Musikalische Selbstportraits gesucht

Hallo,

für ein Projekt suche ich musikalische Selbstportraits in der Art von Schuberts „Leiermann“. Aber auch andere musikalische Gattungen und Stilepochen sind erwünscht, auch aus der Popmusik.
Wichtig ist der Bezug zwischen biographischer Selbstdarstellung und musikalischer Form.

Wer hat Tipps?

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Thomas,

was mir spontan einfällt:

F. Smetana, Streichquartett „Aus meinem Leben“ (der Titel sagt schon alles, oder?)

Tschaikowsky. Es gibt in einem Notizbuch eine programmatische Äußerung zur 5. Sinfonie:
„Introduktion. Vollständige Resignation vor dem Schicksal, oder, was dasselbe ist, in den unergründlichen Ratschluss der Vorsehung. Allegro (I) Murren. Zweifel, Klagen und Vorwürfe gegen XXX. (II) Soll ich mich selber in die Arme des Glaubens werfen???“
(Anmerkung: Man vermutet hinter den drei Kreuzen oft eine Anspielung auf Tschaikowskys verdrängte Homosexualität).
Auch die Pathétique hat nach Tschaikowskys eigenen Worten ein „Programm, das allen ein Rätsel bleiben soll“!

Muss ich etwas zu den autobiographischen Bezügen bei Gustav Mahler sagen?
Zur 6. Sinfonie schreibt Alma Mahler:
„Mahler war mehr denn mit je mit uns … Der Sommer war schön, konfliktlos, glücklich. Am Ende spielte mir Mahler die nun vollendete Sechste Symphonie vor … Nach dem er den ersten Satz entworfen hatte, war Mahler aus dem Walde herunter gekommen und hatte gesagt: Ich habe versucht, dich in einem Thema festzuhalten - ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht. Du mußt dirs schon gefallen lassen. Es ist das große, schwungvolle Thema des 1. Satzes der Sechsten Symphonie. Im dritten Satz schildert er das arhythmischen Spielen der beiden kleinen Kinder, die torkelnd durch den Sand laufen. Schauerlich - diese Kinderstimmen werden immer tragischer, und zum Schluß wimmert ein verlöschendes Stimmchen. Im letzten Satz beschreibt er sich und seinen Untergang oder, wie er später sagte, den seines Helden. Der Held, der drei Schicksalsschläge bekommt, von denen ihn der dritte fällt, wie einen Baum. Dies Mahlers Worte. Kein Werk ist ihm so unmittelbar aus dem Herzen geflossen wie dieses. Wir weinten damals beide. So tief fühlten wir diese Musik und was sie vorahnend verriet. Die Sechste ist sein allerpersönlichstes Werk und ein prophetisches obendrein.“

Über die 9. Sinfonie von Mahler sagte Leonard Bernstein einmal, sie begänne „mit den stockenden, unregelmäßigen Schlägen seines eigenen, kranken Herzens“. Ich weiß allerdings nicht, ob sich diese Vermutung irgendwie durch Dokumente untermauern lässt.

Dann wären da noch von Richard Strauss „Ein Heldenleben“ und die „Sinfonia domestica“ zu nennen.

Grüße
Wolfgang

schöne Beispiele
Hallo Wolfgang,

ganz herzlichen Dank.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Wenn es *viel* früher sein darf:
autobiographische Lieder v.a. von Oswald von Wolkenstein, oder
„Dr. Bull’s Myself“ aus dem Fitzwilliam Virginal Book (Charakterstück für Cembalo)
Gruß G.R.

Bildnis und Selbstbildnis in der Musik
Hallo Wolfgang, hallo Thomas,

ein schönes Thema und sehr schwer zu postulieren, was darunter fällt. Das Ausgangsbeispiel ist schon ein Problem: Warum denn soll „Der Leiermann“ ein Selbstbildnis Schuberts sein? Das wäre eine freie Interpretation innerhalb der romantischen Tradition der Deutung (der Text stammt von W.Müller, nicht vom Komponisten; das Bild selbst kann sehr wohl metaphorisch auf den unglücklichen Romantiker angewendet werden, bleibt aber kein echtes Bildnis usw.).

Viel besser passt das extravagante Ausnahmebeispiel aus der alten Cembalo-Musik von J.Bull (Myself, s. oben bei ringel). Franzosen wie Rameau und Couperin haben viele Portraits, aber keine Selbstportraits komponiert, weil die Musikästhetik der Zeit es nicht duldete.
Erst mit der romantischen Musik wurde es zunächst möglich, dann auch gewünscht, dass der Autor sich in den Vordergrund bringt. So sind Fünfte Symphonie, viele Klaviersonaten und Streichquartette von Beethoven, sehr viele instrumentale Werke von Schubert („Unvollendete“), Chopin (Zweite und Dritte Klaviersonaten), Schumann („Fantasie“, „Karneval“ u.a. mit den Portraits von Chopin und Paganini), Berlioz („Fantastique“) als gewollte Darstellung des eigenen inneren Lebens zu interpretieren. Für Mozart und Haydn wäre es noch zu früh, wobei Mozarts Klaviersonaten a moll und c moll schon den Trauerfällen in der Familie folgen, und der Requiem für sich selbst als eine böse Selbstprophezeihung steht - aber auch als eine Ausnahme zeigt es auf die Tendenz zur Romantik hin.
Bei Smetana ist die Darstellung des Tinnitus auch eher selbstbiographisch. Ist die Selbstbiographie ein Selbstbildnis? So erklären sich drei letzten Symphonien Tschaikowskis, alle Symphonien von Brahms, alle Mahlers Symphonien (insbesondere Erste und Neunte; gerade die Sechste eher weniger, da sie auch zu den Selbstprophezeihungen gehört, und Alma Mahler gehört nicht gerade zu den zuverlässigsten Quellen…), Musik von Rachmaninow (Dritte Symphonie), Sibelius, Nielsen, Alban Berg (Lyrische Suite) etc.

