Bildnis und Selbstbildnis in der Musik
Hallo Wolfgang, hallo Thomas,
ein schönes Thema und sehr schwer zu postulieren, was darunter fällt. Das Ausgangsbeispiel ist schon ein Problem: Warum denn soll „Der Leiermann“ ein Selbstbildnis Schuberts sein? Das wäre eine freie Interpretation innerhalb der romantischen Tradition der Deutung (der Text stammt von W.Müller, nicht vom Komponisten; das Bild selbst kann sehr wohl metaphorisch auf den unglücklichen Romantiker angewendet werden, bleibt aber kein echtes Bildnis usw.).
Viel besser passt das extravagante Ausnahmebeispiel aus der alten Cembalo-Musik von J.Bull (Myself, s. oben bei ringel). Franzosen wie Rameau und Couperin haben viele Portraits, aber keine Selbstportraits komponiert, weil die Musikästhetik der Zeit es nicht duldete.
Erst mit der romantischen Musik wurde es zunächst möglich, dann auch gewünscht, dass der Autor sich in den Vordergrund bringt. So sind Fünfte Symphonie, viele Klaviersonaten und Streichquartette von Beethoven, sehr viele instrumentale Werke von Schubert („Unvollendete“), Chopin (Zweite und Dritte Klaviersonaten), Schumann („Fantasie“, „Karneval“ u.a. mit den Portraits von Chopin und Paganini), Berlioz („Fantastique“) als gewollte Darstellung des eigenen inneren Lebens zu interpretieren. Für Mozart und Haydn wäre es noch zu früh, wobei Mozarts Klaviersonaten a moll und c moll schon den Trauerfällen in der Familie folgen, und der Requiem für sich selbst als eine böse Selbstprophezeihung steht - aber auch als eine Ausnahme zeigt es auf die Tendenz zur Romantik hin.
Bei Smetana ist die Darstellung des Tinnitus auch eher selbstbiographisch. Ist die Selbstbiographie ein Selbstbildnis? So erklären sich drei letzten Symphonien Tschaikowskis, alle Symphonien von Brahms, alle Mahlers Symphonien (insbesondere Erste und Neunte; gerade die Sechste eher weniger, da sie auch zu den Selbstprophezeihungen gehört, und Alma Mahler gehört nicht gerade zu den zuverlässigsten Quellen…), Musik von Rachmaninow (Dritte Symphonie), Sibelius, Nielsen, Alban Berg (Lyrische Suite) etc.
Sehr gut sind deine Beispiele aus R.Strauss’ Werk, sie treffen genau den Sinn der Sache: der Komponist stellte sich die Aufgabe, sich selbst und den intimen Kreis um sich musikalisch zu schildern.
In der neuesten Musik müssen wir damit rechnen, daß der Exhibitionismus sich auch hier äußern wird. Es ist aber gar nicht so schlimm.
So lässt sich mindestens ein Beispiel nennen: Salvatore Sciarrinos „Autoritratto nella notte“ (1982)
Viele Grüße