Nochmal Reich und Marcuse

@ Nescio, Frank und alle die’s interessiert: Damit keine Mißverständnisse auftreten - für mich als Arzt und Analytiker war der Arzt und Analytiker a) von Anfang an spannend und b) natürlich die „leichtere Übung“ gegenüber Theoretikern wie Marcuse.
Erstens war Reich gut zu lesen, er schreibt einfach, klar und verständlich, in gewisser Weise einfacher / schneller verständlich als Freud, der auch schon sehr klar schrieb. Anfang der 70er Jahre war Reich wie Freud mein „Guru“, unser Guru, die wir zwischen der 68er und der intellektuelleren Hippie-Szene angesiedelt waren.
Aber dadurch, dass ich Reich so gut lesen konnte, konnte ich natürlich nicht nur seine Stärken, sondern auch seine Schwächen besser erkennen als bei den abstrakteren Philosophen. Ich las fast alles von Reich, aber vegelichsweise wenig von Marcuse, weil Marcuse für mich einfach schwerer zu verstehen war.
Ich bin also alles andere eher als ein Verächter oder gar Gegener von Reich, ich wundere mich nur, dass einige Leute (die eigentlich eher bei den Philosophen zuhause sind) größere Stücke auf Reich halten als auf Marcuse. Das kommt mir so ein bißchen so vor, als wenn der studierte Jurist Köhnlechner unbedfingt in die Medizin will und dann eben Heilpraktiker wurde und als solcher auch noch berühmt, obwohl er wahrscheinlich ein besserer Jurist gewesen ist.
Es grüßt Euch Branden

Freud und Reich
Hallo, Branden,

gut, dass du nochmal neu ansetzt. Ich hatte gestern eine www-Auszeit
und sehe jetzt, dass inzwischen so viel geschrieben wurde, dass die
Übersicht verloren zu gehen droht.

Anfang der 70er Jahre war Reich wie Freud mein „Guru“…
Ich las fast alles von Reich, aber vegelichsweise
wenig von Marcuse, weil Marcuse für mich einfach schwerer zu
verstehen war.
…ich wundere mich nur, dass einige Leute
(die eigentlich eher bei den Philosophen zuhause sind) größere
Stücke auf Reich halten als auf Marcuse.

Marcuse ist - zugespitzt gesagt - ein „dialektischer“ Trickser.
Ein Heidegger-Schüler, kein Kliniker wie Reich und Freud, nicht
einmal „Laienanalytiker“ wie etwa Fromm, hat Marcuse in seinen späten
Jahren aus Freuds _Todes_triebtheorie plus Marx und anderen
Zutaten eine vermeintlich „_lebens_bejahende“ (Gesellschafts-
)Theorie aus dem Hut gezaubert und wurde damit zum „Guru“ der 68er.
Die hatte ihre Attraktivität und hat sie, zugegeben, eigentlich noch
heute angesichts des ideologischen „roll back“ seither (s.u.).

Trotzdem halte ich Freud für einen wichtigeren Kopf als Marcuse und
desghalb den Konflikt Freud vs. Reich, insbesondere die Art, in der
Freud Reich ausbootete, für interessanter als Marcuse vs. Reich.
Du schriebst, intrigantes Taktieren war nicht Freuds Stil. Das meine
ich auch. Aber gerade die inzwischen gut belegte Tatsache, dass Freud
im Falle Reich, anders als bei all den anderen Dissidenten der
Psychoanalyse, seinen Stil selbst brach, weist doch auf die Brisanz
des (verborgen gehaltenen) Konflikts hin. Daran sollte man sich auch
nicht irre machen lassen dadurch, dass Reich auch nach seinem
Ausschluss aus DPG und IPV positiv über Freud sprach.

Weil Freud und die IPV den Ausschluss damals unter der Decke halten
wollte und nicht (bzw. falsch: als kurze Notiz über Reichs
„Austritt“) publizierte, hat Reich übrigens selbst schon damals die
ihm bekannten Hintergründe publiziert:
http://www.lsr-projekt.de/zpps/zpps5.html#ausschluss
Inzwischen sind eher zufällig aus den teilweise stark behüteten psa.
Archiven weitere Belege ans Licht gekommen, die Reichs Darstellung
bestätigten und erweiterten, und diese Belege sind von Nitzschke,
den Du fälschlicherweise als „Reichianer“ bezeichnet hast, und
anderen Autoren, die ebenfalls keine „Reichianer“ sind, in dem
Buch „Der ‚Fall‘ Reich“ gesammelt. Näheres zu dem Buch:
http://www.lsr-projekt.de/wrfall.html

Was soll das Ganze im Philosophie-Brett ?
Hier geht es nicht um die Psychologen/Kliniker Freud und Reich,
sondern um Freud als geistesgeschichtlich, auch philosophisch
prägende Gestalt des 20. Jahrhunderts
– und in dem Zusammenhang
um einen wenig bekannten, gleichwohl grundsätzlichen Konflikt über
Freuds anthropologische Grundauffassung („Menschenbild“), dessen
Brisanz Freud selbst deutlicher erkannt zu haben schien als Reich.

