Hallo,
dein Posting ist nicht einfach zu beantworten, weil wir ja nicht das Originalmanuskript überliefert haben, sondern eine Abschrift von Köselitz, in der die zu übertrieben selbstlobenden Stellen schon herausgefallen (und mit größter Wahrscheinlichkeit vernichtet) sind.
Wenn du fragst, ob die kausale Erklärung zu einfach sei, dann muss man das wohl bejahen, denn was heißt es schon, dass ein Werk zwingend geschrieben werden musste? Die Formulierung weist ja schon darauf hin, dass solch ein Urteil nur von der Nachwelt gefasst werden kann, und in der Tat ist die Verbindung dieser Schrift mit dem möglicherweise beginnenden Wahnsinn ja ein Topos der Rezeptionsgeschichte, der den thematischen Feinheiten des Werkes nicht unbedingt gerecht wird. Denn so ganz losgelöst von den inhaltlichen Thesen der Philosophie Nietzsches ist das Buch ja nicht; schließlich folgt ihm noch der – wesentlich harmlosere – „Antichrist“, zu dem das Buch ja eine Art Vorwort sein sollte, um mögliche Missverständnisse zu vermeiden.
Ich weiß nicht, wie deine Formulierung, dass du das Werk „als Autobiographie“ vorstellen sollst, gemeint ist. Heißt das, dass du auf die thematischen Motive (amor fati, Umwertung) verzichten willst/musst/sollst? Oder willst du nur den Fokus darauf legen, dass das Werk von der Form her eine Autobiographie darstellt?
Nietzsche freilich möchte schon zeigen, dass seine Entwicklung einer logischen Regel folgte – und insofern kann man schon davon sprechen, dass das Werk deutlich machen wollte, wo er sich gerade theoretisch befindet und warum gerade dort. Andererseits geht mit dem Werk verstärkt die Lektüre der zeitgenössischen medizinischen und psychiatrischen Literatur einher, so dass auch die These, dass das Buch psychologisieren will, nicht von der Hand zu weisen ist. Dann freilich wäre es eine Immunisierung, die aber mit der behaupteten Bedeutung der Krankheitsgeschichte für das Buch schlecht in Einklang zu bringen wäre.
Eine „Legitimation seiner Lehrtätigkeit“ ist es aber keineswegs, es sei denn, du würdest das Verfassen der Bücher als Lehrtätigkeit auffassen. Die „Lehrtätigkeit“ Nietsches fand in Basel statt, der Begriff passt nicht so richtig auf seine spätere Zeit, denke ich. Dass Nietsche ein „Abtrünniger“ war, ist seit der vernichtenden Rezension der „Geburt der Tragödie“ durch Willamowitz-Möllendorf unbestreitbar. Aber dabei sind keine Germanisten beteiligt (von germanistischer Seite aus kenne ich auch nur das Buch von Heftrich, und das ist inzwischen schon vor einem halben Jahrhundert geschrieben worden, und präsent hab ich den Inhalt auch nicht mehr).
Ob Nietzsche letztlich ein „richtiger Philosoph“ ist, das ist nach wie vor sehr umstritten. Die Universitätsphilosophie sperrt sich noch immer – und aus ihrer Warte heraus vielleicht nicht zu Unrecht. Allerdings ist die wirkliche Philosophie Nietzsches so radikal, dass sie eigentlich die Professoren nicht abschrecken, sondern wohl eher aufschrecken sollte, meine (nicht nur) ich.
Herzliche Grüße
Thomas Miller