Philosophie und der 11.9

Fortsetzung des Gesprächs

*g* ich habe mein Posting polemischer gemeint, als es
angekommen ist:

Hast Du auch schon einmal an die Möglichkeit gedacht, dass Dein Posting weniger polemisch beantwortet wird als es ankommt? Es ist sogar immer noch ein wenig Lust übrig, mit einem gestandenen Polemiker den Gedankenaustausch fortzusetzen.

Du bist ja laut deiner ViKa kein Laie. Folglich wirst du mit
„Wahrheit“ hier nichts irgendwie Mysteriöses oder sogar
Religiöses gemeint haben. Folglich fragt deine Frage lediglich
danach, ob es wahr ist, daß seit dem 11.9. „ein Thema
derart einhellig zum Thema Nr. 1 gemacht“ wurde bzw wird.
Die Antwort ist: ja, es ist wirklich Thema Nr. 1 zur Zeit *lach*

Meinetwegen: Ich bin also kein Laie. (Seit ich Cusanus kenne - siehe ViKa -, ist mir „Laie“ allerdings zum Ehrentitel geworden; aber klammern wir das hier einmal ein.) Folglich weiß ich um eine Vielzahl von Wahrheitstheorien. Folglich ist mir klar, dass das Philosophieren keiner eindimensionalen Forschungsmethode unterliegt. Folglich denke ich nicht daran, „irgendwie Mysteriöses oder sogar Religiöses“ kurzerhand abzuqualifizieren und auszugrenzen. Folglich möchte ich mit der Frage nach der „Wahrheit des Phänomens“ schon etwas mehr zu denken geben als von Dir zunächst bekundet und belacht. Es freut mich aber, dass Du auch anders mitdenken kannst:

Das Entsetzen, der
Schrecken, die Verunsicherung der Existenz, der Tod, der
Schmerz des Verlustes usw. geht den Menschen wie jede andere
Kreatur „zutiefst“ an. Und das ist ein psychologisches
Phänomen.

Ob wirklich auch „jede andere Kreatur“ etwa der Schmerz des Verlustes zutiefst angeht? Ist es nicht ratsam, hier ein menschlich-allzumenschliches Geschick (Schicksal, Geschichte, Geschicklichkeit) zu bedenken, sowohl was die „Aktionen“ als auch was die „Reaktionen“ anbelangt? - Immerhin scheinst Du ja das Psychologische als eine Dimension zu verstehen, die den Menschen und jede andere Kreatur umfasst. Wie wäre es aber nun, wenn wir über die (psychologischen) Gemeinsamkeiten hinaus einen Blick auf das spezifisch Menschliche riskieren wollten? Zum Beispiel eben auf die doch sehr spezifisch menschlichen Umstände des Ereignisses vom 11. September? Ich möchte unter uns mehr oder weniger philosophisch „Angehauchten“ dafür werben, derartige Fragen ähnlich wie die betreffenden Umstände einfach mal für eine Weile sich auf unsere (nicht psychische, sondern) „geistige
Verfassung“ auswirken zu lassen? Vielleicht frage ich noch nicht radikal und phänomenal genug. Was sollen Antworten, solange die Frage noch gar nicht steht?

Ich weiß nicht, was ein philosophischer Themenkreis sein soll.

„Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“, „Kritik der Urteilskraft“ - in diesen drei Werken zum Beispiel sehe ich eine Darstellung des philosophischen Themenkreises.

Aber daß der Mensch selbst Urheber größten Entsetzens ist bzw.
sein kann… wolltest du das zum Gegenstand einer
„philosophischen“ Frage machen?

Wie schön, dass Deine polemische Energie Deine kooperative Ader nicht abgeklemmt hat :wink:

Warum hast du das dann nicht
so formuliert?

Weil ich auch in dem Verweis auf das „Nichts ist ungeheurer als der Mensch“ nur eine Komponente von dem vermute, was vielleicht die Stunde geschlagen hat.

Differenzierungen sind zum differenzierteren Denken da. Darauf
zu verzichten bedeutet, den „philosophischen Themenkreis“ (??)
zu verlassen.

Dann differenzieren wir doch mal zwischen Psychologie und „Humanpsychologie“! Ich wage die These, dass wir dann am Ende den in Anführung gesetzten Verlegenheitsausdruck am besten durch „Philosophie“ ersetzen. Wir werden differenzierend zu Werke gegangen sein, um zu der Einsicht zu kommen, dass wir nicht länger auseinanderdividieren sollten, was zusammengehört: die wissende Unwissenheit und die menschliche Situation.

Hi Fleischfresserin *zinker*

Die Philosophie wird in den Niederungen des aktuellen Geschehens betrieben. Wo sonst!?

Für diese Formulierung kriegst Du ein Sternchen!

Gruß
Metapher

Fähigkeit der Vernunft
Hi Carnivora

Jedenfalls ginge diesem „Thema“ wohl voraus, ob Empirisches Nicht-Empirisches beeinflussen kann. Oder?