Für jeden, der sich weder durch die „postmodernen“ noch durch andere
derzeit akademisch „modernen“ Philosophien von den Problemen, die im
„Freudomarxismus“ verschiedener Schulen noch virulent waren und dann
ad acta gelegt worden sind, hat abbringen lassen, ist der „Fall
Reich“ sicher recht lehrreich.

Gruss
Nescio

Lieber Nescio,
hab Dank für Dein detailliertes neues Posting!

Trotzdem halte ich Freud für einen wichtigeren Kopf als
Marcuse

Ohne Frage, völlig d’accord.

Freuds anthropologische Grundauffassung („Menschenbild“),
dessen
Brisanz Freud selbst deutlicher erkannt zu haben schien als
Reich.

Interessanter Gesichtspunkt; glaube ich auch.
Man kann Reich ja wahrscheinlich doch garnicht unter die Philosophen einordnen, dazu war er philosophisch zu - naiv, oder ?
Hab mir den „Fall Reich“ auch schon betellt. Antiquarisch, schön billig.:wink:
Gruss, Branden

Hallo, Branden,

Man kann Reich ja wahrscheinlich doch garnicht unter die
Philosophen einordnen, dazu war er philosophisch zu - naiv,
oder ?

Nun, was heisst das schon ?
Freud hielt ja bereits sehr wenig von den Philosophen, und dies
nicht, weil er zu blöd für deren Hervorbringungen war.
Reich ist ihm darin gefolgt.
War denn Reich 1933 naiv, als er seine „Massenpsychologie“ schrieb ?
Eher die meisten Anderen, incl. Freud (und der damals
politisch blinde heideggernde Marcuse), insbesondere die Berufs-
Philosophen, die man ja vom Vorwurf der Weltfremdheit meist nicht
freisprechen kann.

Freud und Reich gelten beide nicht als Philosophen.
Aber ihr Denken war weit realistischer, erfahrungsgesättigter etc.
als das vieler Philosophen. Und zumindest Freud hat, wie auch
Nietzsche (den die Zunft auch lange nicht als Philosophen gelten
lassen wollte) und Marx (etliche Jahrzehnte lang sehr intensiv und
wirkungsmächtig), das Denken des 20. Jh. mehr geprägt als Figuren wie
Husserl, Heidegger e tutti quanti.

Gruss
Nescio

Hallo Nescio

War denn Reich 1933 naiv, als er seine „Massenpsychologie“
schrieb ?

Soziologisch und Sozialpsychologisch war er alles andere als naiv; aber ich w+ürde ihn nicht als „philosophisch relevant“ bezeichnen, ganz im Gegensatz zu Freud, der selbstredend philosophisch relevant ist. Viel mehr als z.B. C.G. Jung, der sich mehr als Philosoph emfand, aber weniger einer war (er war nur ein wenig mehr in östlicher Philosophie und Religion gebildet).
Berufs-

Philosophen, die man ja vom Vorwurf der Weltfremdheit meist
nicht
freisprechen kann.

Sehe ich ähnlich!

Freud und Reich gelten beide nicht als Philosophen.

Freud viel eher, und zurecht. Wiegesagt: Ich schätze Reich, aber zum philosophischen „Grundgestein“ fehlt ihm (im Gegensatz zu Freud) etwas.
Gruss, Branden

Hallo Branden,

@ Nescio, Frank und alle die’s interessiert: Damit keine
Mißverständnisse auftreten - für mich als Arzt und Analytiker
war der Arzt und Analytiker a) von Anfang an spannend und b)
natürlich die „leichtere Übung“ gegenüber Theoretikern wie
Marcuse.

Kann ich leider nicht beurteilen. Fraglich stimmt mich aber, welchen Zweck seine Psychoanalyse heute noch hat (so, wie ich das gelesen habe). Die Menschen werden zusehends selbstbewuster und können sicher auch mit ihrem Unterbewusstsein selbst arbeiten. M.E. liegen psychische Störungen nicht uin einer „Psyche“ (Seele) sondern eher in der Denkweise.
Gerade durch Werbung u.ä. wird der Geist dermassen stark aktiviert, um nicht auf Unsinn hereinzufallen, dass die Wahrnehmung sehr geschärft wird. Man achtet stärker als früher auf Details, kann sich im Gegenzug z.B. via i-net Meinungen anderer zu Gemüte führen. „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“ - mittlerweile im D-Zug-Tempo.

Erstens war Reich gut zu lesen, er schreibt einfach, klar und
verständlich, in gewisser Weise einfacher / schneller
verständlich als Freud, der auch schon sehr klar schrieb.
Anfang der 70er Jahre war Reich wie Freud mein „Guru“, unser
Guru, die wir zwischen der 68er und der intellektuelleren
Hippie-Szene angesiedelt waren.

