Neutrale Erzählperspektive

hallo!

kann man eigentlich sagen, dass im Grunde jeder „normale“ Zeitungsbericht eine „neutrale Erzählperspektive“ besitzt?

zB. = „Für das kommende Jahr rechnen laut DIHK-Industriereport 2003 nun 33 (Frühsommer 20) Prozent der Industrieunternehmen mit besseren Geschäften. Eine unveränderte Lage erwarten fast die Hälfte (48 Prozent). Stark verringert habe sich mit 19 nach 37 Prozent der Anteil der Unternehmen mit schlechteren Geschäftsaussichten. Der Saldo zwischen zuversichtlichen und skeptischen Stimmen habe sich von minus 17 Prozentpunkte auf plus 14 Prozentpunkte auffällig stark in den positiven Bereich gedreht.“ (FAZ)

gibt es noch andere Beispieltexte mit einem neutralen Erzähler?

danke
Thomas

Hi,
bin gerade aus Deutschland zurueck. Und ich kann nur sagen, dass dies mir jedes Mal, wenn ich da bin, stark auffaellt.
Ich will ja nicht behaupten, dass die ‚Erzaehlperspektive‘ im Englischen nicht neutral ist, aber, wohl wegen der anderen Satzstellung, hoert es sich im Englischen nicht schrecklich an. Im Deutschen empfinde ich es als unangenehm gestelzt, aber auch als so unpersoenlich, dass es einen gar nicht zu betreffen erscheint, auch wenn es dies taete.

Gruss, Isabel

PS: Ich glaube, es ist vor allem die Form wie ‚laut so-und-so habe sich das-und-das ereignet‘. So neutral, dass der Autor nicht mal zu den Informationen steht, sondern sie beinahe anzweifelt…
Wenn es heissen wuerde 'laut so-und-so hat sich das-und-das ereignet, hoert es sich schon nicht mehr ganz so krass an.
Ich hoffe, Du verstehst, was ich meine.

[Bei dieser Antwort wurde das Vollzitat nachträglich automatisiert entfernt]

Hallo

Die literarische Gattung in einem Zeitungsbericht entspricht eben jener des „Berichtes“. Berichte kennen keine „Erzählperspektiven“, wie dies z.B. in Romanen der Fall ist. Berichte sollen möglichst sachlich informieren und die Geschehnisse ohne emotionale oder anderweitige Beeinflussungen wiedergeben. Dies gilt zumindest für den seriösen Journalismus. Die Boulevard- (oder „Klatsch-“) Presse dagegen versucht die Emotionen der Leser zu wecken, wirkt dadurch vielleicht weniger „neutral“, und ist in der Berichterstattung zumeist auch wesentlich unseriöser, da es nicht mehr bloss um den sachlichen Bericht von Ereignissen geht, sondern der Journalist/die Journalistin möchte eine Geschichte erzählen. Diese soll mitreissen, und deshalb dürfen in einem solchen Fall Wertungen und (für die Sache unwichtige und manchmal erfundene) Details nicht fehlen.

PS: Ich glaube, es ist vor allem die Form wie ‚laut so-und-so
habe sich das-und-das ereignet‘. So neutral, dass der Autor
nicht mal zu den Informationen steht, sondern sie beinahe
anzweifelt…

Liebe Isabel

Die Form „habe“ ist der Konjunktiv I und in diesem Satz grammatikalisch sowieso nicht richtig. Wenn du sagst „Laut soundso“ muss hinterher ein Indikativ (häufig in der Form „soll dieses und jenes geschehen sein“) kommen. Ich denke aber, du meinst hier einfach die indirekte Rede (z.B. „der und der sagte, dieses habe sich ereignet.“) Dabei handelt es sich um eine indirekte Rede, in der der sog. gemischte Konjunktiv angewandt werden muss. Es ist absolut rechtens, dass der Autor des Artikels sich dadurch zusätzlich von der Aussage „distanziert“, denn er hat das Geschehene nicht mit eigenen Augen gesehen, sondern irgenjemand hat ihm bloss davon erzählt. Dieser Jemand kann voreingenommen gewesen sein und die Tatsachen verfälscht oder gänzlich erfunden haben.
Es kommt in den Medien leider immer häufiger vor, dass die indirekte Rede nicht richtig gebildet wird und man entsprechend meinem obigen Beispiel „der und der sagte, dieses hat sich ereignet“ schreiben würde. Mit Erzählperspektiven hat das allerdings nichts zu tun, sondern lediglich mit fehlenden Sprachkenntnissen.

Gruss

Wiesel

danke, aber dies hilft mir nicht so richtig weiter :wink:

Hallo Thomas,

ich fürchte, so ganz habe ich deine Frage nicht verstanden.

kann man eigentlich sagen, dass im Grunde jeder „normale“
Zeitungsbericht eine „neutrale Erzählperspektive“ besitzt?

Jeder „normale“ Bericht benutzt als „neutrale Erzählperspektive“ den Konjunktiv I, wie in deinem Beispiel aus der FAZ. Es ist der korrekte Modus der Berichterstattung.

gibt es noch andere Beispieltexte mit einem neutralen
Erzähler?

