Paul Gerhardt: Geh aus

Hallo,

ich habe Fragen zu einer Strophe aus „Geh aus, mein Herz“, nämlich folgender:

Die Bächlein rauschen in dem Sand
und malen sich an ihrem Rand
mit schattenreichen Myrten;
die Wiesen liegen hart dabei
und klingen ganz vom Lustgeschrei
der Schaf und ihrer Hirten.

  1. „Die Bächlein malen sich an ihrem Rand mit Myrten“: Eigenartige Satzkonstruktion. Ist das dichterische Freiheit von Paul Gerhardt, oder gibt es das? Ich würde es deuten als „sie bemalen sich am Rand mit Myrten“, und sinngemäß kommt das sicher hin. (Oder: „Sie malen sich (ihre Konturen) mit Myrten in den Sand“?) Aber vielleicht kann jemand den seltsamen Gebrauch „sich malen mit…“ zusammen mit der Ortsangabe „an ihrem Rand“ noch irgendwie erhellen.

  2. „schattenreiche Myrten“: Die echte Myrte ist ja nun eine mediterrane Pflanze. Welche Pflanze könnte Gerhardt gemeint haben? Was wurde als Myrte bezeichnet und passt zum schattigen Bachufer? Oder gibt genug Schatten, um als schattenreich bezeichnet zu werden?

  3. „liegen hart dabei“: hart dabei = nah dabei, dicht dabei. Oder?

Danke für Erhellung,

Jule

Nachtrag Myrte
Ich habe selbst noch im Grimm unter „Myrte“ nachgeschaut, fand das aber auch nicht wirklich hilfreich:

  • Die mediterrane Myrte wird literarisch durchaus genannt, hier ist auch die paul-Gerhardt-Strophe zitiert. Nennt er sie evtl. wegen ihres Symbolgehalts und ist hier nicht botanisch genau?

  • Ansonsten werden noch einige andere Pflanzen irgendwie als Myrte bezeichnet. Grimm nennt Myrica communis, zu der ich nicht allzuviel gefunden habe.
    Hier ist noch eine Liste möglicher „Myrten“: http://www.myrtus-communis.de/botanik/namensgleichhe…
    Botaniker ins Deutschbrett, bitte. Falls botanische Erwägungen überhaupt Sinn haben.

Viele Grüße,

Jule

Hallo.

Ein ausgesprochen blöder schwülstiger Text, von jemand dem es auf Genauigkeit nicht ankam.

Dichterische Freiheit also. wenn nicht dichterische Dummheit.

Das Lustgeschrei der Hirten möchte ich mal hören.

Gruß, Nemo.

Die Bächlein rauschen in dem Sand
und malen sich an ihrem Rand
mit schattenreichen Myrten;
die Wiesen liegen hart dabei
und klingen ganz vom Lustgeschrei
der Schaf und ihrer Hirten.

Hallo Jule,

den Quatsch, den Nemo geschrieben hat, vergessen wir mal ganz schnell (am besten noch vor dem Lesen!)
Bei all diesen Liedern dürfen wir nicht vergessen, dass sie, damit sie gesungen werden können, einem bestimten Rhythmus folgen müssen, und das in jederStrophe! Darum sollte man nicht allzu große Anforderungen an Logik und Stringens stellen.
„Malen sich an ihrem Rand“ interpretiere ich so: Sie bilden sich ab, formen sich am Ufer, und die Myrten hat Gerhardt gebraucht, weil sie sich auf Hirten reimen. Tulipan, Rosen, Nelken (Nägelein) tun das ja eher nicht.

  1. „schattenreiche Myrten“: Die echte Myrte ist ja nun eine
    mediterrane Pflanze. Welche Pflanze könnte Gerhardt gemeint
    haben? Was wurde als Myrte bezeichnet und passt zum schattigen
    Bachufer? Oder gibt genug Schatten, um als schattenreich
    bezeichnet zu werden?

  2. „liegen hart dabei“: hart dabei = nah dabei, dicht dabei.

Ja, genau das: nahe und dicht dabei.

Gruß - Rolf

Hallo Jule,

den Quatsch, den Nemo geschrieben hat, vergessen wir mal ganz
schnell (am besten noch vor dem Lesen!)

Da hast du wahrlich recht! Nehmen wir statt dessen lieber den Quatsch, den du hier schreibst!

Gruß, Nemo.

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Hallo Rolf,

(und natürlich auch Jule und Nemo und alle anderen Leser),

ja, Logik und Stringenz nur cum grano salis - auf Barock halt. Aber beliebig ist diese Zusammenstellung keinesfalls: Mitte des 17. Jahrhunderts ist das Konzept des barocken Gesamtkunstwerks schon so weit entwickelt, dass man in jedem Text, in jedem Musikstück, in jedem Gebäude umso mehr Symmetrien und innere Querbezüge entdeckt, je ausführlicher man sich damit beschäftigt.

