Form (in meinem Buch kurz angesprochen auf den Seiten 148-158).

Vielleicht hilft dir das ja weiter …

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Paradoxon der immanenten Kritik
Hallo Thomas
In grossen Zügen sind die drei geschilderten Gründe einleuchtend. Dennoch sind sie meines Erachtens nicht hinreichend, um das Missverhältnis zwischen den Philosophischen Erkenntnissen Drieschs und deren Rezeption zu erklären.
Ein weiterer Grund für die weitgehende Ablehnung der zahlreichen Bemühungen von Driesch, auf die Möglichkeit einer Philosophie ohne unnötige „wissenshemmende“, eine unausgesprochene Metaphysik implizierende Annahmen hinzuweisen, ist wohl die zu grosse Exaktheit seines Denkens, die allzu grosse Distanz zum „naiven Realismus“. Diese Eigenschaften nun könnten zur Folge gehabt haben, dass es seinen „Fachgenossen“ infolge ihrer eigenen aus ihrem persönlichen Weltbild in ihre Lehren übernommenen „naiven“ Vorstellungen über die Welt grossteils gar nicht möglich war, Drieschs Methodik zum Auffinden der Struktur und Erweitern des Umfangs des eigenen Wissen und einer möglichst exakten und expliziten Wirklichkeitsbeschreibung intellektuell nachzuvollziehen.

Im philosophischen Erstling von formaler Logik über Physik zu den Naturwissenschaften und Ethik und Aesthetik thematisch aufzusteigen, ist wohl in fast jedem Fall vermessen.

Warum dieses Unterfangen beim kryptischen LPA aus philosophiegeschichtlicher Sicht geglückt ist, aber bei der durchstrukturierten sich an den Realwissenschafetn orientierenden Ordnungslehre nicht, verstehe ich persönlich nicht.
Eine mögliche Erklärung wäre eventuell, dass Drieschs eigene Theorie ein Flickwerk der konstruktiv verwerteten immanenten Fehler der Theorien seiner Gegner oder der allgemein anerkannten Meinung war und sich deshalb selber aufhob.
Ähnlch wie Gödel, ausser dass sich der mit dem Auffinden eines immantenten Widerspruchs zufrieden gab

Bsp.: In der Wirklichkeitskehre wird die Lehre vom Urteil im Kapitel „Die Arten des Irrtums“ behandelt…

Der kurzen Rede langer Sinn :wink: lässt sich in einer Folgefrage ausformulieren…

Könnte es theoretisch sein, dass Driesch bis jetzt verkannt wurde und ihm aufgrund seiner Leistung der Status eines Epochemachers hätte zugestanden werden sollen?

Freundliche Grüsse

Dominik

Hallo Dominik,

das Missverhältnis zwischen den Philosophischen Erkenntnissen
Drieschs und deren Rezeption zu erklären.

es scheint noch mehr Gründe zu geben, die ich kurz anspreche:
Die Befürworter Drieschs sind allesamt weggestorben, ohne schulbildend gewirkt zu haben, weil sie zu inhomogen wirkten; das fängt bei den Scholastikern (Dempf etc., aber auch Maritain). Auch waren viele seiner Schüler und Anhänger Nazis (Schwarz, Schingnitz etc.).

„naiven Realismus“

Das ist ein wichtiger Punkt, denn die Lehre vom „Schauen“ ist bei Driesch wirklich problematisch. Intuition in welchem Sinne auch immer ist problematisch und kaum kommunikationsfähig. Meine Kontruktivitätsthese ist ja auch eine (nachträgliche!) Rekonstruktion, die auch nicht ganz konsistent ist, wie man vor allem bei der Konstruktion des Raumbegriffs sehen kann.

Im philosophischen Erstling

Ich halte es für verfehlt, von einem „Erstling“ zu sprechen, denn schon die Schriften der Jahre 1893/94, die „Biologie“ und die „Analytische Theorie“ sind wissenschaftsphilosophisch, erst recht die „Naturbegriffe und Natururteile“ von 1904. Auch einige kleinere Schriften wären zu nennen, etwa der Aufsatz in den Kantstudien von 1911. Und selbst die „Philosophie des Organischen“ ist ja nicht unphilosophisch. Die Ordnungslehre ist ein Kumulationswerk.

Warum dieses Unterfangen beim kryptischen LPA aus
philosophiegeschichtlicher Sicht geglückt ist

Auch das bezweifle ich, Wittgenstein hat vor allem gezweifelt, aber nichts konstruiert.

Eine mögliche Erklärung wäre eventuell, dass Drieschs eigene
Theorie ein Flickwerk der konstruktiv verwerteten immanenten
Fehler der Theorien seiner Gegner oder der allgemein
anerkannten Meinung war und sich deshalb selber aufhob.