Sehr gut sind deine Beispiele aus R.Strauss’ Werk, sie treffen genau den Sinn der Sache: der Komponist stellte sich die Aufgabe, sich selbst und den intimen Kreis um sich musikalisch zu schildern.

In der neuesten Musik müssen wir damit rechnen, daß der Exhibitionismus sich auch hier äußern wird. Es ist aber gar nicht so schlimm. :smile: So lässt sich mindestens ein Beispiel nennen: Salvatore Sciarrinos „Autoritratto nella notte“ (1982)

Viele Grüße

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Hallo Thomas!

für ein Projekt suche ich musikalische Selbstportraits in der
Art von Schuberts „Leiermann“.

Zum Stichwort Schubert fällt mir auch noch seine „Unvollendete“ ein. Nikolaus Harnoncourt hat seiner Einspielung mit dem Concertgebouw-Orchester eine umfangreiche Abhandlung über das Programm dieser Symphonie angeschlossen. Hochinteressant!

Grüße
Barney

Danke Peet
Hallo,

schönen Dank für die Kritik und auch für die Vorschläge. Ich war von Schubert ausgegangen, weil die Sekundärliteratur davon ausgeht, dass Schubert diesen Text aus biographischen Gründen ausgewählt hat, es soll auch Mitteilungen in Briefen geben (habe ich noch nicht überprüft). Aber natürlich hast du mit deiner Wertung Recht.

Mir geht es erst einmal um eine Art Brainstorming, was man in dieses Thema alles hineinpacken könnte, insofern sind auch Beiträge nützlich, die auf den ersten Blick unpassend sind. Ich werte also erst einmal nicht, sondern lasse die Beispiele auf mich wirken - und sortiere später.

J.Bull (Myself, s. oben bei ringel).
Rameau und Couperin

Die sind trotzdem interessant. Kannst du mir da etwas nennen? Ich bin in dieser Zeit nicht so zu Hause.

als gewollte Darstellung des eigenen inneren Lebens

Ich dachte anfangs mehr an konkrete biographische Bezüge, aber auch ich könnte mir auch vorstellen, solche Beispiele aufzunehmen, die weniger konkret sind.

Mozarts Klaviersonaten a moll und c moll
Requiem

Die Klaviersonaten sind interessant, beim Requiem ist es ja eher eine nachträgliche Deutung. Aber natürlich könnte man auch daran denken.

Salvatore Sciarrinos „Autoritratto nella notte“ (1982)

Das kenne ich noch gar nicht.

Herzliche Grüße

Thomas

Klasse! Danke!
Hallo,

stimmt, an Wolkenstein habe ich noch nicht gedacht (trotz Josquin). Sehr guter Vorschlag!

Bull kenne ich nicht, muss mal nachschlagen.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Ergänzungen
Hi Thomas,

in der Hoffnung, daß es dir inzwischen besser geht, gehe ich gerne auf deine weitere Fragen ein :smile:

Rameau und Couperin

Die sind trotzdem interessant. Kannst du mir da etwas nennen?
Ich bin in dieser Zeit nicht so zu Hause.

Von beiden meine ich zahlreiche Cembalo(Clavecin)-Stücke wie L’Egyptienne von Rameau oder La Convalescente von Couperin. In einer Midi-Ausführung findest du sie auch unterwegs.

Mozarts Klaviersonaten a moll und c moll
Requiem

Die Klaviersonaten sind interessant, beim Requiem ist es ja
eher eine nachträgliche Deutung. Aber natürlich könnte man
auch daran denken.

Die Sonate a moll enstand nach dem Tod der Mutter, die Sonate c moll nach dem Tod des Vaters. Zu dem Requiem wird die Meinung des Komponisten überliefert, dies Werk schreibe er nicht nur im Auftrag, sondern auch für sich selbst (Abert).

Salvatore Sciarrinos „Autoritratto nella notte“ (1982)

Das kenne ich noch gar nicht.

Ich kann dich beruhigen, ich auch nicht. Wird aber von Kollegen empfohlen :smile:

Viele Grüße

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Vielen Dank
Hallo,

in der Hoffnung, daß es dir inzwischen besser geht …

ich kann schon zwischen Musik und Politik trennen … :smile:

Vielen Dank also für die musikalischen Erläuterungen!