Ich habe es mit dem Lied nicht getan, aber ich fände es nicht überraschend, wenn man in der Abfolge der Strophen ein Motiv dafür entdeckte, dass an dieser Stelle eine bukolische Idylle („hundert Jahre zu früh“) steht - das idealisierende Arkadien-Bild gab es bereits seit mindestens Anfang des 17. Jahrhunderts. Insgesamt drei Strophen mit Paradies-Verweisen, in gleichmäßigem Abstand jede fünfte, wäre schon einmal ein möglicher rechnerischer Ansatz.

Dass die Bächlein durch den Sand fließen (anstatt darin zu versickern), entspricht der Vorstellung, die man von Mittenwalde aus gesehen von einem Land haben konnte, das vielleicht eine Art Arkadien-Palästina ist - daher übrigens auch (wie ich meine) der Querverweis mit den Myrten, die im antiken Griechenland wohl zusammen mit Weihrauch rituelle Bedeutung hatten. Gleichzeitig die Myrte auch als Symbol für eine feste, dauerhafte Ehe gut dafür geeignet, die Frühlingsgefühle nicht überkochen zu lassen.

Jedenfalls ist das Bild, dass entlang eines Wasserlaufs in Wüste oder Karst ganz scharf abgegrenzt ein schmaler Streifen üppiger Vegetation steht, der dann unvermittelt in Sand, Schotter, Unland wechselt, und der Bach somit seinen eigenen Verlauf mit diesem üppigen grünen Gewucher „nachmalt“, für jemanden, der es allenfalls aus Beschreibungen kennen konnte, ziemlich eindrucksvoll gemalen.

Dass in dem Arkadien-Palästina, das ich Paul Gerhardt unterstelle, eher Schafe als die dort eigentlich zu erwartenden Ziegen unterwegs sind, mag dem hübscheren Bild geschuldet sein, das diese abgeben - und in erneuter Querverbindung wohl auch der größeren Popularität von Schafen im NT.

Das „Lustgeschrei“ der Hirten ist 350 Jahre Sprachentwicklung später schlicht ein freudiges Jauchzen, das wohl ungefähr so klingt: https://www.youtube.com/watch?v=fF1Z0WtvGxc

Schöne Grüße

MM

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Moin!

Ein ausgesprochen blöder schwülstiger Text, von jemand dem es
auf Genauigkeit nicht ankam.

Dichterische Freiheit also. wenn nicht dichterische Dummheit.

Das sehe ich ähnlich.

Das Lustgeschrei der Hirten möchte ich mal hören.

Na, vor allem war es ja
„Lustgeschrei
der Schaf und ihrer Hirten.“

Was man sich darunter vorzustellen hat… ?

Gruß, Fo

Danke für diesen überaus sachkundigen Beitrag. Eine echte Hilfe.

Viele Grüße,

Jule

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Hallo Rolf,

vielen Dank!

den Quatsch, den Nemo geschrieben hat, vergessen wir mal ganz schnell (am besten noch vor dem Lesen!)

was? wo? Ich kann mich an nichts erinnern…

Bei all diesen Liedern dürfen wir nicht vergessen, dass sie,
damit sie gesungen werden können, einem bestimten Rhythmus
folgen müssen, und das in jederStrophe!

Schon, aber Gerhardt ist ja sonst auch in der Lage, Reim und Metrum mit Grammatik und Sinn vernünftig zu verbinden.

„Malen sich an ihrem Rand“ interpretiere ich so: Sie bilden sich ab, formen sich am Ufer,

Ja, das ist vorstellbar. Danke!

und die Myrten hat Gerhardt gebraucht, weil sie sich auf Hirten reimen.

Oder andersrum?

  1. „liegen hart dabei“: hart dabei = nah dabei, dicht dabei.

Ja, genau das: nahe und dicht dabei.

Dann lag ich damit ja richtig, gut zu wissen.

Viele Grüße,

Jule

Hallo MM,

Ich habe es mit dem Lied nicht getan, aber ich fände es nicht
überraschend, wenn man in der Abfolge der Strophen ein Motiv
dafür entdeckte, dass an dieser Stelle eine bukolische Idylle
(„hundert Jahre zu früh“) steht - das idealisierende
Arkadien-Bild gab es bereits seit mindestens Anfang des 17.
Jahrhunderts. Insgesamt drei Strophen mit Paradies-Verweisen,
in gleichmäßigem Abstand jede fünfte, wäre schon einmal ein
möglicher rechnerischer Ansatz.

Stimmt, käme hin. Würde dann die offensichtliche Gliederung des Liedes in die zwei Teile „Gegenständliches, Sichtbares“ und „Übertragung aufs Himmlisches“ mit der Scharnierstrophe 8 überlagern, ergänzen, durchdringen (was auch immer).