Das wäre also ebenfalls ein interessantes Thema, oder?

Ganz zweifellos. Es führt übrigens unmittelbar in die klassische Streitfrage zwischen Rationalismus und Empirismus…

Daß Menschen Urheber des menschlichen Entsetzens sein können: ist das eine Grundfrage der Ethik oder der Politischen Philosophie?

Nein. Diese so formulierte Frage, mit der du INHO die Sache auf den Punkt bringst, wäre eine genuin philosophische, sofern Philosophie unter vielem anderen auf den Menschen selbst reflektiert.

Das weiß ich. Aber nach ethischen Gesichtspunkten wurde ja
nicht gefragt. Die zeichnen auch dieses spezielle Ereignis gar
nicht aus.

Volle Zustimmung!

Und mein Versuch, eine Frage zum Thema Nr 1 zu formulieren, führt ebenfalls nicht zu einfachen Antworten.

Ich sehe es als Aufgabe von Philosophie an, Fragen „anständig“ (soll heißen „gründlich“) zu formulieren, nicht aber, Antworten zu geben…

Die Frage, woher die Fähigkeit des Menschen kommt, Entsetzen zu erzeugen, zu dem die Natur (bzw. das Empirische - hier sind wir direkt auch bei der ersten Frage oben!!) gar keine Präzedenzfälle liefert, führt sicher irgendwie (wie, weiß ich auch nicht zu sagen im Augenblick) in die Fähigkeit der Vernunft, auch über sich selbst hinauszudenken. Das war ja eines der Hauptthemen bereits in der Scholastik und ist/war eine Hauptfrage der klassischen Metaphysik.

Die Fähigkeit, sich selbst zu negieren ist ja die Voraussetzung dafür, sich selbst zu transzendieren. Das ist gewissermaßen die philosophische Formulierung des Bewußtseins des unausweichlichen Todes, das - rein physiologisch betrachtet und auf Handlungen des Einzelnen bezogen - der Fähigkeit zu töten (andere, aber auch sich selbst) zu Grunde liegt. - Dies mal so als Ansatz gesagt.

Bin mal gespannt, ob dazu noch was kommt, denn es sind ja noch ein paar Philosophen im Forum.

*gg* ja, aber die sind nicht alle der Bilokation fähig :smile:

Gruß
Metapher

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Hallo Metapher

ich freue mich, nach langer Abstinenz wieder von dir zu hören.

Leider kann ich nur - vorest - nur kurz antworten.

ja sogar der Logik

Das versteh ich gar nicht. Kannst dazu noch was sagen?

Nun, in der Erweiterung dieser Behauptung sagte ich, dass ich dass nicht so verstanden wissen will,
„dass nun aufgrund dieses Ereignisses etwa die Logik geändert werden müsse, sondern eher insofern, als die Entwicklungen der Handlungslogik oder auch der (ökonomischen) Entscheidungstheorie hier ad absurdum geführt wurden.“

Damit meinte ich - kurz -, dass die Entscheidungslogik der Täter keine Gewinnmaximierung wie Morgenstern/Neumann und Nachfolger anstreben bzw. falls sie dies doch angestrebt haben sollten, eher doch eine Gewinnminimierung erzielt haben.

Mehr geht im Moment leider nicht, vielleicht morgen. Aber ich denke, das klärt schon einiges.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

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Ich sehe es als Aufgabe von Philosophie an, Fragen „anständig“
(soll heißen „gründlich“) zu formulieren, nicht aber,
Antworten zu geben…

*gg* ob Leo das auch so sieht?

Es führt übrigens unmittelbar in die
klassische Streitfrage zwischen Rationalismus und Empirismus…

Ach ja stimmt, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Aber dein „Ansatz“ (siehe unten) besteht ja wohl in der These, daß die Vernunft sogar etwas Konstituierendes gerade aus der Empirie bekommt, was sie aus sich selbst ja nicht haben kann. Umpf, versuche das mal scholastisch auszudrücken hihi. Das heißt zwar nicht „alle Erkenntnis aus der Erfahrung“, aber jedenfalls eine essentielle Erkenntnis.

woher die Fähigkeit des Menschen kommt, Entsetzen zu erzeugen, zu dem die Natur gar keine Präzedenzfälle liefert, führt in die Fähigkeit der Vernunft, auch über sich selbst hinauszudenken.

Die Fähigkeit, sich selbst zu negieren ist ja die Voraussetzung dafür, sich selbst zu transzendieren. … Formulierung des Bewußtseins des unausweichlichen Todes, das der Fähigkeit zu töten zu Grunde liegt.

Das ist aber gar keine scholastische Perspektive, oder doch?
Sagst du damit nicht, daß die Vernunft sich etwas zu eigen macht, was sie nur aus der Empirie kennen kann? Denn das Bewußtsein, sterblich zu sein, kommt doch ausschließlich aus der Empirie. Woher sollte es sonst kommen?

