Objektiv und subjektiv gute Musik?

Hallo liebe Musikliebhaber,
gerade habe ich mich mit einem Freund ueber die Qualitaet von Musik gestritten
und wir sind an einer Frage haengen geblieben, zu der ich gerne mehr Meinungen
hoeren moechte. Mein subjektives Erlebnis in groben Zuegen: Ich hoere sehr gerne
unbekanntere Komponisten, weil ich finde, dass sie teilweise unterschaetzt bzw.
die bekannten Komponisten im Vergleich ueberschaetzt werden. Hierbei stosse ich
immer wieder auf Stuecke, die ich subjektiv einfach als grandios beschreiben
moechte, weil sie mir unter die Haut gehen. Ein Beispiel sind die Symphonien von
R. Gliere.
Hingegen kann ich mit den Klassikern, insbesondere Beethoven und Mozart, noch
nichts anfangen - sie sagt mir einfach nichts (vermutlich kommt das noch; mit
Schubert konnte ich vor einigen Jahren auch noch nichts anfangen und
mittlerweile liebe ich seine Musik).
Neben dieser gefuehlsmaessigen, also rein subjektiven Wahrnehmung meine ich aber
auch eine objektive Wahrnehmung zu haben. Demnach erkenne ich, dass z.B. R.
Gliere hervorragend orchestrieren kann, dass aber das thematische Material eher
duerftig ist. Ich wuerde nach diesem „objektivem“ erleben immer sagen, dass es
seine Berechtigung hat, dass Herr Gliere nicht so bekannt geworden ist. Hingegen
meine ich in der Musik Beethovens oder auch Mozarts ein extremes Genie zu
erkennen, auch wenn sie mir „nichts sagt“. Ich kann also eine zumindest
scheinbar objektive Wertung vornehmen, nach welcher Mozart, Beethoven, Bruckner,
Brahms etc. sehr hochrangige, erstklassige Musik geschrieben haben. Hingegen
wuerde ich gefuehlsmaessig Richard Strauss (der ja im Grunde nicht minder
bekannt ist) eher als zweitklassigen Komponisten einordnen, obwohl er fast mit
Abstand mein Lieblingskomponist ist (Gliere waehre auf der Skala eher ein
drittklassiger Komponist).
Die Frage ist also: liegt das daran, dass einem eben schon immer eingeblaeut
wurde, dass Beethoven und Mozart, Bruckner und Brahms die Komponisten
ueberhaupt waren? Ist das also Praegung? Oder ist man tatsaechlich zu einem
gewissen Grad objektiv in der Lage, Genie, also ein grosses Koennen bzgl. Form,
Thematik, Kontrapunktik, Orchestrierung etc. zu spueren, obwohl man es
vielleicht (wie in meinem Fall) nie gelernt hat?
Ich bin gespannt auf Eure Meinung!

Christian

Hallo Christian,

neulich durfte ich mit Ralf eine ähnliche Diskussion führen. Vielleicht kann sie dir als eine weitere Anregung dienen:

http://www.wer-weiss-was.de/cgi-bin/forum/showarchiv…
(und weitere Postings im Thread)

Gruß

Die Frage ist also: liegt das daran, dass einem eben schon
immer eingeblaeut
wurde, dass Beethoven und Mozart, Bruckner und Brahms
die Komponisten ueberhaupt waren?

Das spielt sicher eine große Rolle. Ich möchte jetzt die von Dir genannten Komponisten nicht beurteilen, da ich mit Klassik im allgemeinen eher wenig anfangen kann und daher viele Deiner Beispiele entweder gar nicht oder nur dem Namen nach kenne. Aber solche Prägungen sind mir auch aus dem Schlager- und Volksmusikbereich nur zu bekannt (wenn z. B. die Geschwister Hofmann oder Stefanie Hertel in fast jeder Sendung auftreten und als DIE großen Stars gefeiert werden, während man z. B. Janis Nikos oder Mark Lorenz - die meiner Meinung nach auch super singen können - so gut wie nie zu sehen bekommt).
Ich bin auch der Meinung, dass es nur begrenzt möglich ist, Musik objektiv als gut einzustufen, z. B. wenn ein Sänger oder Musiker seine Stimme bzw. sein Instrument eben besonders gut beherrscht. Wer soll darüber hinaus die Kriterien festlegen, nach denen dann ein Lied gut oder schlecht zu sein hat? Ich finde, gut ist, was gefällt, da beim Musikhören der Verstand eher eine untergeordnete Rolle spielt, sondern vielmehr das Gefühl angesprochen wird. Und das reagiert eben bei jedem Menschen oder jeder Gemütsverfassung auf andere Musik.