Ich fand die Myrten einfach überraschend nach all den anderen Bildern, die so gut ins Brandenburgische passen: Laubbäume, im Sommer (!) grün werdender Boden, Narzissen, Tulpen, Lerche, Taube, Nachtigall, Hühner, Storch, Schwalben, Hirsche, Rehe, Wiesen, Schafe, Bienen, Weizen - beim Weinstock bin ich nicht so überzeugt. Aber Weinstock und Reben sind ja auf jeden Fall ein Christussymbol. Im Weizen dazu die Anspielung aufs Abendmahl.
Auch einige der Vögel sind wohl Symbole sowohl für Christus als auch für „die gläubige Seele“, sagt mir meine Lektüre.

Vielleicht sind die Myrten ja gerade deswegen der Verweis darauf: In der brandenburgischen Natur gibt’s mehr an Bedeutung zu sehen.

Ich hatte das Lied gerade aus Kindersicht betrachtet und bin deswegen zum ersten Mal über die Myrten gestolpert, die ich sonst ohne Nachdenken gesungen habe.

Gleichzeitig die Myrte auch als Symbol für
eine feste, dauerhafte Ehe gut dafür geeignet, die
Frühlingsgefühle nicht überkochen zu lassen.

Du meinst, eine Ermahnung an die Hirten, sich aufs Jodeln zu beschränken? :smile:

Jedenfalls ist das Bild, dass entlang eines Wasserlaufs in
Wüste oder Karst ganz scharf abgegrenzt ein schmaler Streifen
üppiger Vegetation steht, der dann unvermittelt in Sand,
Schotter, Unland wechselt, und der Bach somit seinen eigenen
Verlauf mit diesem üppigen grünen Gewucher „nachmalt“, für
jemanden, der es allenfalls aus Beschreibungen kennen konnte,
ziemlich eindrucksvoll gemalen.

Hm, aber da sind ja auch noch die Wiesen, die hart dabei liegen. Nun gut, vielleicht deswegen so „hart“ dabei.

Dass in dem Arkadien-Palästina, das ich Paul Gerhardt
unterstelle, eher Schafe als die dort eigentlich zu
erwartenden Ziegen unterwegs sind, mag dem hübscheren Bild
geschuldet sein, das diese abgeben - und in erneuter
Querverbindung wohl auch der größeren Popularität von Schafen
im NT.

Und natürlich in Ps 23.

Vielen Dank auch Dir!

Jule

Hallo Jule,

Ich hatte das Lied gerade aus Kindersicht betrachtet

je nach Alter und Disposition kann man sich als Kind, wie ich mich erinnere, schon ganz am Anfang an „Narzissen und Tulpen ziehen sich schöner an als Salomons Seide“ ausgiebig aufhalten: Salomons Seide zieht sich doch nicht an? Und ist „schöner“ jetzt als Adjektiv oder als Adverb zu verstehen? Der formale Gleichklang berechtigt eigentlich nicht, es gleichzeitig als beides zu verwenden.

Die großzügige Zusammenfassung der jahreszeitlichen Schönheiten von etwa März bis etwa August unter „Sommerszeit“ habe ich als Bub dem Paul Gerhardt auch bloß sehr ungern nachgesehen.

Schöne Grüße

MM

Hallo,

da sind die mich gerade anregenden Kinder erfreulicherweise großzügiger.
Auf die Myrten stieß ich selbst, weil ich im voraus überlegte, welche Worte die Kinder nicht kennen.

(Bisher kam nicht mal bei „das Täublein fliegt aus seiner Kluft und macht sich in die…“ die eigentlich unweigerliche Fortführung.)

Sommerliche Maigrüße,

Jule

Danke für diesen überaus sachkundigen Beitrag. Eine echte
Hilfe.

Oh bitte, gern geschehen!

Du wolltest wissen ob das Ganze, oder eigentlich das mit den Myrthen als dichterische Freiheit zu verstehen ist und diese Frage habe ich dir beantwortet.

Zusätzlich habe ich den naiv-dümmlichen Naturbetrachtungsstil des Barock kritisiert.

Ansonsten solltest du eventuell präzisere Fragen stellen und wenn es dir anscheinend wie hier um religiöse Inhalte oder mehr geht, im entsprechenden Religionsbrett.

Das was die anderen geschrieben haben, kann man übrigens mit Leichtigkeit ergoogeln, schon Wikipedia weiß Etliches.

http://de.wikipedia.org/wiki/Geh_aus,_mein_Herz,_und…

Im Übrigen hast du’s natürlich immer noch nicht richtig verstanden, die Myrthen, welche so natürlich nicht wachsen und die man ja auch als Brautkranz trug, sind da, um die Bäche moralisch von den hart dabei liegenden Wiesen abzugrenzen.

Könnten ja sonst auf dumme Gedanken kommen, diejenigen, die das singen.

Das mit dem Lustgeschrei war allerdings lediglich meine Ironie.

Gruß, Nemo.
Gruß, Nemo.