Hallo Nick,
nett, daß Du Dir noch die Mühe gemacht hast, zu antworten – hatte gedacht, die Diskussion ist bereits beendet.
Verstanden hast Du mich wohl auch diesmal nicht, anders kann ich mir die Schwerpunkte Deiner Antwort nicht erklären. Mir ging es doch nicht um irgendeine Rassenlehre, sondern um die Zerstörung ‚multikultureller‘ Gesellschaften, die es in Mittelosteuropa gab. Aber sei’s drum, danke trotzdem für die Mühe.
Ein paar Korrekturen an Deinen Ausführungen muß man aber schon machen:
Ich wüßte nicht, daß ‚Erfolg‘ ein moralisch oder intellektuell positiv besetzter Begriff ist. Erfolg kann auch jemand haben, der das Ziel hat, die Tür seines Nachbarn mit der Axt einzuschlagen. Nämlich in dem Augenblick, wo er durch ist. Auch ein geplantes Attentat kann Erfolg haben, eine demagogische Politik etc. Daß Absichten verbrecherisch und/oder krank sind, beinhaltet noch nicht, daß sie nicht zu Ende ausgeführt werden könnten. (Kein klares Ziel = kein messbarer Erfolg: die Gleichsetzung von ‚klar‘ und ‚sinnvoll‘ erscheint mir doch recht naiv. Wär ja praktisch, wenn’s so wäre …)
Wenn Du das, was Du als Beispiel für den heutigen Einfluß der jüdischen Kultur schreibst, irgendwie gleichsetzen willst mit der Durchdringung jüdisch-deutscher Kultur vor 1933, hast Du entweder keine Ahnung von (der damaligen) Kultur, oder Du hast einen – freundlich gesagt – exotischen Standpunkt. Das wär ungefähr so wie: Es gibt einen guten Opernsänger, der viele Konzerte gibt. Dann wird er umgebracht, und aus Empörung darüber darf niemand mehr auf Opernsänger schimpfen. Schön, aber dadurch hört man trotzdem keine Opern … Wäre etwas dreist, zu sagen, daß der Opernsänger jetzt noch mehr Publikum hat als vorher, oder?? (cum grano salis, du weisst schon …)
Ein Beispiel für kreative Probleme durch Bevölkerungsmischung? Zum Beispiel die Situation vor der Volksabstimmung in Oberschlesien 1922. Die Kulturverhältnisse (Sprachen etc.) und die Wirtschaftsverhältnisse waren so, daß jede nationalstaatliche Lösung (zu der ja die Volksabstimmung klärend beitragen sollte) jemand benachteiligt, etwas zerstört hätte. Genau das Problem, dass es auch an vielen anderen Orten (z. B. ehemaliges Ungarn nach Trianon etc.) gab. Man hätte Lösungen finden müssen, die über das Konzept des Nationalstaats hinausgehen. Solche Vorschläge gab es damals auch schon: Die Verweigerung der Volksabstimmung und die Schaffung eines europäisch verwalteten Gebietes Oberschlesien, das keinem Staat zugeschlagen wird, sondern abwartet, bis der Rest Europas sich auch vom Nationalstaatsgedanken löst (sogenannte ‚Dreigliederungsbewegung‘). Das kam aber nicht ansatzweise durch, wenig überraschend.
Ohne Hitler & Co hätte man irgendwann auch andere komplexe Zusammenhänge, die man mit den Schlagworten Danzig, Sudetenland, oder jüdische Enklaven in Polen und im Baltikum usw. benannt hat (hier sind die Bezeichnungen alle etwas kontaminiert …), als solche kreative Herausforderungen akzeptieren und gestalten müssen – in den damals gerade entstanden Demokratien nochmal anders als vorher in den Monarchien, in denen ein Nebeneinander leichter ‚von oben‘ organisiert werden konnte. Stattdessen wurden sie von Hitler (und teilweise in geringerem Maße auch von anderen) erst manipuliert und mißbraucht, um die nationale Psychose zu schüren. Und dann haben der Krieg, der Holocaust und die Aussiedlungen das Problem einfach ausgerottet, statt es kreativ zu lösen.
