Religion wird im Allgemeinen als Teil der Kultur gesehen -
andere Teile wären wohl Kunst, Moral/Gebräuche, Mode,
vielleicht auch Wissenschaft. Die Aufzählung ist schon etwas
schwierig. Gibt es z.B. Vorordnungen und Abhängigkeiten,
Teilmengen, Schnittmengen?
Ich denke die brauchbarste Definition ist: alles ist Kultur. Kultur ist ein „selbsgesponnenes Bedeutungsgewebe“ in welches der Mensch verstrickt ist (C.Geertz).
Nun direkt zu Religion u Kultur:
In einer Diskussion, in der auch die „Ehrenmorde“ (unter
Türken) gestreift wurden, wandte ein Kenner mit Erfahrungen
aus dem Libanon zu Recht ein: Das gibt es im Vorderen Orient
auch unter Christen, es ist NICHT ein Problem der
(moslemischen) RELIGION, SONDERN der (südeuropäischen/
vorderorientalischen) KULTUR.
Ja, davon habe ich auch schon aus wissenschaftlichen Quellen gehört. Allerdings sind die Begriffe, die Dein Beispiel verwendet, alles andere als exakt und bezeichnend für das, was er vielleicht ausdrücken wollte. Allein der Ausdruck „südeuropäische/vorderorientalische“ Kultur ist zu 100% inhaltsentleert, denn im maximalsten Fall kann er sich auf Vorurteile beziehen, aber niemals auf eine auch nur im entferntesten einheitliche Kultur. Sag mir doch mal ganz spontan, welche Gemeinsamkeiten Menschen haben könnten, die einer „vorderorientalischen/südeuropäischen“ Kultur entsprungen sind?
Auf solcherart pauschalisierten Argumentationen sollte man doch erst gar nicht mehr eingehen. Das ist im Endeffekt so als würde ich sagen: Alle Autos auf dieser Welt funktionieren nicht, weil meines kaputt ist.
So gut diese Klarstellung ist, dass man da nicht etwas „den
Moslems“ in die Schuhe schieben muss, was es bei anderen auch
gibt – trotzdem die Frage: Kann man so Religion und Kultur
trennen, sie alternativ sehen? Religionen entstehen doch aus
gewissen kulturellen Zusammenhängen. Und Kulturen wurden doch
schon massiv von Religionen beeinflusst. [Wenn es um so etwas
Massives wie Ehrenmorde geht, kann es doch keiner Religion
egal sein - als ob das NUR eine kulturelle Frage sei.]
Leider denken viele Menschen aufgrund der Tatsache, dass sie ständig von Kultur umgeben sind, wüssten sie auch alles darüber. Wie bereits gesagt, die Aussage „Ehrenmord ist Sache der Moslems“ muss falsch sein, weil die Begrifflichkeiten schon vollkommen falsch sind. Ein Phänomen, welches nur in ganz bestimmten Gebieten, unter bestimmten Schichten, mit bestimmter Sozialisierung vorkommt, kann wohl kaum mit Begriffen beschrieben werden, die genau das Gegenteil umfassen.
Ich MÖCHTE sogar das Verhältnis zwischen Reli und Kultur so
definieren: Religionen sind die (mehr oder weniger geglückten)
Versuche, Kulturen auf eine einheitliche Linie zu bringen,
gemeinsame Werte in sie einzubringen…
Mit Sicherheit nicht. Zudem versuchst Du eine Funktion zu finden und kein Verhältnis.
Zum einen sind Kulturen und Religionen in der Wirklichkeit niemals so einheitlich, wie der Begriff es denken lassen könnte. Und zum anderen stehen sie weder nebeneinander noch in Konkurrenz zueinander. Kultur, Religion, Konfession, Sekte, Ethnie, Nation, Stamm, Familie, Verein, Nachbarschaft, Kiez - egal welche Gruppierung man wählt - sie gibt es nicht per se. Sie dienen dazu sich oder andere zu etwas zugehörig zu bezeichnen oder davon abzugrenzen.
Wenn ich das vollkommen absurde, vorurteilsbeladene, auf Allgemein- und Populärwissen basierende Bild einer globalen Religion vor Augen habe, welches völlig jeglicher regionalen praktischen Unterschiede beraubt wurde, dann kann ich mit diesem Begriff durchaus sagen, dass sie mehrere „Kulturen“ überspannt. Aber die Aussagekraft ist gleich null. Daher liegt der einzige Sinn darin solche Begriffe für die Erklärung dieser Phänomene zu benutzen in dem Zweck der Schuldzuweisung, Vorurteilsschaffung, Diskriminierung. Kurz: zu Propagandazwecken.