Nietzsches Ecce Homo

Hallo,
als Germanistin darf ich am Freitag den
Ecce Homo als Autobiographie vorstellen.
Die Elemente, wie ernst dies Werk zu
nehmen sei, weil möglicherweise ja schon
im Wahnsinn geschrieben bzw. daß es der
Höhepunkt, die Erklärung seines Werkes sei,
fehlen dabei natürlich nicht.

Ist es zu einfach, wenn ich sage, daß N
logischerweise dies Werk verfassen mußte?
Als Konsequenz seiner vorhergehenden Werke,
seiner Lehre.
Daß die für Nichtversteher sehr radikal
klingenden Formulierungen und Ideen auf jeden
Fall so dastehen müssen, weil er als Philosoph
eine eigene Sicht der Welt, eine Lehre begrün-
dete, die er gegen alle anderen Ansichten im-
munisieren mußte? Weil er ja ein Interesse
daran hat, daß er ernst genommen wird? (Legiti-
mation seiner Lehrtätigkeit quasi) Und
weil er ja innerhalb seiner Logik konsequent
bleiben mußte?

Und welche Rolle spielt sein Philologentum?
Ist er in gewisser Weise ein Abtrüniger? Weil
die Germanisten ihn ja ganz gern lieber als
Philosophen sehen… und dabei seine Sprach-
kritik übersehen…

Ist er andererseits durch seine Autorenschaft
ein „nicht richtiger Philosoph“?
Hm. Verzeiht diese ganzen Begrifflichkeiten…
und jetzt bitte Eure Kommentare! - danke :wink:

Hallo,

dein Posting ist nicht einfach zu beantworten, weil wir ja nicht das Originalmanuskript überliefert haben, sondern eine Abschrift von Köselitz, in der die zu übertrieben selbstlobenden Stellen schon herausgefallen (und mit größter Wahrscheinlichkeit vernichtet) sind.

Wenn du fragst, ob die kausale Erklärung zu einfach sei, dann muss man das wohl bejahen, denn was heißt es schon, dass ein Werk zwingend geschrieben werden musste? Die Formulierung weist ja schon darauf hin, dass solch ein Urteil nur von der Nachwelt gefasst werden kann, und in der Tat ist die Verbindung dieser Schrift mit dem möglicherweise beginnenden Wahnsinn ja ein Topos der Rezeptionsgeschichte, der den thematischen Feinheiten des Werkes nicht unbedingt gerecht wird. Denn so ganz losgelöst von den inhaltlichen Thesen der Philosophie Nietzsches ist das Buch ja nicht; schließlich folgt ihm noch der – wesentlich harmlosere – „Antichrist“, zu dem das Buch ja eine Art Vorwort sein sollte, um mögliche Missverständnisse zu vermeiden.

Ich weiß nicht, wie deine Formulierung, dass du das Werk „als Autobiographie“ vorstellen sollst, gemeint ist. Heißt das, dass du auf die thematischen Motive (amor fati, Umwertung) verzichten willst/musst/sollst? Oder willst du nur den Fokus darauf legen, dass das Werk von der Form her eine Autobiographie darstellt?
Nietzsche freilich möchte schon zeigen, dass seine Entwicklung einer logischen Regel folgte – und insofern kann man schon davon sprechen, dass das Werk deutlich machen wollte, wo er sich gerade theoretisch befindet und warum gerade dort. Andererseits geht mit dem Werk verstärkt die Lektüre der zeitgenössischen medizinischen und psychiatrischen Literatur einher, so dass auch die These, dass das Buch psychologisieren will, nicht von der Hand zu weisen ist. Dann freilich wäre es eine Immunisierung, die aber mit der behaupteten Bedeutung der Krankheitsgeschichte für das Buch schlecht in Einklang zu bringen wäre.

Eine „Legitimation seiner Lehrtätigkeit“ ist es aber keineswegs, es sei denn, du würdest das Verfassen der Bücher als Lehrtätigkeit auffassen. Die „Lehrtätigkeit“ Nietsches fand in Basel statt, der Begriff passt nicht so richtig auf seine spätere Zeit, denke ich. Dass Nietsche ein „Abtrünniger“ war, ist seit der vernichtenden Rezension der „Geburt der Tragödie“ durch Willamowitz-Möllendorf unbestreitbar. Aber dabei sind keine Germanisten beteiligt (von germanistischer Seite aus kenne ich auch nur das Buch von Heftrich, und das ist inzwischen schon vor einem halben Jahrhundert geschrieben worden, und präsent hab ich den Inhalt auch nicht mehr).