Das verstehe ich nicht ganz.

Bsp.: In der Wirklichkeitskehre wird die Lehre vom Urteil im
Kapitel „Die Arten des Irrtums“ behandelt…

Lasks Lehre vom Urteil erschien schon 1912 (also 5 Jahre vor der 1. Aufl. der WL), im selben Jahr wie die OL, und es ist sicher, dass Driesch und Lask sich in Heidelberg mehrfach besprochen haben.

Könnte es theoretisch sein, dass Driesch bis jetzt verkannt
wurde und ihm aufgrund seiner Leistung der Status eines
Epochemachers hätte zugestanden werden sollen?

Nun, du rennst bei mir offene Türen ein, denn genau diese These steht - etwas abgewandelt - am Ende meiner Arbeit (S. 268). Sie ist - wie ich heute denke - zum Teil zu Recht als „überzogen“ bemängelt worden. Denn erstens hat Driesch den Schritt zur Konstruktion nicht bewusst vollzogen, sondern sich auf die „Schau“ zurückgezogen; und zweitens orientiert sich der Beginn einer Epoche immer an dem, was man für die Zukunft leistet bzw. was die Zukunft von einem wahrnimmt. Driesch hat einen Januskopf einerseits durch seine Rückgewandtheit (Ablehnung der Relativitätstheorie aus Gründen der Intuition, Festhalten an der Entelechie im Biologischen), andererseits durch seine Trennung von Metaphysik und Methode. Alles in allem bleibt er Spätidealist im Sinne Hegels (wie auch der Briefwechsel mit Bolland zeigt).

Ich fürchte, ich muss dir mein Buch doch empfehlen … :smile:

Herzliche Grüsse

Thomas Miller

Philosophie und Biologie
Hallo Thomas,
„Konstruktion und Begründung“ habe ich vor ca. 6 Monaten gekauft.
Es ist also nicht ganz zufällig, dass ich in diesem Forum den Methodischen Solipsismus ansprach.
Soweit ich als philosophischer Laie (=Autodidakt) den Überblick über die Zeitgenössische Literatur habe, ist dieses Buch die einzige Quelle, die sich auf fundierte Weise mit den Originalarbeiten Drieschs auseinandersetzt.
Philosophischer Laie deshalb, weil ich Biologie (Kognitionswissenschaften, Verhaltensbiologie) studiert habe, also auf Papier reiner Naturwissenschafter bin…
Das Studium war in hohem Masse unbefriedigend (im besten Falle als Sammlung unfreiwilliger Dogmen der jüngsten biologischen Vergangenheit zu satirischen Zwecken zu gebrauchen) (Bsp. Schizophrenieforschung mittels Rattenexperimenten).
Ironischerweise fiel weder beim Thema Klonen noch in der Entwicklungsbiologie der Name Driesch (Spemann wurde als geistiger Vater dieser Disziplin genannt).
Auf Driesch stiess ich später via Wittgenstein und Carnap (Literaturverz. LA), damit war mein Interesse an Philosophie geweckt.
In den letzten vier Jahren hat sich daran nicht viel verändert, ausser dass die Anzahl fehlender Dreisch-Schriften abnimmt und die Überzeugung wächst, durch diesen Zugang einer wertneutralen Erkenntnismethode am ehesten gerecht zu werden.

Die Stichhaltigkeit deiner Konstruktionshypothese zu beurteilen will ich mir nicht anmassen, denn dazu fehlen mir die Mittel (vor allem im Form von sprachlichen und wissenschaftsinternen Konventionen).
Jedoch denke ich, dass sich Driesch selbst bei sachlicher Übereinstimmung mit der Position des wissenschaftlichen Konstruktivismus von dieser abgegerenzt hätte.

Interessant ist wohl auch Drieschs Position in der reinen Logik.
Er will ja zB. den Satz des Widerspruchs durch den Satz der doppelten Verneinung ersetzten. OL 2A p. 46

Welche Konsequenzen es hätte, das disjunktive, durch das „vollständig-konjunktive“ (bzw. „konstitutive“) Urteil zu ersetzen (OL 2A p. 69), kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich vermute, man kommt damit in die Nähe der coincidentia oppositorum von Kues.

So, genug wirre Spekulation für heute

Freundlichen Gruss

Dominik

Hallo Dominik,

„Konstruktion und Begründung“ habe ich vor ca. 6 Monaten
gekauft.

ach, du warst das … *ggg*

Buch die einzige Quelle, die sich auf fundierte Weise mit den
Originalarbeiten Drieschs auseinandersetzt.

Philosophisch-methodisch ist das richtig, aber natürlich gibt es - wie das Literaturverzeichnis zeigt, zahlreiche Vorgänger.