Ein anderes, positives Beispiel ist vielleicht die deutschsprachige Kultur in Prag, Kafka, Werfel & Co. Die hatte fraglos ihre besondere Note dadurch, daß die Deutschen eine kulturbewußte Minderheit in Tschechien waren. Usw., gäbe es viel Vergleichbares, vielleicht unspektakuläreres anzuführen. Überall lebten diese Kulturräume vom Nebeneinander, von der Begegnung, Abgrenzung, Durchdringung.
Dazu, daß die kulturellen Reibungsflächen in Mittelosteuropa erst in den Köpfen der Nazis entstanden seien, gilt, was ich oben geschrieben habe. (Wenig Ahnung etc.) Deutsche, Polen, Juden, Litauer etc. mußten sich nicht erst die Köpfe vermessen, um festzustellen, daß sie verschiedenen Kulturen angehören. Die lebten auch weitgehend in verschiedenen Dörfern/Ortsteilen etc. (wie Berlin-Neukölln und Berlin-Lankwitz
) Ist ja OK, wenn Du ‚Rassedenken‘ vorbeugen willst (gibts vielleicht verkappt hinter ähnlichen Formulierungen auch öfter). Bei mir aber nicht nötig – immer schon aufrechter Antifaschist (was ohne Faschismus auch nicht allzuschwer ist). Und wenn Du’s tust, besser nicht so auf rhetorische Pointen sondern auf stimmige Inhalte setzen. Ist doch ein ‚Expertenforum‘ 
Zum „Kulturverständnis“: Welcher Nachkriegsdeutsche hat nicht, ob er will oder nicht, ein Kulturbewußtsein, zu dem implizit gehört, daß die Menschen, die an einem Ort leben, dieselbe Kultur haben. Man kennt es doch gar nicht anders, man nimmt es unbewußt absolut so auf. Fremd = Ausland oder GASTarbeiter. Nachkriegsdeutschland = die homogenste nationale Kultur, die es in Deutschland je gab – leider! Naja, immerhin mit US-Lifestyle-Assimilationsbedürfnis. Und zum Glück ohne aggressive Tendenz, sollte man fairerweise dazusagen.
Hehre Ideale wie Toleranz und Aufgeschlossenheit, oder die deutsche Reiselust sind kein Gegenargument. Zu fremden Kulturen gehören ja nicht nur Musik, Religion etc. sondern auch das Rechtsverständnis und vieles mehr. Das bei sich zu Hause – vielleicht noch selbstbewußt geäußert – zu akzeptieren, ist was anderes als zu verreisen oder sich nach eigenem Gusto zu ‚amerikanisieren‘.
Die ganze Diskussion über Leitkultur und Parallelgesellschaften zeigt m. E. nur, wie wenig Übung im Umgang mit dem Zusammenleben von Kulturen man hat. Ich will mich ja nicht wiederholen, aber: in Mittelosteuropa war die Ausgangslage dafür vor dem Krieg anders – aber nicht einfach harmonisch, wie du es darstellst. Im besten Fall hatte es eine kreative Spannung.
Angesichts dieser Lage sind 60.000 Deutsche auf Mallorca ja schon mal etwas. Raus aus’m Reich – immer meine Devise gewesen! Ich weiß nur nicht, wie’s um das kreative Potential dieser ‚deutschen Kulturinsel‘ bestellt ist … man hört nicht so viel davon

Setzt man das mit der deutschen Nachkriegskultur voraus – und das sind wohl Tatsachen –, dann kann man das heutige Kulturverständnis doch nur als indirekt durch die Folgen des 2. WKs und also der Nazis beeinflusst bezeichnen. Wie sollte es auch anders sein? Kultur ist ja Teil der Geschichte.