Ob Nietzsche letztlich ein „richtiger Philosoph“ ist, das ist nach wie vor sehr umstritten. Die Universitätsphilosophie sperrt sich noch immer – und aus ihrer Warte heraus vielleicht nicht zu Unrecht. Allerdings ist die wirkliche Philosophie Nietzsches so radikal, dass sie eigentlich die Professoren nicht abschrecken, sondern wohl eher aufschrecken sollte, meine (nicht nur) ich.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

hilfreiche Literatur (Nachtrag)
Hallo,

http://www.socialism.de/Nietzsche/342330734X.html

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo

Ist es zu einfach, wenn ich sage, daß N
logischerweise dies Werk verfassen mußte?
Als Konsequenz seiner vorhergehenden Werke,
seiner Lehre.

Kann mann so sehen. Entscheidend ist hier Nietzsches Kunstverständnis. Kurz gesagt (Achtung: Vereinfachung), lehnt Nietzsche eine Ästhetik ab, die die Kunst als ein autonomes System in der Gesellschaft verortet, d.h. die herschende Kunstauffassung seit der Klassik. Er plädiert für eine LEBENSKUNST. Das meint: Heraustreten aus dem ästhetischen (philosophischen)Diskurs über Kunst. Kunst dient der Steigerung des Selbst, sie hilft, die Sinnlosigkeit der Welt im Schein zu überspielen. Allerdings wendet er sich dagegen, dass dieser Schein als Schein verschwindet. Man sollte sich schon bewusst sein, dass es Schein ist. (Mit Nietzsches Worten: Über den dionysischen Abgrund imaginiert der Mensch in der appolinischen Kunst einen Sinn, ohne zu vergessen, dass dies nur ein Schein ist.) Das halten aber nur bestimmte Menschen aus (der Übermensch). Kunst ist also ein großer Trost und dient direkt der Bewältigung des Lebens. Diese Lebenskunst statt einer Werkkunst kann nun als „Werk“ nur in einer Autobiographie exemplarisch dargerstellt werden. Das Konzept einer Lebenskunst wird uns in einer stilisierten Autobiograghie vermittelt, allerdings ist dies nur als Text möglich.
Wenn du über Nietzsches Text als ästhetisches Werk referierst verfehlst du nach Nietzsches Meinung genau das Wesentliche.

Steffen

dankeschön …
… euch beiden!

ecce homo wird thema einer sitzung innerhalb
eines germanistischen autobiographie-hauptse-
minares werden. aber genau aufgrund seiner
unglaublichen vielfältigkeit, die man nicht
begreifen kann, wenn man nur nur eh gelesen
hat, möchte ich den eh auf dem hintergrund
des autors biographie, seiner briefe, seiner
„phasen“ darstellen.
bei dem begriff lehre habe ich mich, kurz an-
gebunden, natürlich vergriffen. was mir im
kopf schwebte, war die theorie, die ja ein
jeder philosoph entwickelt, eine weltsicht,
die er für richtig und möglicherweise die einzig
wahre hält. insofern muß er die ja gegen ein-
wände immunisieren, er muß sie ja allen ern-
stes vertreten wollen/ können.
was die ästhetik betrifft:
sein leben, schreibt thomas mann später einmal,
ist ein werk der ästhetik. in ihm spiegle sich
die reinform wider und genau dies sei das be-
sondere, daß nietzsche einen sinnzusammenhang
durch die philosophie seinem leben und der
philosophie durch sein leben gegeben hat. alles
an seinen „thesen“ überprüft, ob sie auch leb-
bar wären.

ein einwand, den ich heute noch hören durfte:
konnte ein psychologisch so feinfühliger mensch
wie n, ja durfte er solche thesen vom übermen-
schen aufstellen, wenn er denn um die „psycho-
logie des menschen“ wußte? war das nicht zu
leichtsinnig von ihm?

