Hallo Zartblut,
ich bin jetzt 46 und bis heute ist mein Leben und das meiner Schwestern zu einem guten Teil vom massiven Suff meiner Eltern geprägt.
Seit ich denken kann, hat mein Vater (Mediziner *sarkastischgrins*) unglaublich viel gesoffen, nebenher tonnenweise Tabletten geschluckt, um arbeiten zu können.
Vor 5 Jahren, ziemlich gegen seinen Willen pensioniert worden, fiel denn folgerichtig seine letzte Hemmschwelle weg, nämlich morgens in seiner Praxis eine halbwegs gesellschaftsfähige Figur machen zu müssen.
Voll wie ein Eimer taumelte er dann vor 3 Jahren morgens um halb sechs ins Bad, um sich ein, zwei Rohypnol einzupfeifen, weil er nicht schlafen konnte, fiel in eine Scherbe, erlitt einen epileptischen Anfall und wurde ins Krankenhaus gebracht.
Der diensthabende Arzt, gut 30 Jahre jünger, fragte meinen Daddy einfach und rundheraus, nachdem er das Bewußtsein wiedererlangt hatte: „Welche Diagnose würden Sie denn an meiner Stelle für die naheliegendste halten, Herr Doktor?“
Und mein Vater rang einen endlosen Moment mühsam nach Fassung und erwiderte dann zwar einigermaßen kleinlaut, jedoch mit würdevoller Sachlichkeit: „Gemäß der allgemeingültigen fachärztlichen Definition bin ich wohl ganz klar ein schwerer Alkoholiker.“
Mindestens 40 Jahre lang war es niemandem gelungen, ihm vom Saufen abzuhalten, ganz egal, wie wir es anstellten. Aber das war’s.
Seit diesem Tag trinkt er höchstens mal ein Bier abends und auch nicht jeden Tag.
Nur leider ist er, obwohl erst 70, ein vollkommener Tattergreis mittlerweile, sein körperlicher und entsetzlicherweise auch geistiger Abbau schreitet in Riesenschritten voran.
Frau Mama versteckt seit ich denken kann sorgsamst ihre geleerten Rotweinpullen an den ulkigsten Plätzen (hinter der Wärmepumpe, unter der Spüle, im Badschränkchen neben den Tampons, im Wäschemuff). Eine pro Tag war immer das mindeste.
Auch seit Jahren in Pension, lallt und nuschelt sie mittlerweile schon um 9 Uhr morgens wie grad von einer Zahn-OP und kommt schon lange mit einer Flasche nicht mehr hin. Können leicht drei Stück werden, bis sie umfällt.
Voll abgrundtiefer Entrüstung widerspricht sie vehement jeglichem noch so diplomatisch vorgetragenen Verweis auf diese selbstzerstörerische Sauferei, man „dürfe ja wohl noch manchmal ein Gläschen bla…“
War schon immer so. Soweit wie ihr Herr Gemahl ist sie halt leider noch nicht. Der Zusammenbruch meiner Mutter wird wohl noch einige Zeit auf sich warten lassen und im Zuge dessen natürlich auch die notwendige Einsicht. Hoffentlich.
Soweit mich meine Erinnerung zurückträgt, waren entweder beide oder einer von beiden vom frühen Nachmittag/Abend bis nachts immer und immer entweder schwer auf Entzug (somit wurden wir generell wie der allerletzte Dreck behandelt) oder aber vollkommen blau. Was anderes gab es nicht.
Unnötig zu erwähnen, dass es unter diesen Umständen so gut wie nie zu Besuchen von Schulfreunden oder Klassenkameraden kommen durfte, schämte man sich doch jedes Mal absolut in Grund und Boden.
Innerfamiliär war es mit den Besuchen ein wenig „besser“, da dieses Thema, ein offenes Geheimnis, auf das allerhübscheste totgeschwiegen wurde bis heute.
Warum ich dir diesen ganzen langatmigen, trostlosen Scheiß hier zumute?
Naja, zum einen haben wir Schwestern und die ganze Familie dazu über Jahrzehnte hinweg alles erdenkliche versucht, diese Suffköppe zur Einsicht zu bewegen. Und, yes, Ma’am, wir schämten uns unserer Eltern, wir ekelten uns, wir hassten sie geradezu.
Die dadurch zwingend folgerichtigten massiven Schuldgefühle hatten seitens meiner kleinen Schwestern jahrelange Psychiatrieaufenthalte, langwierige Therapien und zwei Suizidversuche zum Resultat, von mir mal gar nicht zu reden.
Vollkommen sinnlos, das Ganze, glaub mir. Nicht ein einziges winzigkleines Weinchen, nicht ein einziges Schlückchen Doppelkorn waren wir in der Lage, von den Alten fernhalten zu können.
Glücklicherweise können wir immerhin mittlerweile die Notbremse ziehen und wir drei verlassen, so schnell es geht, diesen Ort der Finsternis, wenn es von unserer Seite aus gar nicht mehr geht.
(Oh, Mann, nächsten Donnerstag ist es wieder soweit. Das wird wie jedesmal der reinste Alptraum, ICH HASSE WEIHNACHTEN…)
Und zum anderen kann ich dir nur ganzganz dringend ans Herz legen, die Klinik von der Alkoholsucht deiner Mutter in Kenntnis zu setzen. Denn Säufer sind wahre Weltmeister in Sachen Lug und Betrug, was ja überhaupt kein Wunder ist, erproben sie dies doch in jeder einzelnen Minute ihres Daseins am eigenen Leibe.
Deine Ma wird am Tag vor der Krankenhausaufnahme sehr früh am Tag ihren Pegel auffüllen, ganz früh ins Bett gehen, schätze ich mal, dann schön lange ausschlafen und wie ein frischgelegtes Ei morgens beim Doc sitzen und eiskalt jede Frage nach eventuellem Alkoholkonsum weitweit von sich weisen.
Und das kann sie dann das Leben kosten.
So.
Als Fazit meines ganzen dummen Gelabers kann ich dir schließlich nur in vollster Gänze meine allerbesten Wünsche übermitteln und dir alle Kraft der Welt wünschen.
Es grüßt dich hezlichst
Awful Annie