Musikwahrnehmung

Hallo,
ich hatte gerade eine recht interessante Diskussion mit zwei Freundinnen über die Verbindung von Musik und Emotionen. Die Frage war im Grunde, was für Emotionen durch Musik ausgelöst werden. Ich war nämlich höchst erstaunt, als beide relativ übereinstimmend meinten: Musik löst insbesondere dann Emotionen aus, wenn man etwas mit der Musik verbindet.
Das kenne ich auch. Ein besonderer Abend, Lieder, die ich mit einem bestimmten Menschen verbinde etc. Aber insbesondere bei klassischer Musik geht es mir persönlich so, daß keine Kopplung vorliegen muß. Es kann passieren, daß ich ein Stück zum ersten Mal im Konzertsaal höre und dabei Emotionen ausgelöst werden. Habe ich ein Stück öfters gehört und damit »erarbeitet«, kann das erneute Hören eine regelrechte Achterbahnfahrt der Gefühle und Emotionen auslösen. Diese Gefühle können mitunter extrem stark sein und ein Freund, der Musiker ist, meinte mal, sie seien seines Erachtens an Stärke und Intensität nur mit einem Orgasmus vergleichbar (aber eben jenseits von fleischlicher Lust).
Ich erinnere mich an ein Konzert, in welchem ein Violinkonzert von Prokoffief gespielt wurde. Wunderbar gespielt aber die Musik (ich mag Prokoffief sehr) relativ wild und komplex. Als Zugabe gab es dann eine Solo-Partita von Bach. Es war beinahe unwirklich: nach dieser komplexen Harmonik und Rhythmik die ersten, ruhigen Töne zu hören, die Harmonik, welche bei Bach ja nicht unbedingt schlicht ist, aber trotzdem leicht und einfach wirkt – es hat mir mit unwiderstehlicher Gewalt die Tränen in die Augen getrieben.
Das ist aber alles ohne eine direkte Verknüpfung, was meine Gesprächspartner(innen) wiederum nicht nachvollziehen konnten. »Warum hast Du was empfunden?« - »Keine Ahnung, ich habe einfach empfunden; die Musik hat Empfindungen ausgelöst!« - »Woran hat es Dich denn erinnert?« - »Es hat mich an nichts erinnert, es hat einfach Emotionen ausgelöst«. Wir haben keinen Konsens finden können; sie habe nicht verstanden, was ich meinte.
Ich habe mir bisher ehrlich gesagt nie Gedanken darüber gemacht. Daher interessiert mich jetzt: wie nehmt Ihr Musik wahr? Sind Emotionen immer mit Erinnerungen verknüpft? Oder sind sie manchmal losgelöst? Was fällt Euch sonst zum Thema ein?

Ich bin höchst gespannt auf Eure Beiträge und Anregungen.
Liebe Grüße,

Christian

Hallo Christian,

Daher interessiert mich jetzt: wie nehmt Ihr Musik wahr?
Sind Emotionen immer mit Erinnerungen verknüpft?
Oder sind sie manchmal losgelöst? Was fällt Euch sonst zum Thema
ein?

Mir geht’s ähnlich wie Dir.
Ich bin ausschließlich Hörer, und höre fast nur klassische Musik.
Ich lasse mich gerne zu Emotionen hinreißen, und so gut wie nie sind damit Erinnerungen verbunden.
Gute Musik gut dargebracht kann das eben leisten.
Es gehört höchstwahrscheinlich aber auch das richtige Gemüt dazu.
Gruß
Barney

Sensibilität kann man trainieren!
Hallo,
auch mir geht es wie dir. Musik löst bei mir unterschiedliche Gefühle aus und natürlich auch „absolute“ Musik. Was deine Freundinnen sagten, deute ich so: Manche Menschen sind leider für solche Erfahrungen nur wenig sensibel. Wo für uns ein Kontinent an Vielfalt herrscht, ist für sie nur eine Leere. Wir sind heutzutage (besonders durch das Fernsehen) gewöhnt, ständig auf zwei Kanälen (visuell und auditiv) mit Eindrücken „beballert“ zu werden, was natürlich schnell abstumpft. Aber ich glaube, so etwas lässt sich bis zu einem gewissen Grad „erlernen“: Wer sich interessiert mit Musik beschäftigt, kann seine Sensibilität bestimmt steigern. Die Sucht, Musik immer „erklären“ und mit Sprache verbinden zu müssen, zeigt sich übrigens auch an den ebenso populären wie unsinnigen und verfälschenden Namen bestimmter Werke wie „Mondscheinsonate“ und „Schicksalssinfonie“!
Gruß!
Christian