Wegen dem Streit um den Ausdruck Nutznießer: Es gibt ja auch kompliziertere Verhältnisse, wie etwa: Herr A erschlägt Herrn B. Herr C zieht in Bs leere Wohnung ein. Ist C ‚Nutznießer‘ des Mordes? Natürlich nicht als direkter Komplize oder so … aber ein Verhältnis besteht doch. Bekanntlich gab’s einige solcher ‚Wohnverhältnisse‘ in Deutschland nach dem Krieg. Aber ich meine es in einem viel weiteren Sinn.
Und dazu suchte ich Material. Man macht sich wahrscheinlich deshalb nur selten Gedanken darüber, weil man sich dazu erstmal die Alternative eines Europas ohne Hitler probeweise vorstellen muß. Tut man das nicht, DANN ist das m. E. ein Fall von unverdauter Geschichte. Man lebt dann wie C. in seiner Wohnung, sagt vielleicht nette Sachen über B., aber aushalten muß man ihn ja nicht …
Wenn man sich – mal hypothetisch angenommen – seit 1918 in Europa konstruktiv mit diesen Fragen des Zusammenlebens beschäftigt hätte (der Völkerbund hat sich auf seine verquere Weise ständig um so was gestritten – scheint also doch ein Problem gewesen zu sein …) würde man vielleicht auch auf Immigration, ‚Gastarbeiter‘ etc. anderes reagieren. Sieh doch den Rummel um das Minarett-Volksbegehren.
Zu Schlögel – vielleicht meinst Du einen anderen?
Sein Ansatz hat sehr wohl diesen Kontext – etwas von der Vernichtung des komplexen Vorkriegseuropas durch Nazis und Krieg durch ‚Geschichtsbewußtsein‘ zu überwinden (grob gesagt). Das sieht er so, und das macht auch den ‚engagierten‘ Duktus aus, m. E. Von ‚abgerissenen Fäden‘ kultureller Strömungen schreibt er auch wörtlich … Kann man so verschieden lesen (ich kenne vielleicht 5 Bücher von ihm)? Oder mehr Frontverhärtung? 
Absatz mit „Rassenkunde“: Wenn Du das als Antwort schreibst, identifizierst Du ‚Volk‘ anscheinend selbst mit ‚Erbgut‘. Ups … Für mich ist ‚Volk‘ wesentlich eine kulturelle Kategorie (Sprache, Geschichte, Kultur); wie weit da Erbgut irgendwie mit reinspielt, kann heute niemand wissenschaftlich beweisen oder bestreiten, da sich mit solchen Körper-Bewußtseins-Wechselwirkungen (noch?) niemand auskennt. Sachlich gilt dasselbe wie oben. Wenn sich die polnischen Juden, Deutschen und Polen „munter vermischt“ hätten, wäre der Holocaust vielleicht nicht so einfach zu organisieren gewesen … Die „munteren Mischehen“ nicht innerhalb kleiner Kreise in den Grosstädten, sondern auf dem Land mußt Du mir mal zeigen … Dein Jargon hat da was von gehobenem Stammtisch, das nervt ein bisschen. Kann man sich auch nur leisten, wenn man dabei nicht Nonsens schreibt
s.o.
Zum Beispiel, daß es ohne Hitler in Osteuropa kleine Fürstentümer gegeben hätte. ?? Polen, Tschechoslowakei, Rumänien – Fürstentümer?? Feudal?? Wohl im Jahrhundert geirrt. Und dort waren die Fürstentümer auch davor nicht so klein wie in Deutschland, wenn ich mich nicht irre.
Und wie wäre die Sowjetunion in die Lage gekommen, diese Länder zu prägen, ohne 2. Weltkrieg? Das setzt zumindest den Glauben an die Weltrevolution voraus – kein selbstverständlicher Standpunkt. So’n Lapsus ist bei selbstsicherer Kritik „unbrauchbarer Standpunkte“ ein bisschen peinlich …
Vor lauter Erklärungen viel zu lang – nichts für ungut – und schönen Gruss noch mal
Gustav