Es gibt noch andere Anwendungen des Konjunktivs, wenn du das meinst. Klassisches Beispiel ist die indirekte Rede:

Sibylle sagt: „Ich bin schnell.“
Daraus wird dann in indirekter Rede: Sybille sagt, sie sei schnell.

Andere Anwendungen gibt es z.B. bei Wünschen oder bei Aufforderungen:

Man gebe nicht nur dem Fritz so viele Sternchen. :wink:

Man schaue mindestends dreimal täglich bei w-w-w vorbei.

Er ruhe sanft.

Oder in bestimmten Wendungen, z.b. Wendungen mit „es sei denn“.

Ich hoffe, meine Antwort hilft dir, es sei denn, ich habe die Frage nicht richtig verstanden.

Gruß
Roland

Hi!

kann man eigentlich sagen, dass im Grunde jeder „normale“
Zeitungsbericht eine „neutrale Erzählperspektive“ besitzt?

Ich glaube nicht, dass ein Zeitungsbericht überhaupt eine „Erzählperspektive“ hat, denn ein Zeitungsbericht ist die Zusammenfassung von bestimmten Fakten zu einem Thema und hat keine „Erzählstimme“, wie es in der Belletristik üblich ist. Als Ausnahme könnte man in Zeitungen „Kommentare“ zu bestimmten Ereignissen sehen (diese sind aber immer entsprechend gekennzeichnet) oder bestimmte Beiträge im Feuilleton (die dann aber schon wieder einen gewissen literarischen Charakter haben). Eine nicht neutrale Erzählperspektive (personal, auktorial, etc.) wäre in einem Zeitungsartikel m.E. auch unangebracht, schließlich geht es um die Übermittlung von Fakten und nicht um die Kommentierung der Ereignisse in direkter oder indirekter Rede oder in Gefühlen und Gedanken.

Die neutrale Erzählperspektive tritt in der Literatur zumeist in action-reichen Erzählsequenzen auf, etwa in Kampfhandlungen, wo es auf hohes Tempo ankommt.

Grüße
Heinrich

hi,

Wenn es heissen wuerde 'laut so-und-so hat sich das-und-das
ereignet, hoert es sich schon nicht mehr ganz so krass an.

ja, aber mir deucht, daß das grammatikalisch einfach falsch wäre. in der indirekten rede hat der konjunktiv zu stehen. im englischen gibt es den unterschied eben nicht.

gruß
datafox

Alles halb so wild. Neutral heißt in diesem Fall - wie auch eigentlich allen anderen -, daß der Erzähler (in der Zeitung eher Reporter oder Redakteur) zu der Sache, über die er schreibt, nicht seinen eigenen Senf abgibt. Das ist in deutschen Zeitungen seit 1945 grundsätzlich immer dann der Fall, wenn es sich bei dem Bericht nicht ausdrücklich um einen Kommentar (Glosse, Kolumne, Kritik etc.) handelt, also um die allermeisten, gewöhnlichen Berichte handelt.
Selbstverständlich wird man sowas auch in der Prosa finden können - halt einfach mal Ausschau nach einer Kurzgeschichte, in der der Erzähler weder Partei ergreift, noch eine persönliche Stellungnahme abgibt oder ähnliches. Das kommt vermutlich dewegen gerade auch in einer Kurzgeschichte vor, weil der Erähler (nicht zwingend eins mit dem Autor!) noch ganz andere Möglichkeiten hat, seine Leser zu beeinflussen, nämlich indem er Aspekte in den Vordergrund stellt, die ihm wichtig sind, und so den Leser beeinflussen können, obwohl sie kein direkter Kommentar sind.
Auch in den Medien ist das möglich und wird so täglich praktiziert; nicht umsonst werden einigen Sender und Zeitungen oft auch eine bestimmte politische Richtung zugeschrieben.
Zusammengefaßt: Neutral heißt, daß der Schreiber bzw. Erzähler/Berichter keine eigene Stellung bezieht.

hi,

Wenn es heissen wuerde 'laut so-und-so hat sich das-und-das
ereignet, hoert es sich schon nicht mehr ganz so krass an.

ja, aber mir deucht, daß das grammatikalisch einfach falsch
wäre. in der indirekten rede hat der konjunktiv zu stehen. im
englischen gibt es den unterschied eben nicht.

Das leuchtet mir ein - und ist dann wohl auch der Grund, warum ich das Deutsche dann immer als so schrecklich gestelzt empfinde!

Ach, wie schoen ist die englische Sprache - man muss sich ausserdem nicht andauernd damit auseinandersetzen, ob man jemanden duzen oder siezen sollte! Und man muss seinen Chef nicht mit Mr so-and-so anreden!

Gruss & guten Rutsch,
Isabel

hi,

Ach, wie schoen ist die englische Sprache - man muss sich
ausserdem nicht andauernd damit auseinandersetzen, ob man
jemanden duzen oder siezen sollte! Und man muss seinen Chef
nicht mit Mr so-and-so anreden!

ja, das weiß ich inzwischen auch zu schätzen :smile: ist nicht nur im englischen so :wink:

grüße
datafox