Nietsche und die Stilistik
Hallo nochmal,

ecce homo wird thema einer sitzung innerhalb
eines germanistischen autobiographie-hauptse-
minares werden.

wir hatten hier gerade eine germanistische Tagung zum Thema „Autobiographie“, allerdings zur Zeit zwischen 1810 und 1840 (auszugsweise veröffentlicht im Immermann-Jahrbuch).

auf dem hintergrund des autors biographie, seiner briefe, seiner
„phasen“ darstellen.

Das erscheint mir für einen Seminarbeitrag ein bisschen zu umfangreich. Mich würden allerdings schon weitere Einzelheiten interessieren.

insofern muß er die ja gegen ein-
wände immunisieren, er muß sie ja allen ern-
stes vertreten wollen/ können.

Auch so ist es aus meiner Sicht problematisch, denn Nietzsche tritt ja sogar gegen diesen allgemeinst-möglichen Theoriebegriff an - zumindest zeitweise.

ästhetik

Bei Nietzsche findet sich die schöne Formulierung von „ästhetischen Rechtfertigung der Welt“. In diesem Zusammenhang scheint mir die Rede von „Sinn“ fraglich, weil ja der Sinn sich eben nicht in Äußerlichkeiten, wie sie einer Biographie anhaften, zeigt. Aber das müsste man genauer untersuchen. Außerdem gebe ich zu bedenken: Thomas Mann denkt als Literat Nietzsche natürlich im Sinne Thomas Manns und nicht im Sinne Nietzsches. Zumindest ist seine Interpretation nicht unangefochten.

konnte ein psychologisch so feinfühliger mensch
wie n, ja durfte er solche thesen vom übermen-
schen aufstellen, wenn er denn um die „psycho-
logie des menschen“ wußte? war das nicht zu
leichtsinnig von ihm?

Die Bedeutung der „These“ vom Übermenschen legt nahe, dass es sich um eine eindeutige Theorie handelt. Das ist aber auch nicht der Fall. Gerade etwa die stilistischen Eigenheiten des Zarathustra-Buches legen nahe, dass Zarathustra keine Theorie ist, sondern ein Affront an die „Moral“ (aber auch darüber kann man lange streiten). So mangelt es in der Tat noch heute an einer germanistisch-stilistischen (!) Analyse des Weiber-Kapitels („Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“). Meiner Ansicht nach versucht Nietzsche hier eine Art „Rollenprosa“ zu schreiben, die in ihrer Art aus dem Buch herausfällt - und also ganz anders gedeutet werden müsste, als es bisher getan wurde.

Worauf ich letztlich hinaus will, ist, dass Nietzsche nicht immer das, was er sagt, auch wirklich meint, sondern mit Absicht den Leser verwirrt, um ihm neue Einsichten zu ermöglichen. Das trifft meiner Meinung nach auch stellenweise für „Ecce Homo“ zu.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Worauf ich letztlich hinaus will, ist, dass Nietzsche nicht
immer das, was er sagt, auch wirklich meint, sondern mit
Absicht den Leser verwirrt, um ihm neue Einsichten zu
ermöglichen. Das trifft meiner Meinung nach auch stellenweise
für „Ecce Homo“ zu.

Ja, verwirren, auf eine außerordenltich faszinierende Weise :wink:
Erstaunen und Verwunderung, bisweilen die Frage, ob der dies
denn wirklich ernst meine… und wozu? Damit sich der Leser
mehr oder weniger selbst erkenne (ich weiß, er hielt nicht
viel von Erkenntnis; das Leben war ein Mittel, eine Methode
zur Erkenntnis; den Begriff laß ich jetzt so stehen).

Ansonsten wird die Seminararbeit zeigen, welche Worte
unerläßlich zur Beschreibung/ Analyse von EH sind. Möglicher-
weise getrieben durch die berühmte Inspiration? Man wird
sehen. Bis dahin muß ich mich noch vergewissern,daß es tat-
sächlich noch keine wirkliche germanistische Interpretation
des ganzen gibt; abgesehen von Stil- und Strukturanalysen.

Also, danke noch einmal, heute ist ja das „große Finale“.