Hi Christian -

ich antworte Dir als Nichtmusiker, der aber ohne seine CD-Sammlung sehr, sehr unglücklich wäre, wobei meine Vorlieben quer durch die Zeiten und Stile mäandern (auch in der sog. ‚Klassik‘). In der orchestralen Klassik bevorzuge ich Programmusik vor allem anderen, womit ich natürlich zumeist stilistisch unweit der Romantik liege. Absolute Musik liegt mir nur selten.

Ich denke, daß man mit einer gewissen Hörgewohn(t)heit (ich meine damit aufmerksames Zuhören, kein Dudelnlassen nebenher) Vergleichswerte ansammelt und nach einiger Zeit in der Lage ist, rein Reproduktives von Besonderem zu trennen. Auch bestimmte aufwendigere oder anspruchsvollere Kompositionstechniken mag man (vor oder nach dem Nachlesen im Booklet) erkennen lernen. Andererseits ist das, ganz ehrlich, nicht mein Hauptkriterium bei der Einstufung dessen, was ich subjektiv mag. Es gibt einige recht eingängige und ganz bestimmt nicht sehr komplex strukturierte Tänze von Tschaikowsky oder Grieg, die ich sehr schätze, und manches gewiß hochgradig Spannende und Innovative von Strawinsky läßt mich absolut kalt. Ich glaube auch nach über 20jährigem Sammeln klassischer Musik nicht unbedingt, daß ich über Musiktheorie mitdiskutieren kann, aber das wache Ohr für die Dynamik von Rhythmus, Klangfarbe, Melodie etc. ist schon da. Vielleicht liegt das aber auch an meinem Zugang zur Klassik, der immer auch an den Bezügen der Musik zu außermusikalischer Programmatik orientiert ist, und das ist ein ganz eigenes Kriterium.

Gruß

Pengoblin

Hallo,

ich möchte noch zu bedenken geben, dass man beim Ausdruck „gut“ unterscheiden muss zwischen „als gut empfunden“ und „gut gemacht“. Objektive Kriterien gibt es - wenn überhaupt - dann nur für „gut gemacht“. Gut gemacht ist etwas - grob gesagt - dann, wenn ihm ein Prinzip zugrunde liegt, das durchgehalten wird. Daher kann also auch etwa ein Schlager gut gemacht sein, wenn er ein Prinzip besonders künstlerisch und originell (im Sinne von „individuell“, also nicht abgeschaut bei Anderen) vorstellt (Beispiele „Wunder gibt es immer wieder“, „Griechischer Wein“). Die verschiedenen Genres sind dabei nur sehr bedingt vergleichbar.

Manche Musik muss man auch „lernen“. So habe ich drei Anläufe gebraucht, um „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner zu mögen, heute aber würde ich etwas vermissen, wenn ich mir vorstelle, das Werk nicht kennen gelernt zu haben. Objektiv gute Musik hat also auch einen Erkenntnisaspekt, der über den bloßen Gefallensaspekt hinausgeht.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo,

So habe ich drei Anläufe
gebraucht, um „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner zu
mögen,

dann hab ich vielleicht doch noch eine Chance :wink:
Ich hab die von Dir empfohlene Aufnahme inzwischen gehört, habe aber weiterhin so meine Probleme mit Wagner (bzw. mit dessen Vokalmusik).
Aber ich geb ihm irgendwann noch mal ein Chance.

Gandalf

Hallo,

dann hab ich vielleicht doch noch eine Chance :wink:

na, das hoffe ich doch!!!

Ich hab die von Dir empfohlene Aufnahme inzwischen gehört,
habe aber weiterhin so meine Probleme mit Wagner (bzw. mit
dessen Vokalmusik).

Ich hoffe, du meinst wirklich mit dem, was dir gefällt, Wagners Instrumentalmusik (und nicht die unsäglichen Zerschnippelungen der Bühnenwerke). Ich vermute allerdings, dass du dann enttäuscht wärest, weil kaum ein Instrumentalwerk Wagners an die Bedeutung seiner Vokalmusik heranreicht.

Siehe:
http://home.t-online.de/home/g.diesinger/instvok/wwv…

Etwas ausführlicher:
http://www.klassika.info/Komponisten/Wagner/wv_wvz1…

Noch ausführlicher:
http://www.notanorm.de/nnArtDtl.htm?aid=90077

Und/oder: http://www.jpc.de
(-> Stichworte „wagner klavierwerke“ und „wagner orchesterwerke“)

Aber ich geb ihm irgendwann noch mal ein Chance.

