Narratives Präsens?

Bei einer Romananalyse bin ich auf die Form des „narrativen Präsens“ gestoßen, weiß aber nicht so recht, wie sich diese vom (einfachen) Präsens unterscheidet. Ein Roman stellt doch im Grunde immer eine Erzählung (Narration dar)…

Nehmen wir an, es spricht ein Ich-Erzähler:

„Alles stockt, wir kommen kaum vorwärts. Unsere Artillerie zerfetzt den nächsten Angriff. Neben mir wird ein Soldat schwer verwundet. Er taumelt noch einige Schritte, eher er fällt.“

Ist das schon narratives Präsens? Bitte nicht nur „ja“ oder „nein“ antworten, sondern eure Antwort auch begründen, vielen Dank!

Hallo,
Hmm… ich denke, eher nicht. Aber auch ein Roman, der in der 3. Person geschrieben ist, kann das narrative Präsens verwenden, so à la…

„Ein kalter Luftzug weht Klaus entgegen, als er die Tür nach draußen öffnet, um den Garten zu betreten. Da erscheint plötzlich seine Katze…“

Das narrative Präsens kommt auch häufig in der Umgangssprache vor:

„Also gestern, nä, da geh ich so die Straße lang und da kommt doch plötzlich von links so ein Auto, fährt durch 'ne Pfütze und ich voll nass! Boah!“

Wenn im Roman eine Person spricht, kann sie ja (im Prinzip) gar nicht anders, als im Präsens zu sprechen, wenn sie in ihrem Zeitrahmen passierende Ereignisse beschreibt. Das ist dann kein narratives Präsens, sondern nur das ganz gewöhnliche Präsens.

Stilistisch gesehen, denke ich, soll so ein narratives Präsens den Leser bzw. Hörer näher ans Geschehen binden; das Erzählte soll dadurch lebensnaher und spannender wirken.

Grüße,

  • André

Hi,

nun ja, der TExt ist recht kurz, und du sagst auch nciht woher er kommt, aber ich vermute mal, dass es schon ein narratives Präsens sein kann.
Das narrative Präsens ist ein Stilmittel. Von narrativem Präsens spricht man, wenn eine Handlung, die in der Vergangenheit stattgefunden hat, im Präsens wiedergibt. Dadurch wird der Hörer / Leser stärker in die Handlung einbezogen, das Ganze wird spannender und fesselnder, man ist mittendrin.
Das narrative Präsens ist nicht auf die Verwendung in der Literatur beschränkt, jeder von uns benutzt es beim Erzählen. Wenn Dein Kumpel Dir am Montag von seinem durchzechten Wochenende erzählt, ist das Wochenende natürlich vorbei. Aber er kann Dir trotzdem imn Präsens davon berichten: „Ey, Samstag komm ich in die Disco rein, alles leer, keiner da. Ich geh also erstmal an die Bar und bestell mir was. Da geht die Tür auf und diese Wahnsinnsfrau kommt rein.“ Klar kann er auch im Präteritum erzählen: „Ich ging am Samstag in die Disco, alles leer, keiner war da. Ich ging also erst einmal an die Bar und bestellte mir was. Da ging die Tür auf und diese Wahnsinnsfrau kam rein.“ Die zweite Version ist etwas unspannender, gell?
Guck dir mal den Anfang dieser Erzählung von Arthur Schnitzler an: http://gutenberg.spiegel.de/index.php?id=5&xid=2481&…
Da spielt er mit narrativem Präsens (bis „Wie drollig war das damals!“) und Präteritum. Man ist als Leser wirklich mitten in der in den ersten Absätzen geschilderten Situation gefangen und empfindet wie der Ich-Erzähler den Abstand zur Gegenwart, man fühlt, dass etwas vorbei ist - obwohl das im narrativen Präsens Geschilderte ja länger zurück liegt als das im Präteritum Geschilderte.
Ob etwas Präsens ist oder narratives Präsens, liegt am Verhältnis zwischen verwendeter grammatischer Zeit und objektivem Handlungszeitpunkt. Die Verwendung des narrativen Präsens ist auch nciht an die wörtliche oder indirekte Rede gebunden. So kann man sagen, dass der Erzähler eines literarischen Textes das narrative Präsens ganz oder teilweise benutzt, aber auch Dialoge, die in einem literarischen TExt vorkommen, können das narrative Präsens verwenden - wenn aslso z.B. der Bericht Deines fiktiven Freundes weiter oben in Arthur Schnitzlers Erzählung verpflanzt würde.

Die Franzi

Hallo Chris29,
ich nehme mal an, dass der Erzähler im Text davor und danach wieder in der Vergangenheitsform erzählt, dass also nicht, wie es durchaus in längeren Erzählungen möglich ist, der gesamte Text im Präsens gehalten ist. Wechselt der Erzähler nur an einzelnen, gewöhnlich besonders erlebnisintensiven Erzählpartien (die angeführte Stelle ist ein gutes Beispiel dafür) ins Präsens, so spricht man gewöhnlich vom historischen Präsens.

Gruß
goll

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Vielen Dank für alle Antworten! Dann handelt es sich in dem von mir beschriebenen Fall eindeutig nicht um ein narratives Präsens, da der Text durchgängig in der Gegenwartsform geschrieben ist und der Ich-Erzähler auch nicht aus der Vergangenheit berichtet, indem er sich des von euch gut dargestellten narrativen Präsens bedient.

Also nochmals danke!