Hallo,

Manche Menschen sind leider
für solche Erfahrungen nur wenig sensibel. Wo für uns ein
Kontinent an Vielfalt herrscht, ist für sie nur eine Leere.
Wir sind heutzutage (besonders durch das Fernsehen) gewöhnt,
ständig auf zwei Kanälen (visuell und auditiv) mit Eindrücken
„beballert“ zu werden, was natürlich schnell abstumpft. Aber
ich glaube, so etwas lässt sich bis zu einem gewissen Grad
„erlernen“: Wer sich interessiert mit Musik beschäftigt, kann
seine Sensibilität bestimmt steigern.

Das sehe ich genauso. Ich habe eine Freundin, eine angehende Pianistin, mit der ich mich auch schonmal darüber unterhalten habe. Sie hat eine Art Gegenreaktion; dass sie, wenn sie U-Musik hört (sei es Pop oder Rock), „zu viel hört“, also alles sehr stark wahrnimmt, wo andere nicht viel hören. Auch sie hört fast nur klassische Musik. Bei mir ist das nicht ganz so extrem, allerdings habe ich auch festgestellt, dass ich sehr oft Hintergrundgeplänkel (ich meine damit z.B. unwichtige Gesangseinlagen oder Zwischenrhytmen), dass eigentlich nicht so sehr zu hören ist, plötzlich sehr stark raushöre oder stark überladenen Rock einfach nicht gut hören kann.
Diese emotionale Musik wie ihr sie beschrieben habt, habe ich mit einigen Impromptus von Chopin erlebt. Interessant finde ich dabei, dass jeder von euch diese Erlebnisse mit klassischer Musik hat. Habt ihr eine Erklärung dafür? Ich könnte mir es nur mit der mit unter höheren oder zumindest anderen Komplexität von KLassik erklären.

Lena

Musik löst insbesondere dann
Emotionen aus, wenn man etwas mit der Musik verbindet.
Das kenne ich auch. Ein besonderer Abend, Lieder, die ich mit
einem bestimmten Menschen verbinde etc. Aber insbesondere bei
klassischer Musik geht es mir persönlich so, daß keine
Kopplung vorliegen muß.

Sie dürfen aber nicht vergessen, dass Sie in puncto klassischer Musik gewiss vorbelastet sein können: Ein großer Teil insbesonderer amerikanischer Filmmusik ist im Grunde klassisch.
Auch wenn Sie das Stück an sich nicht kennen, können Sie darin Wendungen erkennen, die Ihnen schon begegnet sind. Letztendlich benutzen ja sowohl klassische Musik als auch Rockmusik als auch Kinderlieder das gleiche tonale Modell mit den gleichen Tonleitern und Harmonien.

Aber nichtsdestotrotz hat Musik bestimmt schon eine natürliche psychologische Wirkung auf den Menschen. Sie ist wohl auch mit unserer Fähigkeit, zu sprechen (und zu singen), verbunden und eine Art menschlicher Kommunikation, die im Laufe von Jahrtausenden in unseren Genen festgehalten worden ist.

Es kann aber durchaus auch sein, dass ein großer Teil der Musikwahrnehmung genau wie die Sprache erst mit kultureller und persönlicher Prägung erlernt wird, z. B. welche harmonischen Wendungen wir wie empfinden, oder überhaupt ob wir eine Tonleiter mit 12, 5, oder 48 Tönen verstehen.

Rein physikalisch gibt es sicherlich auch Faktoren: Vielleicht klingt die Moll-Tonleiter für uns „trauriger“ als die Dur-Tonleiter, weil die erstere schon nach 2 Ganztönen einen (kleineren) Halbtonschritt hat, die letztere aber erst nach 3 und deshalb „schwächer“ klingt.
Wenn wir aber von klein auf nur Fröhliches in Dur und Trauriges in Moll vorgesungen bekommen, setzt sich diese Wahrnehmung erst recht fest.