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Thomas,

sind vielleicht noch folgende Werke zu gebrauchen?

Beethoven - Die Wut über den verlorenen Groschen
Gershwin - An American in Paris

und andersherum

Dvorak - Aus der neuen Welt

Gruß
Roland

Zum Stichwort Schubert fällt mir auch noch seine
„Unvollendete“ ein. Nikolaus Harnoncourt …
Einspielung mit dem Concertgebouw-Orchester …

Es waren die Wiener Symphoniker, was aber auch nicht wirklich ein Nachteil ist.

Grüße
Barney

Korrektur der Korrektur

Zum Stichwort Schubert fällt mir auch noch seine
„Unvollendete“ ein. Nikolaus Harnoncourt …
Einspielung mit dem Concertgebouw-Orchester …

Es waren die Wiener Symphoniker, was aber auch nicht wirklich
ein Nachteil ist.

Sieh an, es gibt zwei Einspielungen von Harnoncourt:

Wiener Symphoniker (1985)
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/B00000E8PI/qid…

und Concertgebouw (1992)
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/B000000SPS/qid…

Alles klar?

Grüße
Wolfgang

Hallo Thomas,

bei sovielen Beispielen wundert es mich, dass noch keiner
Bach gebracht hat, der sich mit jedem B-A-C-H ja auch selber
portraitiert.

Eine Gegenfrage möchte ich noch stellen. Ist die Vertonung
eines autobiographischen Textes schon ein musikalisches
Selbstportrait, oder muss die Musik selbst den Komponisten
nachzeichnen?

Viele Grüße
Stefan

BACH
Hallo Stefan,

verzeih mir, wenn ich mich einmische, aber kannst du ein Beispiel nennen, wie Bach sich selber portratiert hat? Du sprichst von vielen, aber mir würde es genügen, wenn du ein einziges einbringst :smile:

Gruß

1 Like

Hallo Stefan,

es ist schon etwas Wahres daran, was Peet mokiert - nämlich der Zweifel daran, ob es sich bei B-A-C-H wirklich um ein „Portrait“ handelt. Allerdings bin ich dir trotzdem dankbar für deinen Hinweis, denn es zeigt wiederum, wie vielschichtig man das Thema interpretieren kann (das ich intuitiv für viel zu einfach gehalten habe). „Bach“ ist also zumindest notiert - was ich aus dem Ganzen mache, weiß ich noch nicht …

Zu deiner Gegenfrage

Ist die Vertonung eines autobiographischen Textes schon ein musikalisches
Selbstportrait, oder muss die Musik selbst den Komponisten nachzeichnen?

möchte ich noch einmal sagen, dass es mir ursprünglich darum ging, wie Komponisten Ereignisse in ihrem Leben musikalisch verarbeiten. Durch die vielen Anregungen - auch die ganz anderer Art - fühle ich mich angespornt, demnächst noch einmal über das Thema genauer nachzudenken.

Gleichwohl (oder vielleicht sogar deshalb) ist diese Brainstorming für mich bedeutend, weshalb ich immer noch an weiteren Vorschlägen (wie abwegig sie auch sein mögen) interessiert bin.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Thomas,

bei sovielen Beispielen wundert es mich, dass noch keiner
Bach gebracht hat, der sich mit jedem B-A-C-H ja auch selber
portraitiert.

Im Contrapuctus 18 der Kunst der Fuge (der sogenannten „Schlußfuge“, die er selbst nicht fertiggeschrieben hatte) portraitiert sich Bach wirklich mit der Tonfolge B-A-C-H. Falls du eine Fortgeführte und Beendigte Version der Fuge hören möchtest, Helmut Walcha hat sich da mal ran getraut und sie sehr gut zuendegeschrieben.

Gruß

Big D

Tripel/Quadrupelfuge von Bach
Hi Deadi,

wo du dieses kostbare Portrait schon entdeckt hast, würdest du vielleicht mit drei Worten beschreiben(zwei würden eigentlich auch genügen), was dieses Portait uns sagt?
Zum Beispiel: Gutmütiger Lehrer und strenger Familienvater? Oder trockener Gelehrter und fast blinder kranker alter Mann?

Da du sogar eine Aufnahme davon hast und das Werk ganz bestimmt schon einmal gehört hast, wird es dir kein Problem sein, diese Frage zu beantworten, nicht wahr? Die Musikwissenschaft wäre dir dafür sehr dankbar.

Schmunzelnde Grüße

Portrait
Hallo Peet,

beschreiben, was dieses Portait uns sagt?

naja, es hängt eben alles davon ab, was wir unter dem Begriff „Portrait“ überhaupt verstehen (wollen). Wenn ich darunter eine Darstellung meiner selbst als seiend (oder gewesen seiend) und nichts weiter verstehe, müsste man das B-A-C-H als „Portrait“ identifizieren; wenn man darunter etwas anderes verstünde, könnte man eben seine Meinung artikulieren. Ich denke euer Missverständnis hängt mit meiner unzulänglichen Fragestellung zusammen, die du ja schon zu Recht mokiert hast. Ich bin also schon selbst schuld an dieser Verwirrung.

Herzliche Grüße

Thomas Miller