Warte ein bisschen. Erst verdauen.

Herzliche Grüße

Thomas

Hallo Thomas,

Ich hoffe, du meinst wirklich mit dem, was dir gefällt,
Wagners Instrumentalmusik

schon schon, allerdings

(und nicht die unsäglichen
Zerschnippelungen der Bühnenwerke).

Die erste Platte (damals noch in Vinyl), die ich von Wagner hatte, war eine Sammlung von Opernvorspielen (alle Aufnahmen von Böhm).
Das war eine Sonderedition zu irgend einem Geburtstag von Böhm, die von der DG herausgegeben wurde.
Diese Aufnahmen haben mir Wagner überhaupt erst nahegebracht. Daraufhin hab ich mir von meinem Musiklehrer zwei Opern von Wagner ausgeliehen (ich glaube es war der Tannhäuser und die Meistersinger), konnte allerdings üüüüberhaupt nichts damit anfangen. Da ich aber generell mit Opern und Gesang meine liebe Not hab, ist das nicht spezifisch für Wagner. Es gibt (bisher) keine Oper, die mich richtig umgeworfen hat.

Gandalf

Hi,

Da ich aber generell mit Opern und Gesang meine
liebe Not hab, ist das nicht spezifisch für Wagner. Es gibt
(bisher) keine Oper, die mich richtig umgeworfen hat.

ein Vorschlag für die Annäherung:

Die Kombination „Vorspiel und Liebestod“ aus dem Tristan vereinigt Anfang und Schluss der Oper, allerdings mit der für dich vielleicht hilfreichen Ersetzung der Sopranstimme Isoldens durch ein Cello (!). Dadurch wird dieser Ausschnitt rein instrumental. Möglicherweise hilft dir diese Brücke hinüber, wenn du jetzt oder später beides (diese Fassung und die Ouvertüre mit gesungenem Schluss) vergleichend hörst. Diese Fassung ist auch von Wagner „abgesegnet“ worden, indem er sie 1863 selbst dirigiert hat.

Herzliche Grüße

Thomas

Sonst müssen wir ins Plauderbrett

Tach Thomas,

ein Vorschlag für die Annäherung:

genau diese Kombination war auf der Platte von Böhm drauf und hat mich für Wagner gefangengenommen.
Aber vielleicht muß ich nur noch älter werden um die Opern schätzen zu können.
Bei Mozart (allgemein) geht es auch gerade erst los.

Gandalf

Lieber Christian,
diese Frage hat mich im Alter von ca. 17 Jahren auch sehr bewegt und mir viel Kummer bereitet. Damals verbaute mir der Gedanke z. B. bei Beethoven „das ist große Musik, ich muss das gut finden“ völlig einen unverkrampften Zugang zu der Musik, während ich umgekehrt mir nicht erlaubte, einen Schlager schön zu finden, da er ja „minderwertig“ ist. Inzwischen habe ich diese Verkrampfung abgeschüttelt.
Ich bin jetzt sehr dankbar über meine „musikalische Erziehung“ in meinem Elternhaus, denn ich merke, dass ich wunderbare Arten von „Genüssen“ empfinden kann, die leider vielen anderen Menschen verschlossen sind, die nicht das Glück hatten, so viel über Musik zu lernen.
Vielleicht kommt man mit deiner Frage weiter, wenn man mehrere Ebenen annimmt: Ein Schlager kann gut sein, weil er aus einem winzigen tollen Motiv besteht, dass einen „trifft“, meist allerdings nach mehrmaligen hören schnell anfängt zu langweilen.
Wie du selbst sagst kann ein Werk toll orchstriert sein und sonst Mängel haben.
Eine Klaviersonante von Beethoven kann einen durch ihren komplexen Aufbau ungeheuer faszinieren ohne einen klanglich mitzureißen.
Schließlich beeindrucken mich Werke, die (zu ihrer Zeit) etwas völlig Neues enthalten und andere Musik prägen.
Ich finde es wichtig, sich selbst nicht für den klügsten Kritiker zu halten und klugen Büchern und Menschen zu glauben, dass ein Werk „gut“ ist, sich aber andererseits das Recht zu nehmen, mit diesem „guten“ Werk nichts anfangen zu können, ohne sich dabei schlecht zu fühlen.
Ich glaube, ein (recht subjektives) Kriterium für mich ist: „gut“ ist für mich Musik, die ich auch nach mehrmaligem Hören immer noch gut oder auch erst dann gut finde (und die hat fast immer einen irgendwie interessanten inneren Aufbau, Struktur: also Gefühl und Verstand zusammen!)
Viele Grüße!
ein anderer Christian