Ironischerweise fiel weder beim Thema Klonen noch in der
Entwicklungsbiologie der Name Driesch (Spemann wurde als
geistiger Vater dieser Disziplin genannt).

Vielleicht besorgst du dir noch den Aufsatz von Werner A. Müller (im Lit-verz. genannt), darin wird Driesch als biologischer Ausgangspunkt bewertet. Zu Spemann und Driesch ist auch ist auch noch Hans Petersen zu empfehlen (ebd.), denke ich.

Auf Driesch stiess ich später via Wittgenstein und Carnap
(Literaturverz. LA), damit war mein Interesse an Philosophie
geweckt.

„LA“? *blackout?*

In den letzten vier Jahren hat sich daran nicht viel
verändert, ausser dass die Anzahl fehlender Dreisch-Schriften
abnimmt und die Überzeugung wächst, durch diesen Zugang einer
wertneutralen Erkenntnismethode am ehesten gerecht zu werden.

Du meinst, dass die Titel von Driesch sich in deiner eigenen Bibliothek komplettieren? Oder meinst du, dass die Sekundärliteratur zunimmt (Mocek etc.)?

Die Stichhaltigkeit deiner Konstruktionshypothese zu
beurteilen will ich mir nicht anmassen, denn dazu fehlen mir
die Mittel (vor allem im Form von sprachlichen und
wissenschaftsinternen Konventionen).

Ich habe selbst auf der letzten Textseite die für die Konstuktionsthese problematischen Stellen genannt (Raumkonstitution und psychologische Derivate). Die Arbeit als solche ist insgesamt positiv rezensiert worden, vor allem in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie und in den Hegelstudien, aber auch in der neueren Literatur ist meine Arbeit gelegentlich gut aufgenommen worden. Das heißt aber natürlich nicht, dass sie perfekt wäre *grins* … Ich denke, man muss schon wissen, wo die Schwächen der eigenen Thesen liegen. Nur so lässt sich Wissenschaft ehrlich treiben, meine ich. Und je länger die Arbeit zurückliegt, umso mehr Schwächen entdecke ich selbst.

Jedoch denke ich, dass sich Driesch selbst bei sachlicher
Übereinstimmung mit der Position des wissenschaftlichen
Konstruktivismus von dieser abgegerenzt hätte.

Ja, ich denke auch, dass er das getan hätte, auch wenn er im Briefwechsel die Dinglersche Methodik ja immer über seine eigene hebt. Allerdings bin ich der Meinung (und auch schon zur Zeit der Abfassung der Arbeit der Meinung gewesen), dass sich der Driesch’sche Begriff der „Schau“ in keiner einzigen Variante als haltbar erweisen könnte. Es gibt Denker - diesen Ansatz habe ich von Gerold Prauss’ Kantinterpretation übernommen -, die man besser versteht, wenn man sie anders versteht, als sie sich selbst verstanden haben (und ich bin ziemlich sicher, dass die Mehrheit der großen Denker zu dieser Spezies gehört).

Interessant ist wohl auch Drieschs Position in der reinen
Logik.
Er will ja zB. den Satz des Widerspruchs durch den Satz der
doppelten Verneinung ersetzten. OL 2A p. 46

Ja, aber die ist nicht „geschaut“, wie Driesch behauptet, sondern konstruiert. Diese Konstruktion habe ich nicht durchgeführt, aber sie ergibt sich klar aus meiner Regel 1 (S. 126) in Verbindung mit Regel 3 (S. 127) - natürlich unter Berücksichtigung der Schwierigkeiten, die im Folgekapitel „Zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ (S. 137ff.) angesprochen werden (wo ich übrigens auch die Verbindung zu Lask thematisiere).

Welche Konsequenzen es hätte, das disjunktive, durch das
„vollständig-konjunktive“ (bzw. „konstitutive“) Urteil zu
ersetzen (OL 2A p. 69), kann ich mir nicht vorstellen. Aber
ich vermute, man kommt damit in die Nähe der coincidentia
oppositorum von Kues.

Wie gesagt: Ich denke nicht, dass der Satz von der doppelten Verneinung eine „Ersetzung“ ist, sondern konstruierter Grund zur Folge des Satzes des Widerspruchs, aber vielleicht irre ich mich ja.

Ich freue mich jedenfalls darüber, dass du dich meiner Arbeit widmest. In der Regel geht man ja davon aus, dass eine Dissertation nicht gelesen wird.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Ganz einfach.
Es wollte niemand sich um eine Erörterung eines Themas bemühen, wenn es doch niemandem als dem Erörterer selbst nutzt.
Keine fremde Intelligenz kann oppositionelle Bastion besetzten und Paroli bieten.

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