Imho war die 68´iger Szene Ideologie pur. Verdrehter „Marxismus“ auf alle Fälle.
Wenn Marx, dann restlose Verabschiedung von „Marxismen“ aller coleur und hin zu den theoretischen Grundlagen materialistischer Dialektik. Damit werden Marxens Aussagen von selbst verständlich. Also „denken lernen“ (wer denkt, dass er denkt, der denkt nur, dass er denkt).

Aber dadurch, dass ich Reich so gut lesen konnte, konnte ich
natürlich nicht nur seine Stärken, sondern auch seine
Schwächen besser erkennen als bei den abstrakteren
Philosophen. Ich las fast alles von Reich, aber vegelichsweise
wenig von Marcuse, weil Marcuse für mich einfach schwerer zu
verstehen war.

Sieh Reich bitte aus dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Entwicklung. Es muß noch nicht alles eingetreten sein, was er prognostiziert hat.

Ich bin also alles andere eher als ein Verächter oder gar
Gegener von Reich, ich wundere mich nur, dass einige Leute
(die eigentlich eher bei den Philosophen zuhause sind) größere
Stücke auf Reich halten als auf Marcuse. Das kommt mir so ein
bißchen so vor, als wenn der studierte Jurist Köhnlechner
unbedfingt in die Medizin will und dann eben Heilpraktiker
wurde und als solcher auch noch berühmt, obwohl er
wahrscheinlich ein besserer Jurist gewesen ist.

Nicht „Stücke halten“, hier gehts um die Denkweise. Wenn ich schlecht wäre, würde ich behaupten, Leute wie Marcuse wurden in den USA dazu ausgebildet, um die 68´iger abzuwürgen. Etwas, was materialistischer Dialektik erntsprechen würde, habe ich weder bei dem noch bei Adorno oder Horkheimer gefunden.
Muß nicht sein, kann auch unterentwickelte Denkweise der damaligen Zeit sein. Man sah wohl, ähnlich einer DDR, Kommunismus als Doktrin, nicht als tatsächliche Entwicklung. Aber das führt schnurstracks zur Ideologisierung.

btw: die stellst sehr oft Antagonismen dar oder weisst darauf hin. Ich wäre mir fast sicher, dass du (unbewusst) auch anhand derer denkst statt ontologischer Begriffe.
Witzigkeit, Heiterkeit sind ein Indiz dafür. Siehe Gerhard Branstner „Das System Heiterkeit“
Mal so ganz trocken betrachtet :smile:
Ein weiteres, dass dir Reich leicht viel.

Gruß
Frank

Hi,

noch anbei ein Textlink über Marcuse: http://www.sopos.org/aufsaetze/410a9d4c2c4db/1.phtml

Gruß
Frank

Warum ich nicht Philosoph geworden bin
Fraglich stimmt mich aber,

welchen Zweck seine Psychoanalyse heute noch hat (so, wie ich
das gelesen habe). Die Menschen werden zusehends
selbstbewuster und können sicher auch mit ihrem
Unterbewusstsein selbst arbeiten.

Da bin ich mehr als skeptisch, Frank. Ich denke, da überschätzt Du die Macht des Bewußtseins. Auch die Macht des Ich.
FREUD sagte mal treffend, das ICH spiele nur die Rolle des dummen August im Zirkus. Ich weiß, was er meint. Wir machen uns alle ständig vor, was / wer / wie drauf wir gerade sind. In der tieferen Ebene kriegen wir kaum die Kurve damit. In den Träumen meiner Patienten kann ich oftmals besser ihre Ängste, Wünsche, Sehnsüchte u.a.m. lesen als in den bewußten Aussagen.

btw: die stellst sehr oft Antagonismen dar oder weisst darauf
hin. Ich wäre mir fast sicher, dass du (unbewusst) auch anhand
derer denkst statt ontologischer Begriffe.

Das ist mir wiedrum zu abstrakt. Ich schaue und höre und rieche die Dinge und die Menschen und die Orte. Vor allem spüre ich, was gerade real läuft irgendwo, wo ich bin. Kommuniukation zwischen Anwesenden usw. Da hab ich die nötige Intuition. Aber abstrakte Dinge wie Mathematik, Dialektik, ontologische Betrachtungen - das sagt mir nicht richtig was. Insofern bin ich vielleicht ein sinnlicher Materialist, aber mit dem anderen Zeugs kann ich nix anfangen. Ich verstehe es einfach nicht.
Vielleicht liegen mir daher biologisch-medizinisch-psychologische Herangehensweisen eher. Vielleicht bin ich darum letztlich doch nicht Philosoph geworden, weil mir das zu abstrakt war. Und was abstrakt ist, riecht mir verdächtig nach „nicht real“. Das ist aber ein ganz persönliches Statement und nicht „objektiv“ gemeint. Ich achte und interessiere mich nach wie vior für Philosophen. Wie Du merkst.
Gruss, Branden