Hallo Martin,
im Normalfall wissen Chorleiter, warum sie das eine oder andere soundso proben, haben sich darüber im Vorfeld mindestens einen Abend lang gedanken gemacht.
Bei absoluten musikalischen Laien kann man gern noch vorsingen, aber ein „wohlerzogener“ Chor erwirbt automatisch die Grundlagen des Blattsingens, wenn der Chorleiter nicht immer darauf eingeht, dass alle ihre Stimme vorgesungen haben wollen. (Nun gut, man braucht im Chor einen Grundstock, der’s schon kann.)
Fallbeispiel dazu: In einen Chor, in dem ich sang, kam ein Student, der nicht einmal wusste, wie die Noten heißen, geschweige denn irgend etwas daraus entnehmen konnte. Nach fünf Proben hat er erstaunt festgestellt: „Ach, wenn die Noten weiter oben in der Zeile stehen, muss ich höher singen!“ Nach einem halben Jahr konnte er beinahe so gut blattsingen wie alle anderen.
- Chorleiter picken sich oft ein beliebige Stelle heraus und
erwarten, daß der Chor mit der gewünschten Note sofort voll
einsetzt. Aber für Chorsänger sind Stücke keine
Aneinanderreihung von Tönen, sondern Sätze, die nicht aus dem
Zusammenhang gerissen werden sollen. Darum brauchen wir einen
vernünftigen Einstieg.
Hier hast Du ja schon eine fundierte Antwort erhalten: Der Übungseffekt ist größer, wenn der Chor das hinbekommt. Manche Chorleiter üben auch gern einzelne Akkorde, immer einen halten, dann auf Handzeichen zum nächsten u.s.w. - das schult die Intonation ungemein, wenn man sich als Sänger genau anhört, wie der Chor an dieser Stelle zusammenklingt.
- „Da singt der Alt eine Terz höher“. Erstens weiß ich nicht
was der Alt singt und zweitens weiß ich zwar, was eine Terz in
der Theorie ist, aber eine Terz von einem bestimmten Ton aus
nach oben oder unten überfordert mich trotzdem völlig.
Üben, üben, üben. Es ist ein großes Problem unserer heutigen musikalischen Ausbildung, dass sie viel zu theoretisch ist. Wem nützt es denn irgendetwas, zu wissen, was eine Terz in der Theorie ist? Wichtig ist doch nur, wie eine Terz zusammenklingt.
Hast Du als Kind nie Volkslieder mit Deinen Eltern zusammen gesungen? Das übt nämlich das Gehör - insbesondere für Terzen. Einer erfindet halt spontan eine „zweite Stimme“, und das ist fast immer einfach eine Terz über oder unter der ersten. Dafür bekommt man dann im Laufe von 1, 2 Jahren ein Gefühl.
Such Dir doch jemanden zum Üben und singt einfach mal in unterschiedlichen Intervallen miteinander, z.B. startest Du auf dem C und singst eine Tonleiter, während Dein Partner beim E anfängt. Dann macht Ihr dasselbe mit einem anderen Intervall. Gute Chorleiter beziehen eine entsprechende Übung im Einsingen mit ein. So bekommst Du ein Gefühl dafür, wie sich die Terz anhört, und weißt auf Grund der Chorleiter-Information, dass Du falsch singst, wenn Du niemanden hörst, der mit Dir eine Terz singt.
Und schließlich: Warum weißt Du nicht, was der Alt singt? Du musst es ja nicht auswendig wissen, aber hör ihm doch mal zu. Chor funktioniert nur, wenn alle aufeinander hören. Beim Gospelchor unserer Gemeinde sitze ich am Klavier und wundere mich (nicht über die Maßen), dass keiner den Rhythmus mitsingen kann, den ich spiele - wundere mich noch viel mehr, dass die Sänger nicht einmal merken, dass da was klappert.
- „Da hat der Baß eine Stimmkreuzung mit dem Tenor“. Erstens
weiß ich nicht was der Tenor singt und es interessiert mich
auch nicht
Sehr schlechte Voraussetzung für Chorgesang, s.o.
schließlich habe ich genug mit meinen Noten zu tun.
Ja, warum denn? Weil das Stück so komponiert ist, dass es zusammen gut klingt, nicht, dass jede einzelne Stimme gut klingt. Wenn Du Dich also nur mit Deiner eigenen Stimme beschäftigst, dauert es viel länger, bis Du ein Gefühl für den Verlauf bekommst, als wenn Du Dich gleich mit der Stellung Deiner Stimme im Zusammenklang beschäftigst. Einem Chorsänger (nicht einem Solisten!) sollte es schwerer fallen, seine Stimme allein zu singen als sie im Chor zu singen.
Und zweitens ist es mir völlig wurscht ob er über oder unter mir singt.
Das kann ich nicht glauben. Als Bass ist man gewohnt, immer den tiefsten Ton zu singen. Wenn man dann einen tiefen Ton hört, singt man ihn fast unweigerlich mit, ohne damit zu rechnen, dass dies ausnahmsweise einmal nicht die Bassstimme ist. Ich habe noch keinen Chor erlebt, in dem Bass-Tenor- bzw. Sopran-Alt-Stimmkreuzungen unproblematisch wären.
(Alt-Tenor-Kreuzungen sind nicht so schlimm, die singen eh immer nur irgendeine Mittelstimme.)
- „Das ist f-Dur“. Aaaha!
Im Allgemeinen eine unnütze Information. Aaaber:
Es fällt den meisten Menschen nach höchstens 1/2 Stunde Üben ausgesprochen leicht, den Grundton, Terzton oder Quintton eines gegebenen Dreiklanges herauszuhören und nachzusingen. Eine weitere Woche Übung sorgt dann dafür, dass man jeden beliebigen Ton in einer gegebenen Tonart singen kann. (Z.B. hörst Du F-Dur, sollst ein e singen, was Dir problemlos gelingt, weil es der Leitton ist.) Die meisten Menschen können dies auch schon unbewusst - Du sicher auch, wenn Du nach dem orchestralen Vorspiel Deinen Einsatz findest. Man muss es nur vom Unbewusstsein ins Bewusstsein bekommen.
Die Information „Das ist F-Dur“ kann also zwei sinnvolle Anwendungen haben:
a) Du siehst ein C und singst den Grundton der Tonart, die Du gerade hörst. Was aber falsch ist, denn die Tonart ist F-Dur - Du solltest also den Quintton (bzw. die sog. „Auftakt-Quarte“) singen.
b) Du hast in Deinen Noten nur die Singstimmen, nicht den Orchesterpart notiert. Nun steht dort in den Noten ein C. Damit Du Deinen Ton findest, wenn der Chorleiter jetzt den Orchesterpart am Klavier intoniert, sagt er Dir Bescheid, dass dieser Teil in F-Dur steht. (Vielleicht ist F-Dur auch der Schlussakkord vom letzten Satz, und Du musst danach sofort einsetzen.) Nun weißt Du, dass Du den Quintton singen musst.
Jetzt siehst Du mal die Argumentation aus Chorleitersicht, bei der zum Vorschein kommt, dass Du ihn offenbar missverstehst. Es ist alles subjektiv.
Und: Blattsingen lernt man nur durch Blattsingen - am Ende haben’s die Blattsänger im Chor leichter.
Liebe Grüße
Immo