*gg* ja, aber die sind nicht alle der Bilokation fähig :smile:

hihi - und an welchen zwei Orten gleichzeitig hast du dein Wochenende verbracht?

C.

Hi Fleischfresserin

Ganz sicher lassen sich diese Fragen an die Vernunft nicht auf dem Level scholastischer Argumentation über die Natur des intellectus und der ratio beackern. Es war nur erstaunlich, daß das Thema in eine alte Streitfrage zurückführte.

Heute - nachdem wir gründlichere Kenntnisse über die viel komplexere Struktur des „Bewußtseins“ haben, als die Kollegen damals ahnen konnten - hätten wir genügend „Werkzeug“ um dieses Thema der „Abgründigkeit“ in den Fähigkeiten der Vernunft (oder ggf. des Verstandes, den ich in hegelscher Weise gegen die Vernunft abgrenzen würde) anzugehen.

dein „Ansatz“ (siehe unten) besteht ja wohl in der These, daß
die Vernunft sogar etwas Konstituierendes gerade aus der
Empirie bekommt, was sie aus sich selbst ja nicht haben kann.

Ja, genau, aber auf dieser Basis kann sie dennoch über sich hinaus und Handlungsansätze entwickeln, zu denen sie eben keine Vorgaben aus der Empirie hat… und genau das gilt es ja zu begründen. Und dazu hatte ich den Versuch gemacht, auf die „Negativität an sich selbst“ zu rekurrieren - das wäre eine Möglichkeit. Das wäre allerdings nur auf der Basis des hegelschen Vernunftbegriffs zu machen.

Aber ich denke für diese Etude sind wir im falschen Kino :smile:

Liebe Grüße
Metapher

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mehr, als die Summe aller Teile
Hallo ihr beiden :smile:

Ja, genau, aber auf dieser Basis kann sie dennoch über sich
hinaus und Handlungsansätze entwickeln, zu denen sie eben
keine Vorgaben aus der Empirie hat… und genau das gilt es ja
zu begründen.

Ich dachte immer, das nennt man dann Kreativität :smile:

Und dazu hatte ich den Versuch gemacht, auf die

„Negativität an sich selbst“ zu rekurrieren - das wäre eine
Möglichkeit. Das wäre allerdings nur auf der Basis des
hegelschen Vernunftbegriffs zu machen.

Aber ich denke für diese Etude sind wir im falschen Kino :smile:

Genau, geh mal in die nächste Kunsthalle, womit wir wieder bei Stockhausen wären.

Gruss
Marion

Liebe Grüße
Metapher

Aber

Aber ich denke für diese Etude sind wir im falschen Kino :smile:

aber trotzdem im richtigen Film? Denn es war ja eigentlich doch ein willkommener (horribile dictu) Anlaß, wirklich die Philosophie mal zu bemühen.

Du sagst, heute

…hätten wir genügend „Werkzeug“ um
dieses Thema der „Abgründigkeit“ in den Fähigkeiten der
Vernunft (oder ggf. des Verstandes, den ich in hegelscher
Weise gegen die Vernunft abgrenzen würde) anzugehen.

und damit meinst du Hegel? Oder doch vielmehr auch die Psychoanalyse?
Die hat zwar nicht die Möglichkeit, auf solches begriffliche „Werkzeug“ wie die hegelsche

„Negativität an sich selbst“ zu rekurrieren

aber sie könnte das Argument der „Lust am Schrecken“, auf das ich in dem betreffenden Posting im Psychobrett hinauswollte, besser unterbringen. Meines Wissen hat Hegel keinen Ansatz zur „Lust“ gebracht, oder doch?

C.

Dialektik & Lust

und damit meinst du Hegel? Oder doch vielmehr auch die Psychoanalyse?

Beides - aber die Dialektik der Bewegungen des Bewußtseins wird von der Psychoanalyse benutzt (gewissermaßen „angewendet“), aber fundiert ist diese Dialektik vielmehr bereits bei Hegel.

aber sie könnte das Argument der „Lust am Schrecken“ … besser unterbringen. Meines Wissen hat Hegel keinen Ansatz zur „Lust“ gebracht, oder doch?

Doch! Und sogar einen sehr fundamentalen, in dem er Lust als ein wesentliches „Moment“ der (nicht ontogenetischen, aber der begriffsdialektischen) Entwicklung der (individuellen) Vernunft zuordnet: Phänomenologie des Geistes Kap. V.B.: „Die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseins durch sich selbst“ und darin der Abschnitt a. „Die Lust und die Notwendigkeit“

Und in der Einleitung gäbe es zu diesem Thema der „Negativität an sich selbst“ (der Vernunft) diese Passage zu bedenken: „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht … sondern … indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.“

Da wäre dann die besagte Negativität - zugleich mit einem sehr tiefgreifenden Ansatz auch für jede Psychotherapie…

Aber damit ist natürlich die Frage des „Schreckens“ als Faszinosum, auf die Du wohl hinauswillst (?), noch nicht erschöpft - klar.

Grüße
Metapher

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